Morning Briefing Das Prinzip Charisma als Wahlknüller
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
der Morgen nach den Wahlen: Das Wort „Charisma“ fällt einem ein. Der Begriff der „charismatischen Führung“, wie ihn der Soziologe Max Weber geprägt hat. Das war der Unterschied, den die Sozialdemokratin Malu Dreyer in Mainz und der Grüne Winfried Kretschmann in Stuttgart machten. Das war der Grund, dass die beiden mit deutlichem Ergebnis Ministerpräsidenten bleiben und jeweils zum zweiten Mal wiedergewählt wurden. Bei einer solchen regionalen Persönlichkeitswahl ist der auf Bundesebene bedeutende „Genosse Trend“ ein Mauerblümchen.
Die Gegenkandidaten von der CDU mögen jeweils kompetent und engagiert gewesen sein, Ausstrahlung ersetzt das alles nicht. Zumal weder Susanne Eisenmann in Baden-Württemberg noch Christian Baldauf in Rheinland-Pfalz das Gefühl vermittelten, hier trete der Zweite mit einem modernen Programm an, das die Union beim Publikum zum Matador der Zukunft mache.

Natürlich: Das operative Versagen der Corona-Politik sowie die Masken- und Aserbaidschan-Affären gleich mehrerer CDU-Abgeordneter milderten im Volk die Lust auf eine Partei, die in den beiden Wahlländern einst „force de frappe“ war: Man denke nur an den Pfälzer Helmut Kohl oder an den listigen Schwaben Lothar Späth.
Diesmal aber umwehte der Pestilenzgeruch der Korruption das politische Geschehen. Das Fehlverhalten einzelner Abgeordneter hat der Union vollends diese Wahl verdorben, mit jeweils historischen Tiefstständen von 24,1 Prozent im „Ländle“ und 27,7 Prozent im Land der Reben, Rüben, Raketen und Robotik. Rache ist ein Gericht, das der Wähler am liebsten kalt genießt.
Für CDU-Neu-Chef Armin Laschet ist das Doppel-Desaster dieser Landtagswahlen ein Stotter-Start, für den er nichts kann, der ihn aber fordert. Er muss auf den heutigen Top-Sitzungen seiner Partei klarmachen, wie er eine Wiederholung des Grusel-Sonntags verhindern will. Spätestens beim Frühlingsspaziergang mit Markus Söder, dem anderen Kanzleraspiranten der Union, muss feststehen, wie man in Berlin Kanzlerpartei bleiben will: Es geht nur mit Fortschrittsschwung, Wirtschaftswissen, einer Pandemiestrategie und, ja, mit Charisma.
Zur Beruhigung im Konrad-Adenauer-Haus der CDU mag beitragen, dass weder Malu Dreyer noch Winfried Kretschmann für die Bundestagswahl am 26. September als Spitzenkandidaten infrage kommen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wäre es anders, könnte es in Berlin etwas werden mit einer Rot-Gelb-Grün-Koalition, vulgo „Ampel“. Nach diesem Schema wird in Mainz regiert, auch in Stuttgart ist dieses Modell nun möglich – nach dem Einbruch der CDU und dem dortigen Adrenalinschub für die FDP.
Wenn sich die Nebel lichten und sich die Euphorie links von der Mitte wieder einpegelt, werden alle merken, dass es für den Bund im Grunde nur zwei Optionen gibt: Schwarz-Grün oder „Jamaika“ – eine Koalition, für die FDP-Chef Christian Lindner gerade die Aufwärm-Gymnastik absolviert. Die Leute schätzen Olaf Scholz für Pragmatismus und Nehmer-Qualitäten, für einen Bundeskanzler halten sie ihn nicht. Da hilft es auch nicht, dass die Oberstrategen seiner Partei nun Dreyers Slogan „Wir mit ihr“ für die Bundestagswahl in „Wir mit ihm“ abwandeln. Schlecht geklaut ist noch nicht gut gewonnen.
16 Jahre Helmut Kohl endeten mit politischer Altersschwäche und kurze Zeit drauf mit dem Spendenskandal. 16 Jahre Angela Merkel enden mit einem schwarzen Loch an der Stelle, wo sich in Firmen die Abteilung Research & Development befindet, sowie mit einer handfesten „Raffzahn“-Affäre. Begeistert liest man in der Autobiografie des CSU-Ehrenvorsitzenden und Compliance-Spezialisten Theo Waigel den Satz: „Ehrlichkeit, auch auf die Gefahr hin, zur Minderheit zu gehören, die Macht zu verlieren, ist Anspruch und Verpflichtung.“
Seine eigene Partei ist gleich über mehrere Personen in die laufenden Affären involviert. Waigels für die CSU entworfener „Ehrenkodex“ hat dabei nur Altpapier-Qualität und das schöne Compliance-Gremium der CSU tagte nicht ein einziges Mal. Die Union wird liefern müssen, wenn sich die Jugend nicht noch weiter von der formierten Politik entfernen soll. Es gilt der Satz des Staatsrechtlers Carlo Schmid von der SPD: „Jede Nation braucht, um bestehen zu können, eine junge Elite, die sich ihr tätig und leidend verbunden weiß.“
Eine Erkenntnis des gestrigen Abends ist immerhin, dass sich das befürchtete Protestreservoir der AfD geleert hat wie ein Plastikschwimmbad, in das sich ein Rudel Stachelschweine verirrt hat. In Pforzheim und Mannheim kommen die Direktkandidaten nicht mehr von der AfD, sondern von den Grünen.
![Quelle: dpa, Getty [M]](/images/die-bundesregierung-laesst-sich-diesen-offenen-mobilfunkstandard-namens-open-ran-zwei-milliarden-euro-kosten-/27005118/2-format2020.jpg)
Im Geschäft mit Antennen, Basisstationen und anderer Netzausrüstung für den Mobilfunk gehören zwei Europäer zur Weltspitze: Ericsson und Nokia. Das ist selten, wenn es um High-Tech geht. Doch nun könnten die US-Konzerne Facebook und Microsoft die beiden europäischen Firmen hinter dem chinesischen Marktführer Huawei womöglich verdrängen. Das liegt an einem neuen Zauberding namens „Open Ran“ („Radio Access Network“).
Die Bundesregierung lässt sich diesen offenen Mobilfunkstandard, der Cloud-Lösungen erleichtern soll, zwei Milliarden Euro kosten. Das neue System zwingt Anbieter, ihre Ausrüstung untereinander kompatibel zu machen – was den Big Playern aus China und den USA leichter möglich sei, analysiert unsere Titelstory. Ist Deutschland in der „Mobilfunk-Falle“?
Manchmal grenzt es an Masochismus, über Deutschland und das Internet zu schreiben. Man muss leidensfähig sein. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat nun im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums geforscht und kommt zu einem ernüchternden Fazit: „Der Anteil der digitalen Wertschöpfung ist in Deutschland mit 5,7 Prozent deutlich niedriger als in den USA mit 8,2 Prozent“, heißt es in der Studie, die unserer Redaktion vorliegt. Neben all den US-Tech-Konzernen könne allenfalls SAP als einziges deutsches Unternehmen mithalten.
„Grundsätzlich ist das Ergebnis für Deutschland verbesserungswürdig“, erklärt Studienautor Manuel Fritsch. Er sagt aber auch, dass Investitionen in das „Internet of Things“ und dergleichen im Maschinenbau und Autoindustrie nicht als digital klassifiziert werden und „so aus der Rechnung fallen“. Den nötigen Mut holen wir uns von Charles Dickens: „Auch eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig.“

Und dann ist da noch ein amerikanisches Fintech namens Stripe Inc., das es in der Welt der ganz großen „Einhörner“ zu besonderem Status schafft. Der von den irischen Brüdern John und Patrick Collison gegründete digitale Zahlungsabwicklungsspezialist erlöste bei der letzten Finanzierungsrunde 600 Millionen Dollar – und wird nun mit 95 Milliarden Dollar bewertet. Im April 2020 waren es erst 36 Milliarden.
Komm, schöne Müllerstochter, spinn’ noch ein wenig Stroh zu Gold, möchte man wie bei den Gebrüdern Grimm der Silicon-Valley-Größe zurufen. Mit dem neuen Kapital will die Firma, die mit PayPal und Square konkurriert, die Aktivitäten in Europa ausbauen. Unter den wichtigen Investoren der neuen Gold-Nummer sind übrigens neben Fidelity und Sequoia Capital auch die Versicherungen Allianz und Axa.
Ich wünsche Ihnen einen goldenen Start in die Woche.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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