Pro & Contra: Nord Stream 2: Mut zur harten Sanktion oder auf „Wandel durch Handel“ setzen?

Pro: Wut ist in der Politik ein schlechter Ratgeber
von Thomas Sigmund
Auf dem Höhepunkt der Ölkrise 1973 floss das erste „Russengas“ nach Deutschland. Da war Russland noch Teil der UdSSR, und vor allem die Amerikaner schäumten vor Wut. Die Energiepartnerschaft zwischen Deutschland und Russland hält seit fast 50 Jahren.
In diesem halben Jahrhundert gab es viele politische Konflikte, vom Einmarsch der Russen in Afghanistan mit anschließendem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau bis zur letzten Zuspitzung der Krimkrise. Alle Bundesregierungen gingen dabei realpolitisch vor. Sie trennten rein wirtschaftliche von politischen Projekten.
Die Europäische Union verhängte zwar auch Wirtschaftssanktionen gegen Moskau. Die schadeten allerdings vor allem den deutschen Autobauern und einigen großen Einzelhändlern. Präsident Wladimir Putin ließ sich davon nicht beeindrucken. Angela Merkel hat als Regierungschefin bei der heimtückischen Vergiftung von Alexej Nawalny so deutliche Worte wie niemand anders in Europa gefunden.
Es stimmt: Die russische Propagandamaschine ist eine Zumutung. Und was an Vorwürfen im Fall Nawalny gegen Berlin erhoben wird, grenzt an Realitätsverlust. Trotzdem: Ein Baustopp auf den letzten Kilometern der Pipeline Nord Stream 2 wäre ein politischer Paukenschlag, aber Deutschland hätte damit nichts gewonnen.
Wir wagen eine Energiewende mit ambitionierten klimapolitischen Zielen. Deutschland steigt aus Atomkraft und Kohle aus und will nun auch auf Gas verzichten. Das alles zusammen kann nicht gut gehen. Dazu mischt auch noch US-Präsident Donald Trump mit. Er will teureres amerikanisches Flüssiggas in Deutschland verkaufen. Deshalb lässt er nichts unversucht, um die Pipeline doch noch zu verhindern.
Die USA waren immer ein starker Partner Deutschlands. Aber ob man sich von ihrem erratischen Präsidenten Trump abhängig machen sollte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Deutschland ist wie kaum eine Volkswirtschaft in dieser Welt mit anderen Ländern verflochten. Alle Bundesregierungen haben bei ihren Geschäften dabei immer auf den Grundsatz „Wandel durch Handel“ gesetzt.
Diese Maxime wird im Fall Nawalny auf eine schwere Probe gestellt. Aber die Schotten dicht zu machen, nützt am Ende niemandem. Den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen immer nach der Tagespolitik infrage zu stellen ist keine Strategie.
Mit Ach und Krach konnten Deutschland und Europa noch ein Freihandelsabkommen mit Kanada aushandeln. Das Erwachen war groß, als Trump mit seiner „America first“-Politik dem Protektionismus huldigte. Trump zeigt, was eine unstete Außenwirtschaftspolitik bedeutet: Keiner kann sich mehr sicher fühlen. Willkürlich werden Zölle auf Autos, Stahl oder französischen Wein erhoben.
Deutschland sollte deshalb als Exportnation weiterhin an einer Strategie der Handelsfreiheit festhalten. Das bedeutet nicht, dass man im Fall Nawalny keine deutlichen Worte in Richtung Moskau finden sollte. Aber Nord Stream 2 deswegen zu stoppen würde über das Ziel hinausschießen. Wut ist eben keine Politik.

Nach der Vergiftung des russischen oppositionellen Nawalny fordern immer mehr Politiker das Aus des Projekts. Zurecht?
Contra: Wer Putin treffen will, muss den Bau stoppen
von Mathias Brüggmann
Die USA nutzen das Instrument der Sanktionen längst inflationär, und auch in Europa wird inzwischen viel zu oft damit gedroht – sei es gegen eigene EU-Mitglieder wie Polen und Ungarn, gegen die Türkei oder natürlich immer wieder gegen Russland. Die ständigen Drohungen mit wirtschaftlichen Strafmaßnahmen oder Einreiseverboten in den Schengenraum wirken inzwischen hohl.
Sanktionen müssen sich, sollen sie wirken, auf einen klaren Fall beziehen, und sie müssen dann auch hart sein.
Die offensichtlichen Lügen der russischen Regierung und die Behauptungen, es gebe trotz der Untersuchung des Vergiftungsfalls Alexej Nawalny keine Beweise für den Einsatz der russischen Chemiewaffe Nowitschok, sind ein solcher Fall. Entsprechend hart sollte die Reaktion des Westens sein: Sie muss Russland dort treffen, wo es wehtut. Und dabei sollte das Thema Nord Stream 2 eine Rolle spielen, jene Pipeline in der Ostsee, über die noch mehr russisches Gas nach Europa fließen soll.
Der Kreml versucht immer wieder, die eigene Urheberschaft einfach durch Leugnen aus der Welt zu schaffen – ob nach dem Nowitschok-Angriff auf den KGB-Überläufer Sergej Skripal oder dem Abschuss der malaysischen Zivilmaschine MH17 über der Ostukraine. Aber gerade die Fälle Skripal, MH 17 und der sogenannte „Tiergartenmord“ an einem früheren tschetschenischen Kämpfer sind von westlichen Ermittlern bestens dokumentiert.
Und Russland macht weiter, als sei nichts geschehen, als gäbe es die weltweite Empörung über die Aktionen Moskaus nicht. Lügen, leugnen, weitermachen. Die Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten aus westlichen Ländern nach dem Skripal-Chemiewaffenanschlag durch russische Geheimdienstler hat diese Kette nicht durchbrochen. Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr: Politische Morde sind Teil des Machterhalts des Regimes Putin.
Darauf muss es eine Antwort geben. Es reicht nicht, immer wieder zu betonen, Moskau müsse solche Fälle aufklären und ohne Russland seien viele politische Konflikte nicht zu lösen. Moskau hat die Grenzen überschritten. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die jetzt eine europäische Antwort einfordert, gibt sich der Illusion hin, man könne den Nawalny-Fall von der Frage der Fertigstellung der Ostseepipeline trennen. Doch sie irrt. Nord Stream 2 spaltet Europa seit Langem.



Und die Milliardeneinnahmen aus dem Gasverkauf sind die Gelder, mit denen Wladimir Putin sein Unterdrückungsregime finanziert. Der Löwenanteil der Staatseinnahmen des noch immer – und wegen der Putin’schen Politik – viel zu wenig diversifizierten Landes kommt aus den Öl- und Gasexporten. Wer den Kreml wegen seiner menschenverachtenden Politik ökonomisch und politisch treffen will, muss Nord Stream 2 stoppen. Alles andere wäre wieder einmal Symbolpolitik, die Moskau nicht beeindruckt, wie in den letzten Jahren hinlänglich bewiesen wurde.
Sanktionen brächten Putin nicht zum Einlenken, sagen im Russlandgeschäft engagierte Unternehmenslenker und politische Lobbyisten. Und tatsächlich bringen die bisherigen milden Strafmaßnahmen kaum etwas. Nur entschlossene, gemeinsam von EU, den USA und ihren Verbündeten getragene harte Wirtschaftssanktionen zeigen westliche Entschlossenheit und verschlechtern Russlands wirtschaftliche Lage so, dass dies mittelfristig politische Folgen hat. Der Stopp von Nord Stream 2 ist der unerwartete Schlag, der Russland Milliarden kostet – und zwar den mit Putin und seinen Helfershelfern engst verbandelten Gazprom-Konzern.





