Morning Briefing: Lindners Warnschuss für die Koalitionspartner
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
es ist das inoffizielle Lebensmotto der Trödler und Tagträumer aller Altersstufen: „Wenn ich mich jetzt ganz doll beeile, kann ich es immer noch beinahe pünktlich schaffen.“ Der Satz stimmt erfahrungsgemäß fast nie, was man saumseligen Schulkindern nachsehen kann. Politikerinnen und Politikern eher nicht.
Umso bedenklicher, dass die offizielle Energiepolitik der Bundesregierung exakt diesem Motto zu folgen scheint. Mehr als 20 Jahre hat es gedauert, bis sich in Deutschland Windräder an Land mit einer Gesamtleistung von 56 Gigawatt drehten. Innerhalb von nur sieben Jahren müsste nun noch einmal mehr als die gleiche Menge installiert werden, damit die Bundesregierung ihr für 2030 gesetztes Windkraft-Ziel von 115 Gigawatt erreicht. Das ist kaum zu schaffen, wie eine Auswertung nahelegt, die das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) für das Handelsblatt erstellt hat.
Für das Vorhaben müssten fortan jährlich knapp neun Gigawatt installiert werden. Selbst im bisherigen Rekordjahr 2017 hat es eine so hohe Ausbaugeschwindigkeit nicht gegeben. Damals gingen 5,3 Gigawatt neu ans Netz. Ohne ausreichend Ökostrom wird Deutschland nicht nur seine Klimaziele verfehlen – es droht auch eine Lücke in der Stromversorgung.
Die Strategie der Bundesregierung läuft darauf hinaus, dass wir uns in den kommenden Jahren einfach noch mehr beeilen müssen. Mit allerlei Planungsvereinfachungen soll es gelingen, die knapp sechs neuen großen Windräder in Betrieb zu nehmen, die von nun an nötig sind – und zwar Tag für Tag bis zum Ende des Jahrzehnts.
Immerhin, auch das muss man mal anerkennen: Der Energiepolitik der Bundesregierung liegt inzwischen zumindest eine halbwegs realistische Prognose zum Stromverbrauch zugrunde. Das war unter Angela Merkel noch anders.
Was bleibt zu tun? Klar, der Ausbau der Erneuerbaren sollte so schnell wie möglich voranschreiten. Doch das allein wird nicht reichen. Zugleich müssen auch alternative Wege beschritten werden, um den Klimawandel einzudämmen. So fordert Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, im Handelsblatt-Interview: „Wir werden der Atmosphäre in großem Maßstab Kohlendioxid entziehen müssen, um es zu nutzen oder zu speichern.“

Ein weiteres Beispiel für einen solchen alternativen Weg, der seit Jahrzehnten im Gespräch ist, aber viel zu lange nicht beschritten wurde: Solarstrom für Europa dort erzeugen, wo fast immer die Sonne scheint. Ein Stromkabel von Ägypten nach Griechenland soll dies zum Ende des Jahrzehnts möglich machen. Es wäre nach heutigem Maßstab mit 950 Kilometern das längste Unterseekabel der Welt. Die aktuell längste durchs Meer verlaufende Stromleitung ist der North Sea Link zwischen Norwegen und Großbritannien mit 720 Kilometern.
Fazit: Von solchen und ähnlichen Initiativen bräuchten wir nicht eine, sondern dutzende.
Zumindest einer tut derzeit, was er kann, um Deutschland den Abschied vom fossilen Zeitalter leicht zu machen. Russlands Präsident Wladimir Putin hat gestern per Dekret den Verkauf von Öl an Länder verboten, die einen Preisdeckel auf den Rohstoff beschlossen haben. Das Dekret tritt am 1. Februar in Kraft. Der Preisdeckel für russisches Öl wurde Anfang Dezember von der EU beschlossen und liegt derzeit bei 60 US-Dollar (57 Euro) pro Barrel (159 Liter). Die G7-Staaten, Australien und Norwegen haben sich der Maßnahme angeschlossen.
Laut „Financial Times“ lässt Putins Dekret allerdings ein Hintertürchen offen: Mit „spezieller Erlaubnis“ könne Öl auch weiterhin an Abnehmer verkauft werden, die dem Preisdeckel unterliegen. Damit verschafft sich der Kreml die Möglichkeit, politisches Wohlverhalten in der Ukraine-Frage nach Gutdünken mit billigem Öl zu belohnen.
„Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann. Frage, was Du für Dein Land tun kannst“, sagte einst US-Präsident John F. Kennedy, und die gestern bekannt gewordene Personalie dürfte in die zweite Kategorie gehören: Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion und ausgebildete Diplomat Alexander Graf Lambsdorff soll nach übereinstimmenden Medienberichten im Sommer neuer Botschafter der Bundesrepublik in Moskau werden. Zuerst hatte „Pioneer“ über den Wechsel berichtet. Politische Verantwortung gibt es für Lambsdorff in Moskau reichlich, eine Vergnügungssteuer wird er auf dem Posten nicht entrichten müssen.
Bleiben wir noch einen Moment bei der Familie Lambsdorff: Alexanders Onkel, der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) präsentierte 1982 ein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, in dem er einen Paradigmenwechsel weg von der keynesianischen Nachfragepolitik hin zur marktliberalen Angebotspolitik forderte. Das Papier war eine Sollbruchstelle für die Koalition aus SPD und FDP, Helmut Kohl (CDU) wurde wenige Wochen später neuer Bundekanzler.

Seitdem schwingt immer ein bisschen politische Götterdämmerung mit, wenn ein liberaler Regierungspolitiker per Grundsatzpapier einen Kurswechsel einfordert. Der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner dürfte sich dieser historischen Reminiszenzen bewusst gewesen sein, als er in seinem Ministerium ein internes Konzept namens „Wachstumspaket 2023/2024“ in Auftrag gab, in dem es heißt: „Nach einem Jahrzehnt der Verteilungspolitik und der Nachfragestärkung müssen wir eine ordnungspolitische Trendwende zur Angebotspolitik wagen.“
Laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der das Papier vorliegt, fordern Lindners Leute unter anderem:
Reichlich Konfliktstoff, aber bevor ganz Eilige nun das nahe Ende der Ampel ausrufen eine kleine Erinnerung: Anders als damals kann die FDP nicht einfach den Koalitionspartner wechseln, Schwarz-Gelb hat im Bundestag keine Mehrheit. Lindners Papier dürfte eher als Warnschuss gedacht sein, nicht als Kampfansage. Da es sich offiziell um ein internes Ministeriumspapier handelt, kann sich Lindner jederzeit von den Positionen seiner Fachleute distanzieren.
Ich wünsche Ihnen einen Tag, an dem Sie Brandmauern höchstens gegen die Weihnachtspfunde errichten müssen.
Herzliche Grüße






Ihr
Christian Rickens
Textchef Handelsblatt





