Kommentar zur Werbebranche Im düsteren Digital-Dschungel

Ad-Fraud, Non-Human-Traffic, Brand Safety – wer blickt da noch durch?
Der eine Anbieter verspricht deutlich schnellere Webseitenladezeiten, schließlich entscheiden Millisekunden beim Konsumenten über Aufmerksamkeit oder Nichtbeachtung. Über Traffic, Conversion, Sales. Der zweite Anbieter garantiert ein sauberes Werbeumfeld im Digitalen, durch doppelte Verifizierung sollen Fake News und markenschädigende Inhalte weggefegt werden. Für mehr Brand Safety. Und der dritte Anbieter wartet mit einer noch raffinierteren Ware auf: Non-Human-Traffic, also der Nutzung von Webseiten, die durch Maschinen generiert werden. Für mehr Traffic, Awareness und natürlich wieder Sales.
Das sind Ihnen zu viele unverständliche Anglizismen und Technologien? Damit sind Sie nicht allein. Die Welt des digitalen Marketings gleicht immer mehr einem düsteren Dschungel, den kaum ein Mensch heil und geordnet durchschreiten kann. Selbst die, die ihr Geld mit Marketingthemen verdienen, können immer weniger die Komplexität des Medien- und Marketingmarkts verstehen, geschweige denn die richtigen Maßnahmen für das eigene Geschäft ableiten – seien es die Markenverantwortlichen in den Unternehmen, die beratenden Agenturen oder die zahlreichen neuen Dienstleister selbst.
Am Mittwoch öffnet die weltgrößte Digitalmarketingmesse Dmexco in Köln für zwei Tage die Türen – und wird, das ist jetzt schon zu befürchten, allabendlich erneut Massen verwirrter Messebesucher ausspucken. Zugedröhnt mit Vokabeln wie „Ad-Blocker“ und „Ad-Fraud“, berauscht von den beschwörenden Worten immer neuer Anbieter und Zwischenhändler, die ihren Platz in der Nahrungskette suchen. Die Dmexco, zu der das letzte Mal 50.000 Besucher kamen, ist ein Abbild der digitalen Marketingbranche: bunt, aber unübersichtlich, komplex, aber noch nicht austrainiert.
Neue Komplexität
Die Ursache der neuen Komplexität liegt im rasanten Wandel der Medienwelt, der noch lange nicht zu Ende ist. War es früher eine überschaubare Anzahl von Medienkanälen und Werbeformen – TV, Radio, Print –, so ist deren Vielfalt in den vergangenen Jahren schier explodiert. Drei Stunden und 46 Minuten verbringen die Deutschen täglich im Schnitt mit digitalem Konsum: Nachrichten, sozialen Medien, Kurznachrichten bis Bewegtbild. Endlos viel Zeit, mehr, als Menschen vor den TV-Bildschirmen in ihren Wohnzimmern verbringen.
Die Werbeformen fürs Digitale werden immer raffinierter. Sie werden mit Big Data oder besser noch mit Smart Data angereichert, neuerdings gesellt sich künstliche Intelligenz dazu. „Mobile First“ – mobile Nutzung zuerst – heißt es schon lange, und nun hört man sogar auch „Voice First“, Sprache zuerst also, das Kreisen um vernetzte Lautsprecher wie Alexa von Amazon. Immer neue Kommunikationsformen, die immer neue Plätze für Reklame versprechen.
Die werbetreibenden Unternehmen reagieren darauf, indem sie ihr Marketinggeld entschlossen in Richtung Digital umleiten. Die Ausgaben für Onlinewerbung steigen von Jahr zu Jahr, wenn nicht mehr zweistellig, so zumindest robust im einstelligen Bereich, während Printwerbung weniger gebucht wird und TV bestenfalls stagniert.
Die Experimentierfreude ist groß. Unternehmen wie der Kamerahersteller Olympus, die ankündigen, sie würden ihren klassischen Werbeetat in die Hände einer Truppe junger Youtuber legen, die als Influencer die Markenbildung übernehmen, ernten in der Fachwelt regelmäßig Begeisterung.
Doch immer öfter beschleicht Unternehmen und Agenturen die Sinnfrage. Branchenkenner wie der Mediaexperte Christof Baron warnen vor einer „digitalen Besoffenheit“ und fordern mehr kritische Reflexion des digitalen Marketingtreibens. Führende werbetreibende Unternehmen, versammelt im Branchenverband OWM, plädieren vor der Dmexco für mehr Engagement für Sicherheit, Qualität und Transparenz im Digitalmarketing. Das Bewusstsein dafür sei auf Anbieterseite noch erschreckend gering, klagen die Unternehmen, die alljährlich Millionen Euro an ebenjene Anbieter geben. Onlinewerbung muss endlich erwachsen werden, lautet ihre plakative Parole im Vorfeld der Dmexco.
Selbstreinigung der Branche
Auch Marc Pritchard, oberster Marketingchef von Procter & Gamble und eine Art Lautsprecher der Branche, will bei der Aufzucht der digitalen Marketingunternehmen helfen. Sein Ansatz: Taschengeldentzug so lange, bis sich die Verhältnisse bessern. Der Konsumgüterkonzern hat Ausgaben für Onlinewerbung in Höhe von 100 Millionen Dollar gestrichen – ohne größere Auswirkungen, wie es heißt.
Erfahrene Eltern wissen: Mit Taschengeldentzug kann man eine ganze Menge erreichen. Im Großen wie im Kleinen. Er kann dazu beitragen, dass in der Branche endlich eine Art Selbstreinigung stattfindet und Standards Einzug halten, die Qualität und Werbewirkung transparent und ungeschönt ausweisen. Und er kann dazu führen, dass Marketingverantwortliche eine dringend notwendige Gelassenheit bekommen, damit sie sich nicht mehr jeder neuen digitalen heißen Luftnummer sofort hingeben.
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