Morning Briefing Plus Beispielloses Durcheinander in der Union – Junge Tech-Firmen erleben einen Schub
Guten Tag liebe Leserinnen und Leser,
es herrscht ein beispielloses Durcheinander in der Union. Jetzt schon ist klar, dass am Ende mit Armin Laschet und Markus Söder zwei schwer beschädigte Kandidaten übrig bleiben werden – und eine Union, die Monate brauchen wird, um die Risse zu kitten. Dieser Machtkampf wird bei CDU und CSU nur Verlierer produzieren. Gewinner werden die Grünen sein, die am Montag ihren Vorschlag für die Spitzenkandidatur machen wollen. Und zwar mit jener Geschlossenheit und Funkdisziplin, die einst Markenzeichen der CDU war.
Statt sich in Machtspielen zu verheddern gäbe es für die Union längst Wichtigeres zu tun. Die große Schwäche von Angela Merkel war, dass sie es nie vermocht hat, eine Idee für die Zukunft dieses Landes zu entwickeln. Das fiel nicht auf, weil der lange Wirtschaftsboom fast alle Schwächen überdeckte: die digitalen Defizite der Verwaltung, das von der Gegenwart überforderte Bildungssystem – und die Tatsache, dass Deutschland in fast allen standortrelevanten Rankings an Boden verliert.
Doch in der Coronakrise sind diese Defizite im Alltag vieler Menschen angekommen. Sie haben bei der Bekämpfung der Pandemie gemerkt, dass der deutsche Staat zwar immer noch Weltklasse ist im Verbote Aussprechen und Geldausgeben, beim Organisieren und Gestalten von Lösungen aber nur noch in der Regionalliga spielt. Auf diese Schwäche muss die Union dringend Antworten finden.

Sie braucht zudem ein paar gute Ideen für wachstumspolitische Reformen. Denn die Probleme, mit denen die neuen Koalitionäre im Herbst konfrontiert sein werden, sind gewaltig. „Viele der sozialpolitischen Leistungsverbesserungen der beiden zurückliegenden Legislaturperioden dürften sich als fiskalische Zeitbomben erweisen“, analysiert Handelsblatt Chefökonom Bert Rürup in seiner aktuellen Kolumne. Die Rechnung für Grundrente, Mütterrente, Gesundheits- und Pflegereformen, all die sozialpolitischen Wahlgeschenke der scheidenden Regierung, werden der künftigen Bundesregierung zugestellt.
Diejenigen, die sich darum bewerben, die neue Regierung anzuführen, müssen sich zu diesen Problemen verhalten.
Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
1. Eine andere Dauerbaustelle der Politik verfolgt mich bereits mein halbes journalistisches Leben. Während Kern- und Kohlekraftwerke vom Netz gehen und immer neue Ziele für E-Mobilität und grünen Wasserstoff formuliert werden, weigert sich die Bundesregierung, die großen Visionen mit den konkreten Zahlen in Deckung zu bringen. Dadurch entsteht eine gefährliche Stromlücke, wie ein Team aus Handelsblatt-Energiereportern für unseren großen Wochenend-Report recherchiert hat.
Der Artikel ist ein Realitätscheck einer Energiepolitik, die bisweilen die Bodenhaftung verloren hat. Und er hat schon am Tag seines Erscheinens so viele Leser-Zuschriften provoziert, wie nur wenige andere in den vergangenen Monaten. Viele unserer Leserinnen und Leser gehen dabei noch härter mit der Energiepolitik ins Gericht als unsere Titel-Autoren.

2. Der Wirecard-Untersuchungsausschuss geht nächste Woche in die entscheidende Phase. Im Bundestag müssen sich unter anderem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, Finanzminister Olaf Scholz und Kanzlerin Angela Merkel erklären. Als Einstimmung empfehle ich Ihnen die Recherchen meines Kollegen Felix Holtermann, der vergangene Woche über Chatnachrichten des ehemaligen Wirecard-Vorstands Jan Marsalek berichtet hat.
Marsalek ist einer der mutmaßlichen Drahtzieher des Wirecard-Betrugs und tauschte sich noch nach seiner Flucht mit einem der letzten verbliebenen Vertrauten aus. Die Nachrichten geben einen Einblick in sein Schattenreich – und legen offen, welche Pläne der flüchtige Manager hatte. Außerdem lesenswert: das erste Interview mit dem letzten Aufsichtsratschef von Wirecard, der im Handelsblatt schwere Vorwürfe gegen die Wirtschaftsprüfer von EY erhebt. Mit Felix Holtermann habe ich diese Woche in meinem Podcast über seine Recherchen und das System Wirecard gesprochen.
3. Wenn man die vielen Berichte im Handelsblatt über Finanzierungsrunden junger deutscher Tech-Firmen verfolgt hat, dann ahnte man es schon. Nun ist es Gewissheit: In der Coronakrise haben junge Tech-Firmen in Deutschland einen regelrechten Schub erlebt. 2020 sind in Deutschland 13 Prozent mehr Tech-Start-ups entstanden als im Jahr zuvor, schreibt meine Kollegin Larissa Holzki. Vor allem in den Bereichen E-Commerce, Lebensmittel, Bildung und Gaming sind die Zahlen gestiegen. Da geht was im Gründerland Deutschland.
4. Lange haben Europäer mit Bewunderung nach Asien geschaut, bisweilen auch mit Neid, weil viele Länder der Region vergleichsweise gut durch die Pandemie kamen – einige galten gar als Vorbild. Nun erlebt Asien eine neue Corona-Welle. Unsere Korrespondenten analysieren, wie es dazu kommen konnte.
5. Fast fünf Jahre habe ich in München gelebt. Und schon damals hat mich fasziniert, wie konsequent die Stadt daran arbeitet, Forschung, Investoren, Gründer und die traditionelle Wirtschaft zusammenzubringen. Deshalb ist München längst so etwas wie das europäische Silicon Valley geworden und baut diese Rolle mit viel Geschick immer weiter aus, wie der informative und dazu noch sehr vergnügliche Report unseres Münchner Büros zeigt.

6. Kaum eine Geschichte wurde im digitalen Angebot des Handelsblatts in den vergangenen Tagen so intensiv gelesen wie diese: Laut Recherchen des Handelsblatts landen tonnenweise Batterien von Elektroautos vorzeitig im Müll, viel früher als eigentlich erwartet. Teil des Problems, das ergaben die Recherchen, sind die Autohersteller selbst.
7. Es ist nichts weniger als der Kampf um die Fabrik der Zukunft. Auf der Hannover Messe blies Amazon mit seinem Clouddienst AWS zum Angriff: Künftig will der Tech-Riese aus dem Silicon Valley seine Kunden aus dem produzierenden Gewerbe beim Einstieg in die Industrie 4.0 unterstützen. Zwar kennen sich Amazon und Microsoft weniger mit industriellen Prozessen aus als Bosch und Siemens. Dafür weiß die Softwarebranche mit großen Datenmengen umzugehen – und hier liegt die Gefahr, wie eine BCG-Auswertung zeigt. Demnach haben bereits 84 Prozent der Unternehmen weltweit mindestens eine Industrie-4.0-Technologie in ihrer Fertigung implementiert. Doch nur 16 Prozent konnten wirklich einen Nutzen aus der Digitalisierung ziehen, wofür Experten vor allem mangelnde Kenntnisse im Umgang mit Daten verantwortlich machen.

8. Ausführliche Interviews mit Unternehmern und CEOs gehören zum Markenkern des Handelsblatts. Ein Gespräch ist mir diese Woche besonders in Erinnerung geblieben. Das Interview mit Albert Bourla, dem Chef des US-Pharmakonzerns Pfizer, der zusammen mit Biontech einen der wirksamsten Covid-Impfstoffe produziert. Er machte im Handelsblatt-Interview die bemerkenswerte Aussage: „Sie müssen wissen, dass wir anfangs keinen Vertrag hatten. Ich habe mit Ugur Sahin (Gründer von Biontech, Anm. d Red.) telefoniert. Wir haben gesprochen und uns gesagt: Wenn wir mit der Arbeit warten, bis wir einen Vertrag haben, verlieren wir Zeit. Und das sind Multi-Milliarden-Dollar-Verträge. Wir haben einen Handschlag per Zoom gemacht und angefangen zu arbeiten. Nach drei Wochen haben wir beide eine Absichtserklärung unterschrieben – einen zwei- oder dreiseitigen Brief anstatt eines tausendseitigen Vertrags wie üblich. Sie werden schockiert sein, wenn Sie hören, wann wir den endgültigen Vertrag unterzeichnet haben: im Januar 2021. Alles war bereits erledigt.“ In diesen Aussagen steckt so viel von dem, was an anderer Stelle der Pandemie-Bekämpfung fehlt: Vertrauen, der Wille zur Veränderung – und Unternehmergeist.
9. Zum Schluss noch ein Thema, das mir ganz besonders am Herzen liegt: Seit vielen Jahren ist klar, wie sehr die digitale Revolution nicht nur das Leben eines jeden Einzelnen, sondern auch den Arbeitsmarkt verändern wird. Und seit Jahren versprechen Politiker aus allen Parteien, dieses Problem mit Weiterbildung zu lösen. Doch genau das funktioniert nicht. Vor allem in Berufen, die sehr stark vom Strukturwandel getroffen werden, ist die Weiterbildungsquote besonders schwach, hat das Handelsblatt Research Institute in einer neuen Studie festgestellt.
Die Kollegen haben ein Bündel von Vorschlägen entwickelt, um das zu ändern: Ein Bundesweiterbildungsgesetz gehört genauso dazu wie eine groß angelegte Initiative für die Weiterbildung von Geringqualifizierten. Vor allem aber eine bessere Vernetzung: So sollten Berufsschulen und Hochschulen weit mehr auch für Weiterbildung eingesetzt werden. Durch den Strukturwandel steht unglaublich viel auf dem Spiel. Schon heute steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen, während Unternehmen auf der anderen Seite nicht ausreichend Fachkräfte finden.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende.
Herzliche Grüße
Ihr
Sebastian Matthes
Chefredakteur Handelsblatt
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