Kommentar Unsere aktuelle Impfstrategie ist so dysfunktional wie ein Fahrkartenautomat

Deutschland kommt mit dem Impfen der Bevölkerung nicht voran. Das könnte auch an den komplizierten Impfregeln liegen.
Weitgereiste US-Amerikaner spotten bisweilen: Wer wirklich verstehen wolle, wie Deutschland tickt, der müsse nur einmal versuchen, am Automaten eines deutschen Verkehrsverbunds einen Fahrschein zu erwerben.
Eine Vielzahl von Tarifwaben, Kurzstreckentickets, Kinderermäßigungen und Fahrradzuschlägen soll dort für maximale Einzelfallgerechtigkeit sorgen. Zwar gelingt es in diesem Tarifwirrwarr nur noch ausgesprochenen Nahverkehrsprofis, auf Anhieb die richtige Fahrkarte zu lösen – der Rest zahlt zu viel oder fährt schwarz. Aber Hauptsache, dem Prinzip Gerechtigkeit ist Genüge getan.
Was dieses Beispiel mit der deutschen Impfstrategie zu tun hat? Auch hier verhindert die Sehnsucht nach Einzelfallgerechtigkeit das, worauf es in der Pandemie wirklich ankommt: möglichst schnell zu impfen. Mit einem ausgeklügelten System aus Prioritätsstufen soll in Deutschland sichergestellt werden, dass alte oder vorerkrankte Menschen bevorzugt an die Reihe kommen. Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen, auch andere Staaten handhaben es so.
Doch in Deutschland führt mangelnder Pragmatismus dazu, dass Millionen von Impfdosen ungenutzt liegen bleiben, oft weil Menschen Termine verstreichen offenbar lassen – und dann im Impfzentrum nicht unbürokratisch ein anderer Patient geimpft werden kann, der eigentlich noch gar nicht an der Reihe ist.
Viele lassen derzeit Impftermine ungenutzt, weil sie befürchten, mit dem Serum von Astra-Zeneca geimpft zu werden. Das steht im Verdacht, in sehr seltenen Fällen schwere Nebenwirkungen auszulösen, die bis zum Tod führen können. Mittlerweile haben mehrere Bundesländer Impfungen mit Astra-Zeneca teilweise ausgesetzt. Damit werden die Vorbehalte speziell gegen diesen Impfstoff weiter wachsen.
Die richtige Antwort wäre, im Fall des Astra-Zeneca-Serums auf die Impfgerechtigkeit im Einzelfall zu verzichten. Der Wirkstoff sollte ab sofort unbürokratisch von Haus- und Betriebsärzten verabreicht werden können, und zwar mit genau zwei Maßgaben: Jeder Patient muss über die Risiken informiert werden – und keine Dosis soll ungenutzt bleiben. Wer in welcher Reihenfolge geimpft wird, das sollte hingegen den Ärzten überlassen bleiben. Inmitten der dritten Welle zählt beim Impfen jetzt Tempo, Tempo, Tempo.
Mag das im Einzelfall ungerecht sein? Ja, aber auch nicht ungerechter als die Tatsache, dass jeden Tag über 200 Deutsche an Corona sterben, die größtenteils längst geimpft sein könnten. Und 80 Millionen länger als nötig im Lockdown verharren, weil unsere derzeitige Impfstrategie so dysfunktional ist wie der Fahrkartenautomat eines Verkehrsverbunds.
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