Morning Briefing Ein Riegel gegen Großbritannien
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
ganz Europa diskutiert in diesen Stunden über Großbritannien – nicht so sehr wegen des Brexit, sondern wegen einer Mutation des Coronavirus. Die neue Variante ist nach Londoner Behördenangaben um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bekannte Form – und völlig außer Kontrolle geraten. US-Regisseur Steven Soderbergh hätte es für seinen Pandemie-Thriller „Contagion“ nicht besser erfinden können. Seit Mitternacht hat die Bundesregierung in einer Art Ad-hoc-Notfallmaßnahme den Flugverkehr von der Insel gestoppt, zunächst bis Silvester. Reisende aus Großbritannien wurden an deutschen Flughäfen mit Zwangstests und Feldbetten empfangen.
Auch die Benelux-Staaten, Italien, Irland, Österreich, Schweiz und Frankreich sperren sich gegen Touristen aus dem Vereinigten Königreich. Der Eurotunnel ist jetzt genauso geschlossen wie das Fährterminal in Dover. Es ist, als ob die isolationistischen Träume des EU-Schreckgespensts Nigel Farage über Nacht Wirklichkeit geworden wären.

Heute will das deutsche Kabinett weiterreichende Bestimmungen für die Zeit nach dem 1. Januar und für Südafrika beschließen, wo eine ähnliche Mutation aufgetreten ist. In Deutschland ist das veränderte Virus bislang nicht gefunden worden, wohl aber in Australien, Dänemark und den Niederlanden. Die neuen Impfstoffe sollen jedenfalls auch gegen das mutierte Virus wirken, das ist die beruhigende Nachricht. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jedoch warnt: „Die deutlich schnellere Übertragbarkeit würde natürlich viel verändern und deshalb ist es wichtig, den Eintrag auf Kontinentaleuropa zu unterbinden.“ Ebenfalls für diesen Montag hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ein Notfalltreffen mit Vertretern anderer Mitgliedsstaaten einberufen. „Europa isoliert Großbritannien“, lautet unsere Überschrift zu dem Thema.
Was den Politikern in Berlin derzeit fehlt, bringt Allianz-Chef Oliver Bäte ein: die Erkenntnis, dass bei der Finanzaufsicht einiges im Argen liegt. Oder – anders gesagt – der Vertreter der Versicherungsbranche macht sich jene Gedanken, die besser Olaf Scholz oder Peter Altmaier wälzen sollten. In einem Interview mit der „Financial Times“ forderte Bäte energisch eine strikte Regulierung auf jenen Feldern, wo Technologie auf Finanz trifft – das sei seine Lehre aus dem Skandal um die Fata-Morgana-Firma Wirecard. Es könnte weitere ähnliche Fälle geben, so der CEO aus München, „wir brauchen eher Regulierung für das, was Menschen machen, als dafür, wie sie sich selbst sehen.“
Mängel sah Bäte bei der inadäquaten Besteuerung von Tech-Firmen sowie bei „dark pools“, in denen abgeschirmt von der Öffentlichkeit riesige Mengen an Wertpapieren gehandelt würden. Man wünschte, wenigstens diese Kritik würde im Bundestagswahljahr bei Union oder SPD etwas auslösen.

Wenn von der Kraft des Internets die Rede ist, von der „digitalen“ Revolution zum Beispiel im E-Commerce, so fällt sofort auf, dass damit ziemlich viel analoge Energie verbunden ist: Nehmen wir nur den Kraft-Verbrauch all der Transporter und der darin herumkutschierenden Paketboten. Die Logistikkonzerne brechen derzeit Rekord um Rekord, heißt es in unserem Report. Die Deutsche Post hatte schon Ende November so viele Pakete umgeschlagen wie im gesamten vorigen Jahr. Insgesamt dürfte bei ihr 2020 ein Plus von 15 Prozent auf 1,8 Milliarden Pakete zu registrieren sein. Das liegt sowohl an den neuen Gewohnheiten in den Komfortzonen jüngerer Generationen als auch an verhinderten Kauferlebnissen in der Coronakrise. Der Päckchen-Boom sorgt sogar für ein kleines Beschäftigungswunder, nach offiziellen Angaben oft zu Bedingungen des Tarifvertrags.
Ein mittelfristiger Effekt der Lüste an Online-Bestellungen ist das Dahinsiechen der Innenstädte. Die Unionsfraktion im Bundestag will deshalb im Kampf gegen das Ladensterben Pakete im Onlinehandel künftig besteuern. Ein „Innenstadtfonds“ solle aufgelegt werden, heißt es im Grundsatzpapier zweier CDU-Politiker, gespeist durch Steuergelder, aber auch durch die neue Online-Abgabe. Ihre Höhe solle sich „proportional nach dem Bestellwert richten“.
Die Einnahmen kämen voll dem lokalen Einzelhandel zugute – der das jedoch gar nicht will. Jedenfalls äußert sich so Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE): „Eine Paketsteuer träfe auch viele heimische Online-Händler, die korrekte und pünktliche Steuerzahler sind.“ Für den Anfang würde es vielleicht helfen, wenn US-Konzerne wie Amazon am Ort ihrer Geschäftstätigkeit überhaupt nennenswerte Steuerbeträge entrichteten.
Der Streit der Großen Koalition um bewaffnete Drohnen gewinnt weiter an Schärfe. Sogar die weitgehend verstummte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer äußert sich, vielleicht weil sie auch Verteidigungsministerin ist. Sie nennt es „unverantwortlich“ für den Schutz von Soldaten, dass die SPD nun doch nicht der Anschaffung solcher Fluggeräte zustimmen will. Außenminister Heiko Maas von der SPD, in der schwarz-roten Koalition so etwas wie das „tapfere Schneiderlein“ in Grundsatzfragen, bringt in diesem Disput ein wahres Kunststück fertig: Er klingt genauso wie Kramp-Karrenbauer und ihr Antipode, SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Der ranghohe Genosse hatte jüngst bekanntlich weiteren Drohnen-Diskussionsbedarf angemeldet und die Sache so erst mal auf Eis gelegt.
Maas übt sich im klassischen Spagat: Wenn es Material gebe, das für das Wohlergehen der Truppe wirklich erforderlich sei, sollte man es zur Verfügung stellen, verkündet er jetzt einerseits. Andererseits drechselt er aber: „Wenn Teile des Parlaments der Auffassung sind, dass das noch nicht ausdiskutiert ist, dann akzeptiere ich das.“ Konrad Adenauer bewies für solche Verbalkunst Humor: „Alle menschlichen Organe werden irgendwann müde, nur die Zunge nicht.“
Und dann ist da noch Hermann Bühlbecker, der Mann, den sie den „Aachener Printenkönig“ nennen. Weihnachtszeit ist Umsatzzeit für den Alleininhaber des 1688 gegründeten Familienunternehmens Henry Lambertz – obwohl dort derzeit gerade Florentiner und Schokokekse aus den Backstraßen kommen. Bereits vor Nikolaus hatte der letzte Lkw mit Weihnachtsgebäck das Werk verlassen. Lambertz, vor 40 Jahren ein Sanierungsfall, ist heute mit 637 Millionen Euro Umsatz größer als die Firma Bahlsen, die 2019 auf 540 Millionen kam.
Womöglich liegt es daran, dass der schillernde Bühlbecker das gemeinsame Foto mit Filmsternchen, Adel und Politprominenz zur hohen Kunst des Marketings erklärt hat. Für die Zukunft setzt der 70-Jährige ganz darauf, mit Frau Zahra und Tochter Shiraz weiter vom Beirat aus die Geschicke der Firma zu lenken. Meiner Kollegin Katrin Terpitz sagt er: „So viele Jahre habe ich gekämpft, einen Familienkonzern aufzubauen. Deshalb ist es mir eine Herzensangelegenheit, dass Lambertz in Familienhand bleibt.“ Und vermutlich, dass der Blick immer auf seine Schokoladenseite fällt.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die verkürzte Arbeitswoche, in der sich Standortfragen immer wieder auf die richtige Platzierung des Weihnachtsbaums beziehen.
Es grüßt Sie recht herzlich
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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