Morning Briefing: Abstieg: Standort Deutschland nach unten durchgereicht
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
„Deutschland nur noch Mittelmaß“ – an diese Überschrift über den einschlägigen Standortrankings haben wir uns leider gewöhnt. Aber dass wir gleich in die Schlussgruppe durchgereicht werden, das ist neu. So geschehen in einem neuen Ranking für das Jahr 2022 des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen.
Darin steht die Bundesrepublik als Wirtschaftsstandort so schlecht da wie noch nie seit der erstmaligen Erstellung des Rankings im Jahr 2006. Deutschland kommt unter 21 Industriestaaten auf den 18. Platz.
Insgesamt sind wir in den vergangenen 13 Jahren um sechs Rangplätze abgerutscht. Schlechter hat sich kein anderer untersuchter Standort in diesem Zeitraum entwickelt. Insbesondere bei Steuern, Regulierung und Infrastruktur hat der „Standort D“ laut ZEW an Boden verloren. Starke Verbesserungen zeigten dagegen Japan und Schweden.
Wer den Montag lieber optimistisch beginnt: Die Plätze 14 bis 19 liegen in dem Ranking bei der Punktzahl sehr dicht beisammen. Mit etwas politischer Anstrengung könnte sich Deutschland also auch wieder nach vorne arbeiten. Ein Arbeitsauftrag für die selbsternannte Fortschrittskoalition in Berlin, falls nach der Cannabisliberalisierung noch ein bisschen Zeit bleibt.
Allerdings ist die Koalition in diesen Tagen eher mit Personal- als mit Standortfragen befasst. Die Suche nach einer Nachfolge für die offenbar amtsmüde Verteidigungsministerin Christine Lambrecht steht vor einer besonderen Schwierigkeit: In dem Job bewegt man sich von Tag eins an in der politischen Todeszone – erst recht inmitten einer immer drängenderen Debatte um Kampfpanzer-Lieferungen an die Ukraine.
Kein Wunder, dass Lambrecht und alle ihre Vorgängerinnen und Vorgänger nach Peter Struck im Rückblick als mehr oder weniger gescheitert gelten. Für manche brachte der Posten als Verteidigungsminister zugleich das Ende der politischen Karriere. Oder erinnern Sie sich noch an Franz Josef Jung?
Und bei aller Kritik an Lambrechts Amtsführung gilt auch festzuhalten: Die Dame hat zuvor als Justizministerin immerhin so reibungslos agiert, dass man ihr 2021 zusätzlich das Familienministerium anvertraute. Und doch brachte das Verteidigungsministerium die durchaus erfahrene Politikmanagerin innerhalb weniger Monate an ihre Grenzen und darüber hinaus.
Das nur als Warnung an alle, die glauben, mit einer neuen Ministerin oder einem neuen Minister würde bei der Bundeswehr alles besser. Die Erfahrungen der Vergangenheit sprechen dafür, dass das Verteidigungsressort in seiner jetzigen Struktur unführbar ist. Wer immer den Job übernimmt: Sie oder er sollte besser einen Plan haben, wie die politische Führungsstruktur des Wehrapparats verändert werden muss – und sich die nötige politische Prokura dafür besorgt haben.
Ach ja: Wer alles als neuer Verteidigungsminister im Gespräch ist, lesen Sie hier.
Zu den gehandelten Kandidaten gehört Lars Klingbeil. Bei einem Neujahrsempfang seiner Partei in Mainz streichelte der SPD-Vorsitzende am Sonntag die pazifistische Seele der sozialdemokratischen Basis: „Manchmal wird mir schwindlig, wenn ich sehe, dass sich Diskussionen nur noch um Waffen drehen“, sagte er. Er sei „geschockt“, wie der Begriff Diplomatie augenblicklich fast verächtlich gemacht werde.
Also, ich kenne zumindest in Deutschland keinen vernünftigen Menschen an halbwegs relevanter Stelle, der Diplomatie verächtlich macht. Das wäre auch wirklich dumm. Zurecht hat Bundeskanzler Olaf Scholz auch nach dem russischen Angriff das (telefonische) Gespräch mit Kreml-Herrscher Wladimir Putin gesucht: Die Diplomatie verdient immer wieder aufs Neue eine Chance.

Zugleich gehört es zu den seltsamen Mythen dieses Krieges, dass es russische Friedensvorschläge gegeben habe, die Kiew und das westliche Bündnis zurückgewiesen oder ignoriert hätten. Abgesehen von Putins Angebot, die Ukraine könne sich ja geschlagen geben, habe ich von einem solchen Angebot nichts gehört oder gelesen. Wesentlich realitätsnäher klingt für mich, was Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Gespräch mit dem Handelsblatt sagt: „Dieser Krieg könnte noch heute enden. Präsident Putin hat ihn begonnen und er kann ihn jederzeit stoppen. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Putin Frieden will. Er hat seine Ziele nicht verändert. Er will die Ukraine unterwerfen.“
Darum, so Stoltenberg, müssten wir uns auf einen langen Konflikt einstellen und der Ukraine weiter beistehen.
Deutschlands wichtigste börsennotierte Unternehmen wollen 2023 kaum zusätzliche Beschäftigung aufbauen. Die Personalpläne der Konzerne liegen ungefähr auf dem Niveau von 2022. Das geht aus einer Umfrage des Handelsblatts unter den 40 Dax-Unternehmen hervor. Großen Bedarf haben die Firmen jedoch weiterhin im Bereich IT. 18 der 22 Unternehmen, die bei der Umfrage mitgemacht haben, suchen vor allem neue Softwareentwickler, Data Scientists und IT-Architektinnen. Nur vier Unternehmen gaben an, nicht speziell nach IT-Fachexpertise zu suchen, darunter das Immobilienunternehmen Vonovia und der Pharmazulieferer Sartorius.
Einen neuen Job gefunden hat offenbar der frühere „Spiegel“-Reporter Claas Relotius, der mit seinen schön geschriebenen, aber leider in weiten Teilen erfundenen Texten unfreiwillig berühmt wurde. Laut einem Bericht der „Bild“ arbeitet Relotius seit Kurzem als Werbetexter für die Agentur Jung von Matt.
Geht für mich in Ordnung. Der Unterschied zwischen einem Journalisten und einem Werber ist ja gerade dessen etwas entspannteres Verhältnis zur Realität. Ein Slogan wie „Red Bull verleiht Flüüügel!“ hätte sonst nie das Licht der Welt erblickt, sondern wäre von einem schlecht gelaunten Journalisten so umformuliert worden: „Experten berichten von besorgniserregenden Mutationen nach dem Konsum von Energy Drinks.“
Ich wünsche Ihnen einen beflügelten Start in die Woche.
Herzliche Grüße



Ihr
Christian Rickens
Textchef Handelsblatt





