Kommentar Wohlfühlkampagnen statt Polarisierung: Die neue Wehleidigkeit schadet dem politischen Wettbewerb

Stabilität und Erneuerung – oder doch Erneuerung und Stabilität?
Bei der Bundestagswahl 1976 lautete der Slogan der CDU: „Freiheit statt Sozialismus“. Im Wahlkampf 1994 plakatierte sie: „Auf in die Zukunft ... aber nicht auf roten Socken“. Und bereits 1953 sicherte sich Konrad Adenauer den Wahlsieg mit dem berühmt gewordenen Plakat „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau! Darum CDU“.
Drei Kampagnenbeispiele, die zeigen: Wahlkämpfe wurden in der Bundesrepublik auch von den Parteien der Mitte bisweilen mit aller Härte und maximaler Polarisierung geführt. Diese klare Kante hat sich die Union inzwischen abgewöhnt. Ihr Wahlprogramm 2021 steht unter dem sprachlichen Narkotikum „Stabilität und Erneuerung“. Ein Slogan, der genauso gut von der SPD stammen könnte.
Was ist besser für die politische Kultur? Die Konfrontation früherer Jahrzehnte? Oder die weichgespülten Kampagnen der Gegenwart, die vor allem darauf abzielen, dem politischen Gegner wenig Angriffsfläche zu bieten, keine Anhänger zu verprellen und sich nach der Wahl alle Koalitionsoptionen offenzuhalten?
Die herrschende Meinung ist eindeutig: Wer heutzutage im Wahlkampf zu stark polarisiert, zu sehr vereinfacht und zuspitzt, den politischen Gegner womöglich sogar persönlich angreift, der muss mit heftigem medialen Gegenwind rechnen. Das bekamen zum Beispiel die Arbeitgeberlobbyisten der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zu spüren, als sie die grüne Kanzlerkandidatin verkleidet als Moses mit den Zehn-Verbots-Tafeln zeigten. Eine in vieler Hinsicht misslungene Kampagne, die aber in früheren Jahrzehnten kaum jemanden aufgeregt hätte.
Man muss die Dinge klar aussprechen dürfen
Vorläufiger Höhepunkt der neuen Flauschigkeit: Am Freitag nahm die CDU-Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Grünen-Politikerin Irina Gaydukova in Schutz. „Hier wird gerade ein Mensch kaputt gemacht“, twitterte AKK über die Kritik an einem komplett verunglückten Parteitagsauftritt von Gaydukova, der als Youtube-Video in den sozialen Medien die Runde machte.
Klar, niemand wünscht sich die unselige Ära zurück, in der die Union Willy Brandts uneheliche Herkunft als Wahlkampfargument gegen ihn missbrauchte. Aber ganz ohne Konfrontation funktioniert Politik eben auch nicht. Wer bei jedem Plakat, das den politischen Gegner attackiert, gleich wehleidig nach dem Schiedsrichter ruft, wer jede Kritik an der fachlichen und charakterlichen Eignung des Gegenkandidaten zur „Vernichtung“ hochstilisiert, der verengt die Wahlalternative innerhalb des gemäßigten Parteienspektrums letztlich auf die Frage: Stabilität und Erneuerung – oder doch lieber Erneuerung und Stabilität?
Und besorgt damit indirekt das Geschäft der Extremisten. Denn wer als Wähler harte Attacken und bewusste Tabubrüche sucht, der wird heutzutage am ehesten in den Schwurbelsümpfen der sozialen Medien fündig – und bei der AfD. Sie hat damit jene kommunikative Lücke gefüllt, die andere Parteien ihr eröffnet haben.
Der Aufstieg der AfD hängt mit fehlendem Klartext zusammen
Der Aufstieg der AfD lässt sich auch als eine Reaktion auf fehlende klare Alternativen im gemäßigten Parteienspektrum lesen. Ihre erste Zuspruchswelle erlebte die Partei, weil sie gegen die Euro-Rettungsprogramme in der Schuldenkrise opponierte, die von Grünen, SPD, Union und der damaligen FDP-Führung als alternativlos freigestempelt wurden. Die zweite Luft bekam die AfD, als sie das Unbehagen weiter Bevölkerungsteile mit der Flüchtlingspolitik adressierte – nun mit zunehmend rassistischen und rechtsradikalen Tendenzen. Auch hier ging ein Versäumnis der gemäßigten Parteien voraus. Sie hatten es nicht geschafft, den Kardinalfehler von Merkels Flüchtlingspolitik hinreichend klar zu benennen: dass nämlich 2015 auf die Entscheidung zur Grenzöffnung eine beispiellose Integrationsoffensive hätte folgen müssen.
Und in der Coronakrise? Da gab es innerhalb des gemäßigten Lagers ausnahmsweise tatsächlich mal klare Positionen. Auf der einen Seite die parteiübergreifende No-Covid-Bewegung, der die Lockdown-Beschlüsse von Bund und Ländern noch nicht weit genug gingen. Auf der anderen Seite die FDP, die mit klaren Worten gegen eine allzu leichtfertige Einschränkung von Freiheitsrechten anging. Wer nach politischen Alternativen zum Regierungskurs suchte, der musste in der Coronakrise nicht an den politischen Rändern schauen. Dementsprechend konnte die AfD hier nicht profitieren.
Der politischen Kultur in Deutschland hat das gutgetan. Denn selbst wenn es nicht zum Zeitgeist passen mag: Demokratie lebt auch von deutlichen Worten.
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