Morning Briefing Die Friedhofsruhe der Taliban
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
diese Schimpf-und-Schande-Sache Afghanistan beherrscht auch heute die Schlagzeilen. 20 Jahre lang wussten wir oft mehr über Kundus als über Konstanz, und nun wissen wir nichts über das Schicksal all jener, die noch im Land sind und den Westen unterstützt haben. Fatal. Drei Trends zeichnen sich ab:
- Es gibt eine breite Bewegung, die Rettung der Afghanen ohne viel Bürokratie zu vollenden. So fordern 46 US-Senatoren Sonderregeln für eine erleichterte Aufnahme afghanischer Frauen. Das fordern auch deutsche zivilgesellschaftliche Initiativen. Was CDU-Chef Armin Laschet in dieser komplizierten Causa genau will, weiß vielleicht nicht einmal er selbst: „2015 darf sich nicht wiederholen. Wir brauchen einen geordneten Schutz für die, die Richtung Europa streben.“
- Afghanistans neue Machthaber inszenieren eine Propagandashow, die so perfide ist wie Leni Riefenstahls Film über Olympia 1936. Sie versprechen alles: den Bürgern in Kabul freie Fahrt zum Flughafen, Kampf dem Terror, den Frauen Jobs und Rechte, den Helfern des Westens Amnestie. Aber dort in der Provinz, wo die Taliban die Macht schon seit Tagen haben und die Scharia durchsetzen, herrscht Repression und Angst. Ein Frieden wie auf einem Friedhof.
- Die Realpolitik mit ihrer Kernbotschaft: „Es muss ja irgendwie weitergehen“ übernimmt die Regie. Ein Vertreter der Bundesregierung flog nach Doha, um mit Emissären des neuen Emirats am Hindukusch über Ausreisechancen für die zurückgebliebenen deutschen Ortskräfte zu verhandeln. Europas Chefdiplomat Josep Borrell sagt, die Taliban hätten ja schließlich den Krieg gewonnen – deshalb werde man mit ihnen reden müssen.
Fazit: Realitäten bringen nur Idealisten um, Pragmatiker leben mit ihnen.

Man kann Heiko Maas (SPD) als „schlechtesten Außenminister seit 1945“ bezeichnen, wie es bei n-tv zu lesen war. Oder vielleicht als den „glücklosesten Politiker“ des Jahres. Stört alles nicht, der Minister des Äußersten bleibt ja im Amt, gibt Fernsehinterviews und agiert als großer Krisenmanager bei der Evakuierung aus Afghanistan – die Folgen seiner grotesken Fehleinschätzungen müssen bewältigt werden.
Und dass die Bundeswehr beim ersten Flug ganze sieben Menschen ausflog, die USA in ihrer Maschine aber mehr als 600, verschlägt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) auch nicht die Sprache. „Wenn alle sich irren, muss der Einzelne keine Verantwortung übernehmen“, kommentiert unser Politikchef Thomas Sigmund. Praktisch. Noch praktischer ist, dass FDP und Grüne nach dem 26. September mit den Parteien der Schwachminister koalieren wollen – und ihnen vielleicht deshalb das Wort „Rücktritt“ entfallen ist.
Die neue Taktik des „Eisenbahners der Nation“: Eine Spur härter und etwas konzilianter zugleich. So will Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), den Tarifstreit mit der Deutschen Bahn gewinnen. „Wir werden die Streiks ausweiten“, sagt er einerseits, Aktionen am Wochenende könne er „nicht ausschließen“. Und dann das Zuckerl für alle: Die Gewerkschaft werde Arbeitsniederlegungen etwas früher ankündigen – ein Vorlauf von nur einem halben Tag ist doch verdammt kurz, dies dämmerte auch den GDL-Chefs.
Ein Schlichtungsverfahren ist derzeit eine reine Fantasy-Produktion des aus der Versenkung aufgetauchten Verkehrsministers Andreas Scheuer (CSU). Die Industrie stellt sich auf Streik ein. Die im Güter- und Personenverkehr hart getroffene Bahn jedenfalls erklärt die GDL-Drohgebärden psychologisch mit dem Zwang, gegenüber der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) an Boden gewinnen zu wollen – und gibt kein neues Angebot ab.
Neuseeland kommt auf die Idee, wegen einem Corona-Fall einen Lockdown zu verkünden. Von solchen „Null-Covid“-Träumen sind wir mittlerweile weit entfernt, auch dank Gerichtsentscheidungen pro verantwortbarer Freiheit. So hat nun das Hamburger Verwaltungsgericht dem Eilantrag eines Paars gegen ein coronabedingtes Tanzverbot auf seiner für das Wochenende geplanten Hochzeitsfeier stattgegeben.
Sie soll in einem Hotelraum mit insgesamt 51 Teilnehmern über 14 Jahren stattfinden, 41 sind vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Damit handele es sich „um eine private Feierlichkeit mit bis zu zehn Personen“, so die Richter, „weil vollständig geimpfte Teilnehmer außer Betracht bleiben“ müssten. Das für größere Feiern geltende Tanzverbot erweise sich daher nach der Prüfung als „unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig“. Ein wichtiges Urteil: Let’s Dance.
Wenn Sie Dorsch (Kabeljau) lieben, müssen Sie sich womöglich bald einschränken. In der westlichen Ostsee ist der Bestand dieses Fisches derart kollabiert, dass eine absehbare Erholung unwahrscheinlich ist. Jedenfalls sind das die Aussagen von Forschern des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit der Universität Hamburg. Der Kipp-Punkt sei hier überschritten.
Das Team, dessen Ergebnisse in „Scientific Reports“ publiziert wurden, nennt Klimawandel und Überfischung als Hauptgründe der Entwicklung. In der Mitteilung heißt es: „Aufgrund von hohen Fangquoten und bisher nicht beachteten Umweltfaktoren ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich der Bestand des Dorsches an der deutschen Ostseeküste in näherer Zukunft erholen wird.“
Traurig: Man kann das Requiem auf diesen Fisch schon anstimmen.

Und dann ist da noch das Deutsche Institut für Normung, Zentralstelle für Industrie-Regelungen wie die Papiergröße DIN A4. Für Debatten sorgt nun, dass in ihrer DIN 5009 die Worte für das Diktieren der Buchstaben des ABCs neu geregelt werden sollen – Städtenamen sollen künftig Vornamen ersetzen. Aus „C wie Cäsar“ würde „C wie Chemnitz“, aus „M wie Martha“ ein „M wie München“. Die Reformer sehen sich ganz im Gender-Stream dieser Tage, denn es kommen bisher bei 16 Männernamen nur sechs Frauennamen zum Einsatz. Eine Rolle spielt auch, dass die Nazis 1934 alle jüdischen Namen in der ABC-Übung entfernt hatten (Dora statt David, Siegfried statt Samuel). So fragen wir am Schluss mit Shakespeare: „Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.“
Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag – mit „T wie Theodor“ übrigens, sorry, Tübingen.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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