Morning Briefing Der Weltkapitalismus entflechtet sich
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
bisher hat die US-Regierung unter Donald Trump versucht, chinesische Investitionen in amerikanische Märkte zu verhindern. Es geht auch andersrum, sagt sich Nachfolger Joe Biden – und blockiert mit einer „Executive Order“ US-Geldgeber, ihr Kapital in 59 chinesische Firmen zu investieren. Die haben alle mit Verteidigung und Überwachung zu tun. Darunter sind unter anderem Huawei, Lieblingsfeind in Washington, sowie die Semiconductor Manufacturing International Corporation, größter Chiphersteller Chinas.
Der Bann gilt vom 2. August an. Ein Jahr haben die US-Investoren Zeit, ihre Positionen in der Volksrepublik aufzulösen. Der Kapitalismus, wie wir ihn kannten, entflechtet und amputiert sich selbst, als Manöver im geopolitischen Krieg um die Macht. In dieses Schema passt die Aktion „Entdollarisierung“ in Russland: Der Wladimir-Putin-Staat erklärt, Dollar-Aktiva und damit die US-Währung aus seinem Nationalen Vermögensfonds gestrichen zu haben.
Wenn wir schon mal bei Trump sind, dem großen Wüterich der jüngeren Zeitgeschichte: Als er noch im Weißen Haus saß, nahm die Welt, auch die Medien-Schar, jedes Hüsteln auf dem selbst erklärten Regierungskanal Twitter als Donner wahr. 88 Millionen Follower waren dabei, hinzu kamen 35 Millionen auf Facebook.
Als Ex-Präsident ist das anders, wie das Schicksal seines erst vor 29 Tagen gestarteten Blogs „From the Desk of Donald Trump“ zeigt: Für jemanden mit Mundwerk, aber ohne Macht, interessieren sich nur wenige. Die gebloggte Polit-Verschwörungstheorie ist wieder aus dem Netz verschwunden. Der in die Prahlerei verliebte Trump wirkte nur noch wie ein Verlierer und seine Ankündigung im Trailer wie eine irrwitzige Selbstbeschwörung: „In einer Zeit der Stille und der Lügen entsteht ein Leuchtfeuer der Freiheit.“
Nach dem Bundesverfassungsgericht hat auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Bundesregierung wegen unterbliebener Klimaschutzmaßnahmen gerüffelt. Jahrzehntelang seien in vielen Städten Stickoxid-Grenzwerte erheblich überschritten worden. Damit folgt der EuGH der EU-Kommission, die so ihre Klage gegen Deutschland begründet.

Das ist ein Hintergrund für ein Statement der Grünen-Chefin Annalena Baerbock im großen Handelsblatt-Gespräch. Darin beklagt sie „eine besondere Form von Selbstvergessenheit in der Regierungskoalition“: Sie müsse zu eigenen Beschlüssen – etwa der Einführung des CO2-Preises und jüngst verschärfter Klimaziele – stehen und sie umsetzen. Im Einzelnen sagt die 40-Jährige über…
- ihre zuletzt schwächeren Umfragewerte: „Mal bläst einem der Wind ins Gesicht, mal hat man Rückenwind, das ist in der Politik so und in Wahlkampfzeiten erst recht. Wir treten an, um dieses Land zu erneuern.“
- das neue Dienstwagenprivileg: „Je größer und klimaschädlicher das Auto, desto höher die Besteuerung. Mir geht es besonders um die Pendler, die keinen Dienstwagen fahren und niedrige Einkommen haben. Sie wollen wir stärker beim Umstieg auf ein sauberes Auto unterstützen.“
- ihre Ideen für die Wirtschaft: „Ich werbe sehr für einen Industriepakt. Die Unternehmen müssen beim Umbau hin zur Klimaneutralität deutlich schneller werden. Daher brauchen sie von der Politik die Sicherheit, dass sich ihre Milliardeninvestitionen in Zukunft rechnen.“
Bei dieser Art von Pakt hilft eine Erkenntnis des Schriftstellers Daniel Defoe: „Freundschaft fließt aus vielen Quellen, am reinsten aus dem Respekt.“
Eine große Versprechung macht Stefan Sickenberger, Organisationsvorstand bei der Northern Data AG, die Hochleistungsrechenzentren betreibt: Der Stromverbrauch solle stark sinken, eine rechenaufwendige Anwendung wie Bitcoin-Mining „sehr viel umweltfreundlicher werden“. Das ist das Dilemma der Krypto-Währungen: Je beliebter sie werden (die Marktkapitalisierung stieg zuletzt auf 1,6 Billionen Dollar), desto höher der Energieverbrauch. Auch wenn Krypto-Start-ups bereits am „grünen Bitcoin“ arbeiten, wird der Abschied vom schmutzigen Image alles andere als einfach, resümiert unser Report.

Für viele Anleger ist eine miese Ökobilanz nun einmal ein K.o.-Kriterium.Aschheim, ein charmeloses Bürohaus, Schauplatz eines Wirtschaftskrimis, Arbeitstitel: „Der Untergang“. 17. Juni und 18. Juni, die letzten 48 Stunden des langjährigen Börsen-Wundergebildes, Wirecard, das von allen bewundert wurde: Politik, Finanzmarkt, Presse (weitgehend), Anleger. Ein Handelsblatt-Team hat daraus einen Plot für den Wochenend-Titel gemacht. Alles beginnt mit der von Mitternacht an verzweifelt betriebenen Suche nach Aktiva von 1,9 Milliarden Euro, die bei zwei philippinischen Banken auf Treuhänderkonten liegen sollen.
Ein Anwalt aus Manila verspricht immer wieder, sie komme bald, sehr bald, die Bestätigung für das Geld. Die Sekretärin von CEO Markus Braun kümmert sich um Blumenbouquets zum Geburtstag von dessen kleiner Tochter, Wert 3927 Euro, Anleger beschimpfen den Vorstand, ein Top-Manager kauft online Tanktop, Sneaker-Socken und Freizeitkleid, eine Ad-hoc-Mitteilung zum Bilanz-GAU geht heraus, Wirtschaftsprüfer EY schickt eine Rechnung über 4,5 Millionen Euro, die Schweizer Bank Mirabaud setzt einen „Margin Call“ wegen eines Großkredits an Braun ab, Oliver Samwer will von ihm 75 Millionen Euro zurück und am Abend stellt Neu-Vorstand James Frei fest, es hat die 1,9 Milliarden nie gegeben. Im Bunker geht das Licht aus.
Mein Kulturtipp zum Wochenende: „Der Rhein – Biographie eines Flusses“ von Hans Jürgen Balmes. Der Autor, ein Lektor und Übersetzer, hat sich Deutschlands größten Strom von der Quelle bis zur Mündung zu Fuß, im Schlauchboot oder per Tierbeobachtung erschlossen. Das ist nicht einfach ein neues Buch im „Ich-erwandere-die-Heimat“-Genre, sondern eine facettenreiche Kulturgeschichte, die er in Schwerpunkten aufbereitet: zum Beispiel den fossilen Schätzen der Grube Messel, den Alpen-Klüften der Ursprungsflüsse, dem Werk des britischen Rhein-Malers William Turner. Der in Koblenz geborene Autor ist dem innerlichen Zwang, alles zu diesem deutschen Schicksalsfluss wissen zu wollen, mit einer faszinierenden Poetik nachgekommen.
Mein Urteil: Panta rhei, alles fließt, auch dieser Text.
Und dann ist da noch Paul Ziemiak, römisch-katholisch, Mitglied der Katholischen Deutschen Studentenverbindung Winfridia Breslau Münster und der katholischen Studentenverbindung AV Widukind sowie einer Partei, die sich „christlich“ nennt und in der Tradition der katholischen Zentrumspartei steht. Es gibt das Problem, dass der CDU-Generalsekretär gerne twittert, was die Gefahr falscher Schnellschüsse steigert. Und zudem kämpft er sich derzeit mit dem Bundestagswahlkampf ab, gestern Abend erfolglos bei „Maybrit Illner“.
Da kann liturgisches Grundwissen schon mal mit dem Weihrauch entschwinden. Jedenfalls hat Ziemiak einen „gesegneten Feiertag“ Fronleichnam mit der originellen Begründung gewünscht, am „Fest des heiligen Leibes und Blutes Christi“ würden wir uns ans letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern erinnern. Just dafür gibt es aber den Gründonnerstag, und wozu es Paul Ziemiak gibt, fragt sich nun der ein oder andere im Land. Wir schließen mit einem Wort von Sigmund Freud: „Wenn man jemanden alles verziehen hat, ist man mit ihm fertig.“
Ich wünsche Ihnen ein entspannendes Wochenende.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
Hier können Sie das Morning Briefing abonnieren:

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Was Paul Ziemiak über Fronleichnam gesagt hat ist völlig richtig. Natürlich spielt das Gedenken an das letzte Abendmahl nicht nur an Gründonnerstag sondern auch an Fronleichnam eine zentrale Rolle. Ich als Katholik finde die Kritik jedenfalls nicht gerechtfertigt und ich kann mir kaum vorstellen, dass sie von wesentlich vielen Menschen geteilt wird, die selbst Fronleichnam feiern.