Kommentar Träge, ideenlos, selbstgerecht – Deutschland erstickt an Bürokratie

Den Deutschen ist spätestens in der Pandemie das Lachen über ihre träge Bürokratie vergangen.
Kurz vor der Bundestagswahl 2017 gab Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein Versprechen ab. „Wir werden die anwenderfreundlichste Verwaltung Europas haben – bis 2021.“ Der Staat könne nicht länger Geburtsurkunden ausstellen „wie zu Zeiten von Kaiser Wilhelm“. Er sei bereit, zwölf Flaschen guten Grauburgunder darauf zu verwetten, dass dies klappe, so Altmaier.
Im Jahr 2021 sieht die Realität so aus: In NRW etwa gibt es zwar tatsächlich seit einiger Zeit ein Servicekonto, über das Eltern ihr Neugeborenes digital anmelden können. Leider ist die Seite aber nicht erreichbar.
In anderen Bereichen des Staatswesens käme aber selbst schon diese nicht funktionierende Form der Digitalisierung einer Revolution gleich. An Gerichten etwa ist auch im digitalen Zeitalter das vorwiegende Kommunikationsmittel das Fax. Vertrauliche Rechtsgutachten werden deshalb unter Umgehung des Datenschutzes privat zu Hause ausgedruckt – denn Faxgeräte gehen leider ziemlich häufig kaputt.
Waren die Beispiele aus Verwaltungs-Absurdistan früher lustig, ist den Deutschen in der Pandemie das Lachen über ihre träge Bürokratie vergangen. Corona führt der Welt vor Augen, wie es um die Fähigkeit von Gesellschaften bestellt ist, mit großen Krisen umzugehen.
Und ausgerechnet Deutschland, das zeigt sich deutlich, kann nicht mehr das, wofür das Land auf der Welt eigentlich immer gerühmt wurde: gutes Krisenmanagement. Vier Jahre nach Altmaiers ulkiger Ansage stellt sein eigener Wissenschaftlicher Beirat der deutschen Verwaltung in einem Gutachten ein verheerendes Zeugnis aus. Es herrschten teils „archaische Zustände“, es liege gleich ein mehrfaches „Organisationsversagen“ vor.
Nichts kratzt mehr am Selbstwertgefühl der Bundesbürger als diese bittere Wahrheit. Denn die Gewissheit, in einem Land zu leben, das besser als die meisten anderen funktioniert, war für die Deutschen immer ein Ersatz für jenen Patriotismus, den sie aufgrund ihrer dunklen Vergangenheit nicht aus einem nationalen Selbstwertgefühl ziehen können. Doch in der Coronakrise ist auch von dieser Selbstvergewisserung nicht mehr viel übrig.
Versäumnisse der Merkel-Jahre
Der Grund dafür liegt in den Versäumnissen der Merkel-Jahre. Bei der Digitalisierung ist Deutschland nur beim Ankündigen Weltmeister, bei der Umsetzung aber Kreisliga. In allen Rankings liegt Deutschland hinten, der konsequente Ausbau des Mobilfunknetzes bis an die letzte Milchkanne ist nicht in Sicht.
Auch ein anderer Standortvorteil erodiert, weil das Land an Bürokratie erstickt: die einst gute Infrastruktur. Wegen Verwaltungsversagens bleiben Jahr für Jahr Milliardenmittel für Investitionen ungenutzt. Ein Grund dafür ist auch das ständige Geschacher zwischen Bund und Ländern um Geld. Selbst als es in den Ministerpräsidentenkonferenzen um Leben und Tod ging, war Geld noch das Schmiermittel, um Kompromisse zu erzielen.

Der Befund zur Trägheit des Staatswesens ist auch deshalb so alarmierend, weil die Krise eher die Regel denn die Ausnahme geworden zu sein scheint. Bislang war Deutschlands Strategie der Krisenbekämpfung simpel: Viel Geld hilft viel.
Aber weder ein Virus noch der Klimawandel lassen sich mit einem schlichten „Wumms“ eindämmen. Nicht nur, weil finanzielle Maßnahmen irgendwann an Grenzen stoßen. Sondern weil diese Herausforderungen eine andere Antwort verlangen: vorausschauendes staatliches Handeln.
Die Legitimation politischen Handelns leidet
Je länger Deutschland wartet, den industriepolitischen und technologischen Übergang anzugehen, desto mehr engen sich die Handlungsspielräume ein, desto mehr erzeugt die Politik letztlich Alternativlosigkeit, warnt der Ökonom Henning Völpel zu Recht. Alternativlose Entscheidungen müssen dann mit Zwang durchgesetzt werden, worunter wiederum die Legitimation politischen Handelns leidet.
Eine Partei, die mit einem glaubwürdigen Konzept für eine echte Staatsreform antritt, hätte daher gute Chancen, allein deshalb gewählt zu werden. CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus hat das Thema zwar erkannt. Doch das Papier zur Modernisierung des Staates, das seine Fraktion gerade beschloss, könnte auch aus dem Jahr 2000 stammen.
Interessanter ist da der Ansatz der SPD eines „missionsbasierten Politikansatzes“, mit dem die Ökonomin Marianna Mazzucato für Aufsehen sorgt. Leider setzt die SPD „besserer Staat“ aber mit „mehr Staat“ gleich. Wer jedoch einmal in ministerialen Abstimmungsrunden saß, der weiß, nicht zu wenig Staat oder Beamte sind per se das Problem, sondern das zur Selbstbeschäftigung neigende System, das noch jede gute Idee klein häckselt.
Die Erfahrung der Coronakrise für Veränderungen nutzen
Der Staat muss aber gewohnte Pfade verlassen. Warum nicht den Chef der britischen Behörde anheuern, der das E-Government so erfolgreich installiert hat? Warum nicht staatliche „Gigabit-Gutscheine“ für Mittelstand und Familien verteilen? Warum nicht große Infrastrukturprojekte per Bundesgesetz durchdrücken? Warum nicht Experten für Organisationstheorie Prozesse in Behörden durchleuchten lassen?
Und, bitte, endlich Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgrenzen. Das Land muss die Erfahrung der Coronakrise für Veränderungen dringend nutzen. Sonst sieht Deutschland in der nächsten Krise wieder ganz alt aus.
Mehr: Sechs große Bürokratie-Ärgernisse – und was man gegen sie tun kann
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Ich kann dem Kommentator nur zustimmen. Wie unter einem Brennglas sind in der Corona-Pandemie die seit Jahren bestehenden Schwächen unserer politischen Ordnung für jeden, der sehen will, sichtbar geworden. Das ganze staatliche System hat sich als hyperbürokratisch, träge und ineffizient erwiesen. Es braucht eine Reform an Haupt und Gliedern. Diese wird es aber nicht geben, weil diejenigen, die davon betroffen wären, zugleich diejenigen sind, die in den Parlamenten des Bundes und der Länder solche weitreichenden Reformen beschließen müssten. Ich bin nicht optimistisch , dass sich nach Ende der Pandemie und nach dem Abgang der Kanzlerin, die in ihrer Person für die Unfähigkeit und die Unwilligkeit zu durchgreifenden Reformen steht, viel bewegen wird. Den Mut und die Weitsicht bringen unsere Berufspolitiker leider nicht auf.
Deutsche Politiker werden niemals ihre geliebten Verwaltungen verkleinern oder gar Behörden schließen. Sie werden immer Gründe für deren Notwendigkleit finden, dabei würde es schon reichen, wenn in den Ministerien mehr Fachleute statt Juristen sitzen würden.