Morning Briefing Maßnahmen mit kurzer Halbwertszeit
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
gestern wirkte Politik wie ein Stück in der Wiederholungsschleife. Lange Debatten, eine wütende Kanzlerin, zweifelnde Länderchefs, eine um Stunden verspätete Pressekonferenz. Wahrscheinlich sind es all die Widersprüche, Unterlassungen und Volten der Politik, die zu einem Ansehensverlust der deutschen Medien führen. Den jedenfalls hat Renate Köcher festgestellt, Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach.
Die Diagnose hinge mit dem Fernsehen zusammen. Dort laden Minister von früh bis spät ihre Tagesagenda ab. Wenn ein Thema über viele Monate dermaßen dominiere und Ängste stimuliere, so Köcher, „stumpft fast zwangsläufig ein Teil ab, während andere psychisch außerordentlich belastet werden.“

Über die neuen Virus-Mutationen gibt es so gut wie keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Nur die Ahnung, hier besser vorsichtig zu sein – weshalb das Land den Lockdown bis zum 14. Februar verlängert, FFP2- oder OP-Masken obligatorisch macht, Homeoffice vorschreibt sowie Schulen und Kitas „grundsätzlich“ geschlossen hält.
„Es ist hart, was wir den Menschen zumuten müssen“, sagt Kanzlerin Angela Merkel wie bei jeder Lockdown-Pressekonferenz. Gegenüber den Ministerpräsidenten soll sie sich gereizt verteidigt haben: „Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle.“ So resolut Merkel auftritt, so sicher ist die kurze Halbwertszeit der beschlossenen Maßnahmen. So kündigte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bereits an, Grundschulen schon ab 1. Februar schrittweise wieder zu öffnen.
Vieles spricht dafür, dass dem Kanzleramt im Expertenkreis am Vorabend vor allem jene Wissenschaftler genehm waren, die für einen harten Lockdown plädieren. Die SPD-Länder Bremen und Niedersachsen hatten dagegen, so ist zu hören, mit Klaus Stöhr und Hendrik Streeck Virologen angesprochen, die differenzierter argumentieren. Sie passten nicht als Vorgruppe zu Merkels Hauptakt. Man bestellt sich, was man hören will.
Auch ein Ökonom fehlte in der Runde. Der hätte erklären können, dass bedingt durch den zweiten Lockdown die Wirtschaftsleistung 2021 um 1,8 Prozent oder 60 Milliarden Euro geringer ausfällt – Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, stellt diese Rechnung öffentlich auf. Friseurgeschäfte, Läden und Gaststätten stehen vor dem Ruin. Und das nächste ökonomische Problem droht. Am Donnerstag will Merkel im Europäischen Rat darauf drängen, dass Nachbarländer wie Tschechien oder Luxemburg eine Allgemeinverfügung über ausreichende Testungen erlassen. Andernfalls, so die Drohung, werde man die Grenzen schließen.
Wenn Theater, Kinos, Restaurants, Konzerthallen und Sportarenen geschlossen sind, ja was macht da der Mensch? Er streamt sich durch die Lebenszeit. Corona-Großprofiteur ist Netflix, die Mutter aller Streamingdienste. Das von Reed Hastings geleitete US-Unternehmen durchbrach 2020 die Schallmauer von global 200 Millionen Abonnenten. Die Börsianer schätzen die 203,7 Millionen Nutzer genauso wie den starken Umsatz im 4. Quartal von 6,64 Milliarden Dollar, während der Gewinn im Vorjahresvergleich leicht auf 542 Millionen sank.
Ältere Konkurrenten wie Disney, Warner Media oder Discovery hätten begonnen, „auf neue Weise mit uns zu konkurrieren“, schreibt Netflix den Aktionären – das sei der Grund, weshalb man schnell die ursprüngliche Inhaltsbibliothek „um eine breite Palette von Genres aus vielen Nationen“ erweitert habe. Der Kurs der Netflix-Aktie stieg gestern nach Handelsschluss um 11,3 Prozent. Wirtschaft läuft hier nach einer Abba-Melodie: „The Winner Takes It All.“

Einen kühnen Europa-Plan haben Altkanzler Gerhard Schröder und Historiker Gregor Schöllgen zu Papier gebracht. Wir bringen in der aktuellen Ausgabe einen Vorabdruck aus ihrem neuen Buch „Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“. Für so etwas waren bisher Henry Kissinger und Joschka Fischer zuständig, vielleicht legen Schröder-Schöllgen deshalb umso furioser los:
- „Will Europa eine Zukunft haben, muss es mehr sein als ein von stationären Grenzkontrollen weitgehend befreiter Binnenmarkt mit einer partiell geltenden gemeinsamen Währung. Gefordert ist jener revolutionäre Elan, ohne den die Gründer vor 70 Jahren das damals moderne Europa nie und nimmer auf die Beine gestellt hätten.“
- „Die Kredit- und Schuldenberge zeigen, dass es mit Reparaturarbeiten innerhalb des bestehenden Systems nicht mehr getan ist. Ohne Vergemeinschaftung der Schulden, die nur in einer Neuformulierung des europäischen Vertragswerks vorstellbar ist, lässt sich dieses Dauerproblem nicht lösen.“
- „Europa hat keine Wahl. Wenn es nicht unwiderruflich scheitern will, müssen einige Staaten, darunter zwingend die Wirtschaftsmacht Deutschland und die Nuklearmacht Frankreich, zur Tat schreiten. Wollen die Initiatoren eine Politische Union, die diesen Namen verdient, müssen sie ohne Wenn und Aber auf einen nennenswerten Teil ihrer nationalstaatlichen Souveränität verzichten.“
Merke: Den Mut zu solchen Statements kann wohl eher ein früherer als ein gegenwärtiger Regierungschef aufbringen.
In Italien läuft es gut für Ministerpräsident Giuseppe Conte und schlecht für seinen ehemaligen Regierungspartner Matteo Renzi von Italia Viva. Nach dem 321:259-Abstimmungssieg vom Montag im Parlament gewann Conte gestern auch die Vertrauensfrage im Senat. Von der Bildung einer neuen Regierung oder gar Neuwahlen wird mitten in der Coronakrise dankend abgesehen. Conte hatte gewarnt, dass Italiens Politik „Gefahr läuft, den Kontakt zur Realität zu verlieren.“ Das gilt vor allem für den eitlen Ex-Ministerpräsidenten Renzi, der offenbar von der schnellen Rückkehr zur Macht träumt. Frei nach dem israelischen Politiker David Ben-Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

Und dann ist da noch Charles Koch, Familienunternehmer in den USA, der zusammen mit seinem 2019 verstorbenen Bruder David jahrzehntelang rechtskonservative Kreise mit viel Geld unterstützt hat. Unter anderem spendete er 100 Millionen Dollar für die „Tea-Party“-Bewegung und förderte damit indirekt den Aufstieg Donald Trumps. Jetzt bereut Koch seine politischen Manöver. „Du meine Güte, haben wir das verbockt“, schreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Believe in People“, und ergänzt: „Was für ein Desaster.“ Nach den Ausschreitungen im Kapitol, von Trump provoziert, will er nicht länger Politiker finanzieren, die die Rechtmäßigkeit der Präsidentenwahl 2020 anzweifeln.
Sein Wort hat Gewicht, das sich in Dollar-Beträgen messen lässt: Koch ist mit seinem 45-Milliarden-Vermögen einer der reichsten Amerikaner. Mit Joe Biden, der heute ins Amt eingeführt wird, will der reuige Spender Kontakt aufnehmen, „um an möglichst vielen Themen gemeinsam zu arbeiten.“ Von Cicero wissen wir: „Keine Festung ist so stark, dass Geld sie nicht einnehmen kann.“
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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Ich meine heute morgen gehört zu haben, dass Homeoffice Plficht ist. Das ist doch laut Beschluss überhaupt nicht zutreffend. Das Angebot ist nun verpflichtend, nicht Homeoffice ansich.
Energiepolitk, Wirtschafts- und Finanzpolitik, Rußlandbeziehungen, Flüchtlingspolitik, Europapolitik...
Warum soll es dann ausgerechnet bei einer Pandemie funktionieren?!
Deutschland braucht schleunigst ein anderes Politik-/ Parteiensystem, weg von diesen Partei-Listensystem!
Mehr Schweiz, mehr Kanada und endlich Sachverstand..., allein mir fehlt der Glaube daran.
"Sie passten nicht als Vorgruppe zu Merkels Hauptakt. Man bestellt sich, was man hören will."
Interessant! Also exakt die Vorgehensweise, die man dem querdenkenden Komplex vorwirft.
Warum überrascht das nicht?