Kommentar Polexit – ein finsteres Szenario für die Europäische Union

Der Chef der regierenden PiS lag mit der EU schon oft überkreuz.
Polexit – man mag es kaum aussprechen, nicht nur, weil es ein hässliches Wort ist, sondern vor allem, weil das, was sich dahinter verbirgt, ein Fanal für den europäischen Integrationsprozess bedeutet, in seiner Dimension durchaus vergleichbar mit dem EU-Austritt Großbritanniens.
Aber auch das ändert nichts daran, dass ein Austritt Polens in Europas Hauptstädten nach dem zunehmend unzumutbaren Gebaren der Regierung in Warschau durchaus im Bereich des Möglichen liegt – obwohl es niemand wirklich will, nicht einmal die Polen selbst.
Denn der mittlerweile Jahre andauernde Konflikt um Rechtsstaatsprinzipien geht an die Fundamente der Union, die Verhandlungsspielräume sind begrenzt.
Auch die jüngste Ankündigung Jaroslaw Kaczynskis, Präsident der Regierungspartei PiS und heimlicher Herrscher des Landes, die umstrittene „Disziplinarkammer“ für Richter und Staatsanwälte nun aufzulösen, noch bevor das EU-Ultimatum Ende der Woche ausläuft, ändert kaum etwas am Grundsatzkonflikt.
Die PiS – „Recht und Gerechtigkeit“ trägt sie im Namen – fügte sicherheitshalber gleich hinzu, dass es auch andere Wege gebe, Richter zu disziplinieren. Tatsächlich hat die polnische Exekutive längst Fakten geschaffen: Unliebsame Richter sind durch treue Parteigänger ersetzt, kritische Staatsanwälte längst entlassen worden.
Die Frage, ob nationales Recht Vorrang vor EU-Recht haben kann
In diesem Konflikt zwischen Warschau und Brüssel geht es ums Ganze. Denn das Recht ist konstitutives Element der Union, die Rechtsstaatlichkeit ihre Raison d’Être. Es geht um die Frage, ob nationales Recht Vorrang vor EU-Recht haben kann.
Es geht um die Frage, ob ein Land ohne unabhängige Gerichte EU-Mitglied sein kann. Es geht um die Frage, ob die Staatengemeinschaft es dulden kann, dass es in einem Mitgliedstaat wieder politische Gefangene geben könnte, verurteilt von einer politisierten Justiz.
Das Gerede vom Polexit ist also keine Spinnerei, es ist ein Szenario, wenn auch ein finsteres. Denn hält Warschau an seinem Kurs fest, steht die Union am Ende vor der Frage, was wichtiger ist: der Verbleib Polens in der EU oder die Unversehrtheit ihrer Rechtsprinzipien.
Warschau rechtfertigt seine Politik mit der Behauptung, die alten Kommunisten säßen immer noch auf den Richterbänken. Was die Regierung nicht sehen will: Sie ist auf dem besten Weg, einen Artverwandten jenes allmächtigen kommunistischen Staatssystems zu etablieren, das sie zu bekämpfen vorgibt.
Heikler Konflikt für Deutschland
Dass es so weit kommen konnte, ist auch einem Fehlkalkül der EU-Kommission geschuldet. Zu lange hatte man gehofft, dass sich das Problem mit der Abwahl der PiS von selbst erledigen würde. Dass die Partei allerdings auch nach den Wahlen im Herbst 2023 an der Macht bleibt, ist nicht einmal das unwahrscheinlichere Szenario.
Und auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat es zuletzt nicht einmal für nötig befunden, bei ihrer Rede zur Rechtsstaatlichkeit vor einem Monat dem Thema Polen wenigstens ein paar Sätze zu widmen.
Gut, dass wenigstens der EuGH ein unmissverständliches Urteil gefällt hat. Der Gerichtshof zwingt jetzt entweder Brüssel oder Warschau zu handeln.
Für Deutschland ist dieser Konflikt besonders heikel: Ein gesundes Verhältnis zum östlichen Nachbarn liegt im tiefen Interesse deutscher Außenpolitik, ja es gehört zum Selbstverständnis der Bundesrepublik. Den Holocaust – diesen unfassbaren Zivilisationsbruch – begingen Deutsche zum großen Teil auf polnischem Boden. Diese historische Schuld ist unvergänglich.
Trotzdem gilt auch für Berlin: Es steht in der Pflicht, jene Kräfte im Land, die für ein weltoffenes und liberales Polen stehen, zu unterstützen. Deshalb sind Sanktionen, Geldstrafen bis hin zu einem wenn auch schwer durchsetzbaren Stimmrechtsentzug, ein denkbares Mittel.
Leise im Ton, hart in der Sache, das ist die richtige Strategie aus Sicht Berlins – während die EU-Partner durchaus auch lauter auftreten dürfen.
Spannung zwischen autoritären und liberalen Kräften in Europa
Die Aussöhnung mit dem östlichen Nachbarn gehört zu den Sternstunden europäischer Geschichte. Und die ökonomische wie politische Entwicklung nach Polens EU-Beitritt im Jahr 2004 war bis zuletzt eine große Erfolgsgeschichte.
In Polen entscheidet sich der Konflikt zwischen autoritären und liberalen Kräften, der derzeit auch in Europa an vielen Orten ausgetragen wird – auch in Rumänien und Bulgarien, ganz zu schweigen von Ungarn, erodiert der Rechtsstaat. Auch dort entledigt sich die Exekutive zunehmend ihrer Kontrolleure.
Dass dieser Konflikt ausgerechnet in Polen seinen traurigen Höhepunkt findet, ist schwer begreiflich. Denn das Land, das zeitweise komplett von der Landkarte verschwand, wurde im Verlauf seiner Geschichte wie kaum ein zweites zum Spielball autoritärer Mächte jenseits seiner Grenzen in Ost und West.
Mehr: Polen will umstrittene Disziplinarkammer abschaffen – und kommt EU entgegen
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"In Polen entscheidet sich der Konflikt zwischen autoritären und liberalen Kräften, der derzeit auch in Europa an vielen Orten ausgetragen wird – auch in Rumänien und Bulgarien, ganz zu schweigen von Ungarn, erodiert der Rechtsstaat."
Und was ist mit Tschechien, Slowenien, Kroatien und der Slowakei?
(Fast) Das ganze Ostprojekt ist doch vor die Wand gefahren…
Es sieht so aus, als wenn es nur um eine Landverbindung nach Hellas ging und nicht um eine humanistisch ähnlich gesinnte Gemeinschaft.
Keine Sorge. Deutschland wird Polen alles bezahlen, was sie wollen, wenn die ernsthaft mit einem Polexit drohen sollten.
Viel zu viele Fragen. Ich frage mich nur, würde man die genannten Staaten heute wieder in die EU aufnehmen? Wenn nicht, sollten wir sie schleunigst loswerden.