Morning Briefing Die einseitige Castingshow der Union
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
der Blick zu Anfang der Woche fällt auf das hochehrwürdige Präsidium der CDU. Es tagt heute ganz real, nicht als Zoom-Event, und alle Welt fragt sich, wer von den Präsidialen wohl für einen Kanzlerkandidaten aus der Schwesterpartei CSU, also für Markus Söder, plädieren könnte? Wohl kaum die Granden Volker Bouffier oder Michael Kretschmer, die sich für den Anti-Söder Armin Laschet ausgesprochen haben.
Auch die Kanzlerin Angela Merkel selbst wirbt statt für Söder für Laschet: Bayern sei von den Bund-Länder-Beschlüssen ja noch viel mehr abgewichen als NRW, sagt sie. Dito Friedrich Merz, der ebenfalls vom fränkischen Inszenierungschampion abrät.
Allenfalls Norbert Röttgen und Abgeordneten-Vertretern traut man im christdemokratischen Elysium Schmutzeleien zu – aber das reicht nicht für eine Palastrevolution. Umfragekönig Söder befindet sich in Rufbereitschaft, aber es ruft keiner – außer der eigenen CSU.
Manchmal geht es in der Politik zu wie in einem Souk. Am Ende des seit Wochen exerzierten bayerischen Taktierens könnte stehen, dass Söder den Preis für seine Partei in der nächsten Legislatur erfolgreich hochgetrieben hat. Das schließt attraktive Ministerressorts ebenso ein wie, sagen wir, den Posten des 2022 neu zu bestimmenden Bundespräsidenten.
Selbst wenn der bisher nicht gerade als Wahllokomotive dampfende Laschet nicht bedeutend zulegen sollte, so ist eine grün-rot-rote Bundesregierung doch wenig wahrscheinlich. Das ist nicht mehr als eine aktuelle, politisch opportune Rocky Horror Picture Show des Konrad-Adenauer-Hauses. Der größte mögliche Erfolg des CDU-Chefs am 26. September wäre – so der Stand der Dinge – „Jamaika“ erreicht und eine „Ampel“ verhindert zu haben. Kleines Prognosewagnis: Der Sieger der nächsten Monate wird die FDP sein.

Umfragekönig Söder befindet sich in Rufbereitschaft, aber es ruft keiner – außer der eigenen CSU.
Die Liberalen spielen mit einigem Recht das Korrektiv bei einer Hauruck-Aktion, mit der Angela Merkel das Infektionsschutzgesetz schärfen will. Schon am morgigen Dienstag will das Kabinett verabschieden, dass bei einer Inzidenz oberhalb von 100 in einem Landkreis oder einer Stadt dort die Notbremse verbindlich greift. Was das genau heißt, ist jedoch umstritten. Eine nächtliche Ausgangsperre, wie von Merkel erwogen, wäre unverhältnismäßig, macht FDP-Chef Christian Lindner klar. Auch Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) sagt, „diesen Einheitswahn“ teile er überhaupt nicht.
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer wiederum fordert, man solle nicht nur auf die Inzidenz, sondern auch auf die Zahl freier Intensivbetten schauen. Dieser Indikator ist in einzelnen Regionen, etwa in Niedersachsen, bei weitem nicht so dramatisch, wie es zuletzt im Meinungsgewitter aus dem Regierungskomplex klang. Länder und Kommunen wehren sich gegen ihre geplante Entmachtung. Es ist die nächste schwierige Probe aufs Exempel für die Noch-Regierungschefin nach fast 16 Dienstjahren.

Jetzt äußert sich der letzte Aufsichtsratschef von Wirecard, Thomas Eichelmann, erstmals in einem Interview und kritisiert die Rechnungsprüfer von EY.
Einige Monate hat Thomas Eichelmann geschwiegen. Jetzt äußert sich der letzte Aufsichtsratschef des international anerkannten Blendwerks namens Wirecard erstmals in einem Interview: „Es ist ein Albtraum.“ Im Handelsblatt lenkt er den Blick auf den langjährigen Wirtschaftsprüfer: „Das Verhalten von EY ist für mich nicht mehr nachvollziehbar.“ Insbesondere verwundert den 2019 gestarteten Kontrolleur, dass die Firma trotz eines frühzeitigen Verdachts auf Unregelmäßigkeiten stumm wie ein Karpfen blieb: „Wenn ein Prüfer Zweifel an der Integrität des Managements hat, dann steht das in krassem Widerspruch zu einem uneingeschränkten Testat.“ Es stimmt: An Widersprüchlichkeiten hat es bei Wirecard nie gemangelt, nur am Mut, sie zu benennen.
Mit einigem Fug und Recht gilt Ex-Vorstand Jan Marsalek, der Posterboy der Fahndungsplakate von Interpol, als Drahtzieher des Rififis im Finanzkonzern. Aufschlussreich sind die Chat-Nachrichten, die er nach dem Untertauchen dichtete, und die uns exklusiv vorliegen. Der Verwandlungskünstler mit Geheimdienstnähe, ein Bonsai-Bond, schreibt als Richard Dabrowski: „Die Alternative wäre gewesen, dass ich ins Gefängnis gehe.“ Der Adressat ist der Teilhaber der gemeinsamen Beteiligungsgesellschaft IMS, der sich ganz kreativ „Daniel Craig“ als Deckname gewählt hat. Und der sich, grammatikalisch unvollständig, beschwert: „Mich hast du hier zurückgelassen und im Prinzip am langen Arm verhungern – das ist nicht lustig.“
In seiner Antwort findet es Marsalek wiederum befremdlich, dass sich der Partner als „Marionette“ bezeichnet: „Du warst der Erste, der gerne Consulting Fees von Wirecard angenommen hat, der an Geldwäsche-Lösungen gearbeitet hat, etc. Von der Finanzierung deines Hauses mal ganz zu schweigen (Smiley).“ Die Sprache, auf die man sich in diesem Milieu am besten versteht, ist die der nur leicht kaschierten Drohung.
Wirecard, das ist nicht nur die offenbar hochkriminelle Tat einiger Top-Manager, es ist auch die Geschichte eines Staatsversagens. Behörden und Regierung kamen ihrem Kontrollauftrag nicht nach. Mein Kollege Felix Holtermann, der den Fall akribisch verfolgte, analysiert in seinem heute erscheinenden Buch „Geniale Betrüger – wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt“ die Zusammenhänge.
Sein Fazit: Die Aschheimer Finanzklitsche, die zum Dax-Konzern wurde, betrog ein System, das betrogen werden wollte. Wirecard ist die Chiffre für die Gier vieler, die aus der angeblichen deutschen Antwort auf das Silicon Valley Kapital schlagen wollten. Bei Demosthenes lernen wir: „Nichts ist leichter als Selbstbetrug, denn was ein Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr.“
Wenn Ihnen etwas gefällt oder missfällt am Handelsblatt, wenn Sie Rat- und Vorschläge haben, reden Sie mit dem Chefredakteur! Sebastian Matthes hat heute Mittag seinen ersten virtuellen Club-Talk mit Abonnenten. Alle vier Wochen will er zur Standortbestimmung laden. Wenn Sie dabei sein wollen, hier geht es zum Redaktionsgespräch.
Aktuell hat Matthes mit Johannes Reck geredet, dem CEO des Reiseaktivitätenportals Getyourguide. Der Chef des Start-ups beklagt sich über den Giganten Google, der für viele digitale Firmen eine schleichende Gefahr sei: „Der Konzern geht in sehr viele für Konsumenten wichtige Bereiche, untergräbt den Wettbewerb und versucht, sie mittelfristig zu dominieren. Im Reisegeschäft haben wir das deutlich gemerkt. Google erpresst viele Partner regelrecht.“ Pflichtlektüre für die Kartellbeamten dieser Welt.
Trotz Corona wurden 2020 insgesamt 2857 Start-ups ins Handelsregister eingetragen, 13 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Zahl steht im Jahresreport der Analysefirma Startupdetector, die uns vorliegt. Demnach ist die Zahl neu gegründeter Unternehmen vor allem in den Branchen E-Commerce, Lebensmittel, Bildung und Gaming gestiegen. Die Probleme bei Onlinehandel, Homeschooling und Homeoffice seien so eklatant gewesen, dass sich Gründer „ganz bewusst mit diesen Themen befasst haben“, sagt Filip Dames von Cherry Ventures.
Ein Erfolgsbeispiel: Die erst Anfang 2020 gestartete Firma Gorillas hat in weniger als einem Jahr eine Bewertung von einer Milliarde Dollar erreicht. Diese Gorillas leben gut als Einhörner.
Druckerei Flyeralarm des Gründers und Aufsichtsratschef Thorsten Fischer, die nach sieben Jahren nicht mehr Sponsor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sein will. „Wir sind stolzer Partner und Sponsor des DFB – mit heute gewesen!“, verkündete Fischer das Ende seines Engagements. Der Unternehmer hatte sich in seiner Eigenschaft als Chef-Aufseher des Zweitliga-Schlusslichts Würzburger Kickers über elf angeblich falsche Schiedsrichter-Entscheidungen im 1:1-Spiel gegen den 1. FC Nürnberg geärgert.
Es geht nun um Sponsorengelder von 4,5 Millionen Euro. Das Engagement von Flyeralarm bei der Frauen-Bundesliga soll von der Wutattacke nicht betroffen sein. Als „Fisherman‘s Friend“ scheint der DFB jedenfalls ausgemustert zu sein.
Ich wünsche Ihnen einen harmonischen Tag.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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