Morning Briefing Die Selbstdemontage der Union
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
die Lagerfeuer-Show „Wetten, dass…“ mit Thomas Gottschalk mag im November ins ZDF zurückkehren. Die goldenen Zeiten der Union mit Helmut Kohl oder Angela Merkel jedoch werden auf viele Jahre kein Comeback erfahren. Zu abgewirtschaftet, zu ausgezehrt erscheint die verdiente Ex-Volkspartei, in der ein gescheiterter Kanzlerkandidat Armin Laschet, 60, öffentlich einen verzweifelten Kampf ums politische Überleben führt.
Seine Bilanz des Grauens könnte das verhindern. Neun Prozentpunkte minus bei der Bundestagswahl, erstmals seit 23 Jahren hinter der SPD (klar mit 1,6 Punkten), die eigene Heimatstadt Aachen ergrünt, kein Direktmandat mehr in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Hamburg, Bremen und Saarland, dazu Sachsen und Thüringen als eine von der AfD dominierte Zone – früher wären Politiker in solcher Bredouille sofort zurückgetreten.
Laschet aber steigert sich, „high“ von Jamaika, in Regierungsfantasien, als hätte ihn das Volk nicht gerade abgewählt. Vom Kanzlerjob mag er träumen, um den Titel des Oppositionsführers muss er bangen (neuer alter Fraktionschef soll heute Ralph Brinkhaus werden) und zuhause in Nordrhein-Westfalen macht sich unter anderem Verkehrsminister Hendrik Wüst bereit für die Staatskanzlei. Reihenweise ziehen ranghohe Christdemokraten derzeit die Konsequenzen aus der Wahlschlappe: in Schwerin Landeschef Michael Sack, in Mainz Landeschefin Julia Klöckner.
Fazit: Irgendjemand muss dem liebenswürdigen Leichtgewicht Laschet sagen: „Es ist vorbei.“
Der Tag danach: Abrechnungen auf der einen Seite, Zurechnungen auf der anderen Seite. Die „Ampel“-Koalition aus SPD, Grüne und FDP nähert sich als Kombination von Vorsondierungen, Sondierungen, Forderungen, Komplimenten und Bluffs ihrer Verwirklichung. Immerhin eint das „Fortschrittsvokabular“. Christian Lindner spricht vom „fortschrittlichen Zentrum“, Olaf Scholz von der „gemeinsamen Idee von Fortschritt“ und über „Fortschritt gestalten“ hat Robert Habeck schon Seminare gehalten. Der grüne Co-Chef soll Vizekanzler werden, so viel steht schon mal fest, über den Rest wird verhandelt. Für Annalena Baerbock bleibe ein Ministerinposten.
Der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune hofft, dass die Koalition „so schnell wie möglich gebildet wird, für Deutschland aber auch für Frankreich.“ Schließlich habe das eigene Land bald die EU-Ratspräsidentschaft inne, und man wolle viele Europa-Initiativen starten mit Investitionen in Industrie und Klima: „Dafür brauchen wir Deutschland und eine stabile Regierung.“
Zum Modernisierungsdruck der neuen Koalition schreibt Chefredakteur Sebastian Matthes. „Deutschlands beste Hoffnung: eine Veränderungsallianz aus FDP und Grünen“, formuliert er. Die historischen Herausforderungen – Klimaschutz, Wirtschaftskriege, Überalterung – erforderten eine Zäsur im politischen System, in dem wohl erstmals eine Dreiparteienkoalition in Berlin den Ton angeben werde. Bemerkenswert, dass zunächst Grüne und Liberale über eine mögliche Koalition sprechen – und vielleicht eine gemeinsame Modernisierungserzählung formulieren.

Die Unternehmen seien in Sachen grüner Umbau längst weiter als die Politik, bräuchten aber nun Planungssicherheit. Wer immer in Zukunft regiere, so Matthes, werde um Zumutungen an die eigenen Wähler nicht herumkommen. Dies werde sich nur dann vermitteln lassen, wenn parallel eine bessere, nachhaltigere wirtschaftliche Zukunft versprochen werden könne.
Das Fazit: „Was Deutschland nun vor allem braucht, ist eine Koalition des Zumutungsoptimismus.“
Die Wahl ist vorbei, geklärt ist nichts. Wird Olaf Scholz mit einer Ampel-Koalition regieren? Oder Armin Laschet mit einem „Jamaika“-Bündnis? Wir möchten von Ihnen wissen, welche Konstellation Sie bevorzugen – und warum. Schreiben Sie uns Ihre Meinung in vier, fünf Sätzen an [email protected]. Ausgewählte Beiträge veröffentlichen wir mit Namensnennung am Donnerstag gedruckt und online.
Kaufen, kaufen, kaufen – das ist derzeit die Devise im Tech-Markt. Anwaltskanzleien und Beratungsfirmen sind mit der Abwicklung von Deals so sehr ausgelastet, dass sie neue Aufträge scheuen und Interessierten schon mal die Tür weisen. Die Zahlen zum „Friss-oder-stirb“-Boom liefert der Wirtschaftsdatenspezialist Refinitiv: Danach gab es bis September in diesem Jahr global Tech-Übernahmen im Wert von 878 Milliarden Dollar, ein Plus von 144 Prozent. 2021 dürfte die Billionen-Grenze erreicht werden.
Kartellwächter schauen genau, was Facebook, Amazon, Apple oder Google tun – von Microsoft abwärts langen die anderen der Branche umso heftiger zu, auch zu hohen Preisen. Investor Thoma Bravo etwa kaufte binnen weniger Wochen die Cybersicherheitsfirma Proofpoint für 12,3 Milliarden Dollar und Medallia für 6,4 Milliarden. Bei so viel Kaufwut erinnern wir uns an eine US-Weisheit: „Wir liegen nicht im Wettbewerb mit anderen, sondern mit unseren Irrtümern.“
Und dann ist da noch der Milliardär Taavet Hinrikus, 40, der gleich zwei Start-ups bekannt gemacht hat: den Messengerdienst Skype und den Zahlungsdienstleister Wise. Nun macht der zweitreichste Mann Estlands den Europäern Mut im Tech-Wettkampf mit den USA und China. „Das Silicon Valley hat seinen Höhepunkt überschritten“, befindet er: „Wir leben in einer Welt mit vielen Silicon Valleys, Europa ist ziemlich gut positioniert.“ Der Gründer, der bald als Wise-Chairman aufhört, hat weltweit in mehr als 100 Firmen investiert.
London sei noch immer der Primus der europäischen Tech-Szene, so Hinrikus, Risikokapitalgeber investierten im ersten Halbjahr 10,8 Milliarden Dollar in der englischen Hauptstadt, deutlich mehr als in Stockholm (5,9 Milliarden) und Berlin (4,6 Milliarden). Auch einen Tipp hält der Mann aus Tallinn parat: den Mobilitätsdienst Bolt. Der könne „eine europäische Version von Uber“ werden. Das ist zu hoffen, andererseits erinnern wir uns einer Mahnung von Joschka Fischer: „In Europa geht vieles, aber selten schnell.“
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag, es muss ja nicht immer Rekordtempo sein.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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