Morning Briefing Der missratene Wahlkampf
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
wir werden uns nach dieser Wahl viel zu verzeihen haben, zum Beispiel triviale Trielle und Schaulust an Nebensächlichkeiten. Viele hätten versagt, auch die Journalisten, erkennt Peter Unfried in der „Taz“: „Die entpolitisierende Zuspitzung auf Einzelpersonen und deren vermeintliche Charakter hat auch diesen Wahlkampf wieder kaputtgemacht.“ Sebastian Dullien, Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) findet, es sei zu fragen: „Fordern Medien und Zivilgesellschaft den Parteien genügend ab?“
Die Wahlprogramme der Parteien steckten voller Versprechungen, „aber es bleibt völlig unklar, wie das alles finanziert werden soll“, sagt er im Handelsblatt-Streitgespräch. Keiner spräche über die „zweifache Investitionslücke“, die sowohl bei den Privaten als auch beim Staat bestehe, erklärt sein Kontrahent Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft: „Mit der viel beschworenen Klimaneutralität kann es so nichts werden.“
Inhaltlich liegen die beiden Ökonomen vor allem in der Mindestlohnfrage weit auseinander. Für Dullien bewirkt die vom linken Lager geforderte Steigerung auf zwölf Euro mehr Produktivität und Einkommen: „Alles gut fürs Wachstum.“ Michael Hüther hält dagegen: „Dieses Sich-am-eigenen-Schopf-aus-dem-Sumpf-Ziehen funktioniert auch nur in der Münchhausen-Theorie.“ Diese Streitfrage sei Sache der Mindestlohnkommission der Arbeitgeber und Gewerkschaften, die das Thema befriedet hätten: „Warum will man das gefährden?“ Beide fordern im Übrigen eine neue Art der Regierungsführung, wozu Hüther konkret eine Matrix-Organisation mit den Querschnittsthemen Digitalisierung und Klimaschutz vorschlägt: „Das Kanzleramt muss dabei mehr führen als bisher, raus aus der reinen Moderationsrolle.“
Es bleibt die Frage: Ob Kandidat Armin Laschet, dem gestern Abend Angela Merkel in Stralsund zur Abwechslung mal Wahlkampfhilfe leistete, das wohl auch so sieht?
Nachholbedarf nach der Pandemie, Digitalisierung, ökologischer Umbau und satte Gewinne – das sind die Hauptgründe, warum Unternehmen weltweit die Investitionen hochfahren. 2021 wird es hier – nach einem flauen Jahrzehnt – wahrscheinlich einen Zuwachs um 13 Prozent auf 3,1 Billionen Euro geben, referiert unsere Titelgeschichte. Von allen Konzernen steckt Online-Gigant Amazon mit gut 37 Milliarden Euro am meisten in Zukunftsausgaben, gefolgt von Samsung aus Südkorea und Petrochina mit jeweils gut 31 Milliarden. In Europa fällt die Deutsche Telekom auf, die ihre Investments um stolze 70 Prozent auf knapp 22 Milliarden Euro hochschraubt. Ein alter Spruch, gelegentlich Aristoteles zugeschoben, besagt: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“

Joe Biden, US-Präsident seit neun Monaten, macht im Alltagsgeschäft mit seinem Protektionismus da weiter, wo Donald Trump aufgehört hat. Und dank der U-Boot-Allianz seines Landes mit Australien und Großbritannien gegen China hat er, an der düpierten EU vorbei, neue Maßstäbe des Aufrüstens gesetzt. Anders als sein Vorgänger versteht sich Biden aber auch inmitten stahlharter Kanonenbootpolitik auf die Klaviatur des Diplomatischen.
So beschwor er nun in seiner Rede zum Auftakt der UN-Vollversammlung, „keine in starre Blöcke geteilte Welt“ anzustreben. Zwar seien die USA bereit zum „Wettbewerb“ mit anderen Nationen, würden aber keinen „neuen Kalten Krieg“ anstreben. Er versprach eine Verdoppelung der jährlichen Klimahilfen, um ärmeren Staaten zu helfen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hatte zuvor Alarm geschlagen: „Wir stehen am Rande des Abgrunds und bewegen uns in die falsche Richtung. Unsere Welt war noch nie in größerer Gefahr und noch nie gespaltener.“ Die ungleiche Verteilung von Impfstoffen gegen Corona nannte er sogar eine „Obszönität“.
Heute tagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit seinen Kollegen aus den Bundesländern. Der Inhalt eines Entwurfs für diese Beratungen, den unsere Redaktion verbreitet hat, sorgt für einiges Aufsehen. Danach ist im Gespräch, vom 11. Oktober an Entschädigungen für Verdienstausfälle wegen angeordneter Quarantäne für Ungeimpfte generell zu streichen.
Das Bundesinfektionsschutzgesetz sieht eine solche Maßnahme bereits vor, wenn eine Absonderung durch eine empfohlene Schutzimpfung hätte vermieden werden können. Spahn hat seine Sympathie für eine solche Schlechterstellung von Nichtgeimpften erkennen lassen. Der Sozialverband VdK dagegen lehnt ab. Präsidentin Verena Bentele: „Der Verdienstausfall muss bei einer Quarantäne unabhängig vom Impfstatus gezahlt werden.“ Ohne Anreize oder Sanktionen wird es mit einer höheren Impfquote wohl nichts werden.
In der Tech-Branche zirkuliert so viel Geld für Zukäufe, dass Kritiker den Atem anhalten, welche Deals wohl noch so kommen werden. So will Zoom Video Communications für eindrucksvolle 14,7 Milliarden Dollar ein in der Cloud betriebenes amerikanisches Call-Center-Unternehmen namens Five9 kaufen. Ein spezielles Gremium des US-Justizministeriums prüft die Verbindung von Zoom nach China.
Rekordverdächtig sind auch die 2,1 Milliarden Dollar, die Google für den Gebäudekomplex „St. John’s Terminal“ im Südwesten Manhattans zahlt. Bislang ist der Internetkonzern dort nur Mieter – und will nun mit vielen Bündeln Geld zeigen, dass Homeoffice zwar schön, aber eben nicht alles ist.

Und dann ist da noch Maike Kohl-Richter, 57, Volkswirtin und vor allem selbsternannte Gesamthüterin des Erbes von Altkanzler Helmut Kohl. Kurz vor der Bundestagswahl stellt sie über ihre Anwälte in Aussicht, gerichtlich gegen die seit Dienstag bestehende staatliche Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung vorzugehen, als deren Kuratoriumschef Ex-Unionsfraktionschef Volker Kauder auftritt. Zunächst, so die Witwe, müsse die CDU-Spendenaffäre ganz aufgearbeitet werden, die das Ansehen des rheinland-pfälzischen Politikers beschädigt habe.
Bund und Länder hätten sich „wissentlich und vorsätzlich“ über ihre Rechte als Alleinerbin Kohls und über den letzten Willen des Ex-Kanzlers hinweggesetzt, sagt Kohl-Richter zur neuen Stiftung. Sie präferiert stattdessen, so die Idee, „mit einer privaten Helmut-Kohl-Stiftung eigene Wege zu gehen“. Der französische Philosoph Blaise Pascal hatte wohl recht: „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.“
Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Tag, mit Liebe und Verstand.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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Was wir sicher nicht brauchen, ist eine Staatliche Birne-Stiftung.
Wie war noch der Satz? "Maike, mach die böse Frau weg!"
Noch so ein Selbstbedienungsladen für abgehalfterte CDU-Granden ist ein Skandal.
Zumal auf Kosten des Steuerzahlers.