Morning Briefing Sieben Lehren aus dem Corona-Crash
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
Corona ist eine fürchterliche Geißel, weltweit sind nach der offiziellen Statistik jetzt mehr als eine Million Menschen infiziert. Wirtschaftlich kann man, mit Blick auf den schwächelnden US-Kapitalismus, sieben Lehren ziehen.

1. Der trickreiche Rückkauf eigener Aktien durch Konzerne hat sich für ein neues Verbotsgesetz qualifiziert. Bizarr, mit welch simpler Zaubernummer Manager das geneigte Publikum begeistert hatten: Man kaufte aus den Gewinnen einfach eigene Aktien. Das verschönerte die Kategorie „Gewinn pro Aktie“ wie Blattgold und trieb Kurse. Zwischen 2009 und 2019 haben US-Unternehmen sage und schreibe 4,3 Billionen Dollar für solche Deals in eigener Sache ausgegeben. So viel Geld, wie die Notenbank nun mit Hilfe aus Washington an Hilfskrediten offeriert.
2. Dauerhaft niedrig gehaltene Zinsen führen nicht zur Vollbeschäftigung, sondern zu „silly money“. Fast jede dritte US-Firma verschuldete sich für das Populärmittel „Aktienrückkäufe“ sogar, Fremdkapital kostete ja nichts. So bewirken Niedrigzinsen mikroökonomisch Verbindlichkeiten und makroökonomisch eine Immunschwäche. Corona kann man auch als Signal zur Einhegung eines wuchernden Finanzmarkts verstehen, der inzwischen vier Mal so groß ist wie die Realwirtschaft der Welt.
3. Eine gute nationale Infrastruktur zählt so viel wie eine gute Konzernbilanz. Privater Reichtum und öffentliche Armut, das war schon bei John Kenneth Galbraith keine Glücksformel. Im globalen Wettbewerb fallen jene Nationen zurück, die zum Beispiel nicht einmal Material und Personal organisieren können, um Covid-19 wirksam zu bekämpfen. Im Central Park von New York stehen Feldkrankenhäuser, Russland liefert Beatmungsgeräte. Kollektive Güter wie „Gesundheit“ dürfen, anders als in der Vergangenheit, keine Mauerblümchen der Politik sein.
4. Standortpolitischer Narzissmus gefährdet Wettbewerbsfähigkeit. Die wochenlange Ignoranz der US-Regierung gegenüber der Virengefahr entspringt jener verhängnisvollen Selbstbeschäftigung, welche die „America-First“-Handelspolitik seit mehr als drei Jahren gekennzeichnet und Wohlstandsprobleme erst geschaffen hat.
5. Ein schütteres Sozialsystem verschärft jede Krise. Die aktuell hohe Zahl von 6,6 Millionen arbeitslos gemeldeten Amerikanern ist Reflex auf ein fehlendes Sozialsystem, das den Einzelnen allein lässt. Eine Gesellschaft braucht aber Airbags wie Kurzarbeitergeld oder Lohnfortzahlung bei Krankheit – als Daseinsvorsorge, die in den USA jetzt kurzzeitig herbeiimprovisiert wird.

6. Wachsende Ungleichheiten zwischen Arm und Reich sind das Krebsgeschwür moderner Gesellschaften. Das reichste Prozent der US-Bevölkerung hält mittlerweile 22 Prozent am Gesamteinkommen und mehr als die Hälfte aller Aktien – was die Herausforderung Corona in dieser Schicht als wirtschaftliches, nicht als medizinisches Problem erscheinen lässt. Vor dem Virus geht man am Strand der Hamptons oder auf einer Superjacht in der Karibik in Quarantäne, wie jüngst Film- und Musikproduzent David Geffen. In bestimmten Vierteln von New York, Detroit oder Chicago jedoch steigt das Lebensrisiko.
7. Exzellenz in der Wirtschaft und in der Politik bedingen einander. Dass das Weiße Haus neuerdings mit 240.000 Corona-Toten rechnet, hat seine Ursache eben auch im wochenlangen Herunterspielen des „China-Virus“ durch just den amerikanischen Präsidenten. Gute Politik ist Vorleistung für Wachstum, schlechte Politik ein negativer Rezessions-Multiplikator. In unserem großen Wochenendreport („Die verwundete Nation“) inspizieren wir das amerikanische System im Detail. Es erscheint irgendwie wie ein alter Cadillac, der schöne Heckflossen hat, aber nicht mehr richtig beschleunigt.
Zudem haben wir in unserer aktuellen Ausgabe berechnet, dass die mehr als 50.000 weltweit börsennotierten Unternehmen innerhalb von sechs Wochen rund 19,4 Billionen Euro an Wert verloren haben (minus 24 Prozent). Und wir schildern, wie die EU nach heftigem Streit in der Coronakrise helfen will: mit einem Dreisatz aus garantierten Firmenkrediten der Europäischen Investitionsbank, vorsorglichen Darlehen des Rettungsfonds ESM sowie einem Kurzarbeitergeld bei der EU-Kommission. Brüsseler Rettungspolitik ist nie so einfach, wie es sich der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Interview mit meinen Kollegen vorstellt: Er plädiert für einen „europäischen Fonds zur Erholung der Industrie“, der zur Selbstfinanzierung Anleihen ausgibt. Diese Debatte wird Deutschland nicht mehr los.

Und dann ist da noch die amerikanische Video-App Zoom, die es weltweit innerhalb von nur zwei Monaten vom Nobody der Digitalwirtschaft zum „Talk of the Town“ gebracht hat. Die vereinte Angestelltenschaft sitzt nun im virengeschützten Homeoffice und konferiert dank der Technik des börsennotierten Unternehmens aus San Jose, Kalifornien, miteinander. Dessen Aktienkurs steigerte sich genauso wie die Kritik wegen mangelhaften Datenschutzes. So hat Elon Musk nun den Mitarbeitern des Raumfahrt-Spezialisten SpaceX die Verwendung von Zoom verboten. Auch die Nasa hat Angst vor „Zoom-Bombing“, wie das Eindringen fremder Personen in vertrauliche Internetsitzungen genannt wird. In Deutschland jedenfalls machen wir erst einmal weiter mit der Erfindung von Eric Yuan, einem gebürtigen Chinesen mit US-Pass.
Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende im trauten Kreis. Im Übrigen besprechen wir für Sie auf der Literaturseite zehn Bücher zum Schmökern gegen den Lagerkoller, von Beethoven über „Ich bin Circe“ bis zu „Marzahn, mon amour“. Die Prosa der „Platte“, das hat doch etwas.
Es grüßt Sie herzlich wie immer Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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