Weekend-Briefing Ein Kleinbus von Apple und Lagardes geschickter Plan: Der Wochenrückblick des Chefredakteurs
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich vor, Deutschland wäre in einer historischen Situation: Nach 16 Jahren geht eine Kanzlerin von Bord, die das Land durch viele Krisen gesteuert hat. Stellen Sie sich nun vor, dass dieses Land gleichzeitig vor großen Umbrüchen steht: Die industriell geprägte Wirtschaft soll in wenigen Jahren klimaneutral werden und gleichzeitig den digitalen Wandel stemmen.
In Ländern wie den USA und China wachsen mächtige Wettbewerber für die Wirtschaft dieses Landes heran. Und als wäre das noch nicht genug, steht diesem Land eine nie dagewesene Alterungswelle bevor, die Sozialsysteme und Arbeitsmarkt einem Stresstest aussetzen wird.
Deutschland ist in dieser Situation, nur wollen die Wahlkämpfer nicht wirklich darüber sprechen. Das Land erlebt deshalb keinen Wettstreit von Konzepten, Ideen und Zukunftsplänen, sondern von Diskussionen über Schnitzer in Lebensläufen, Sachbücher, die keine Sachbücher sein sollen, und andere Belanglosigkeiten.
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Die Parteien vermeiden Festlegungen, die sie angreifbar machen, sie vermeiden jegliche Kontroversen. Ihre Vertreter warnen vor einem schmutzigen Wahlkampf als seien inhaltliche Debatten die Gesellschaft zersetzende Auseinandersetzungen. Dafür gibt es nun einen „Wahlkampf Langeweile“. Über das „Wahlkoma“ wird bei Twitter gespottet.
Das ist gefährlich. In den nächsten vier Jahren muss dieses Land zahlreiche wichtige Richtungsentscheidungen treffen, und über die sollte im Wahlkampf gestritten werden. Wie die Schulden der Corona-Krise abgezahlt werden sollen während das Rentensystem an seine Belastungsgrenze kommt, wäre so eine Frage. Oder wie der grüne Umbau der Wirtschaft konkret ablaufen soll, ohne die Industrie zu ruinieren.

Die drei Kanzlerkandidaten Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz.
Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
1. Nächste Woche Mittwoch werden wir nach Brüssel schauen. Dann wird die EU-Kommission die Details ihres “Fit for 55”-Pakets vorstellen. Bis ins kleinste Detail soll damit der grüne Umbau geregelt werden. Tief und massiv greift die Kommission damit in alle Bereiche des Lebens ein, so viel ist jetzt schon klar: Acht Gesetze zum Klimaschutz sollen verschärft werden, vier neue kommen hinzu. Meine Brüsseler Kollegen haben dazu jede Menge vertraulicher Dokumente in die Finger bekommen. Die Pläne werfen allerhand existenzielle Fragen auf, international tätige Unternehmen fürchten um ihre Wettbewerbsfähigkeit, weil ihre Produkte bei steigenden CO2-Preisen teurer werden. Europa kann aber nur zum Vorreiter beim Klimaschutz werden, wenn die Industrie überlebt. Ansonsten fehlt der Wirtschaft die Kraft, den grünen Umbau zu finanzieren.
2. Die Wahlprogramme der Parteien sind voll mit digitalem Aufbruchsgeplänkel. Die meisten Politiker übersehen allerdings den wichtigsten Punkt: Die Digitalisierung beginnt nicht in den Köpfen, sondern unter der Erde. Ohne schnelle Datenleitungen gibt es keinen digitalen Wandel. Deutschland steht in der Rangliste der OECD bei der Nutzung von Glasfaser auf Platz 34 von 38. Unser großer Titelreport analysiert die Gründe – und zeigt, wie sich das Problem lösen ließe.
3. Die dramatischen Engpässe im internationalen Frachtverkehr waren für viele Menschen bislang eher theoretisch. Nun kommt das Thema bei Verbrauchern an: Händler wie Kik und Rossmann warnen vor steigenden Preisen und leeren Regalen. Bert Rürup, Chef des Handelsblatt Research Institute, schließt nicht aus, dass die Inflationsrate in Deutschland unter anderem deshalb vorübergehend auf vier Prozent oder mehr steigen könnte.
4. China führt einen Feldzug gegen seine erfolgreichen Tech-Unternehmen. Diese Woche hat das Regime in Peking ein Exempel an dem Taxidienstleister Didi statuiert. Kurz nach dessen Börsengang in den USA eröffnete die chinesische Cyberaufsicht ein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen. Didi wird vorgeworfen, illegal Nutzerdaten zu sammeln und damit die nationale Sicherheit zu gefährden. Die Staatsführung macht mit dem Schlag gegen Didi klar: Niemand außer der Kommunistischen Partei soll auf Daten aus China zugreifen können. Und: Chinas Tech-Champions haben gefälligst im Inland an die Börse zu gehen.
5. Eben noch waren Flugtaxis eine Träumerei. Für viele Airlines wird das Thema nun real: Sie gehen Partnerschaften mit den Herstellern der elektrischen Senkrechtstarter ein, um Passagiere künftig in der Innenstadt abzuholen. Jeder, der schon einmal versucht hat, im Berufsverkehr von Manhattan zum Flughafen Newark zu kommen, versteht den Reiz der Idee. Die Flugtaxi-Pläne der Airlines sind übrigens schon überraschend konkret.

Für viele Airlines wird das Thema Flugtaxis real.
6. Das von Handelsblatt-Abonnenten am intensivsten gelesene Thema drehte sich diese Woche übrigens um Busse: Unser Tech-Team hat gehört, dass das Apple Car womöglich kein Auto, sondern ein Kleinbus werden könnte. Und das hat viel mit einem deutschen Ingenieur zu tun, der in diesen Tagen bei Apple anfängt.
7. Christine Lagarde ist ein Phänomen. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) unterzieht die Strategie der Euro-Hüter der gründlichsten Revision seit Gründung der Währungsunion, weicht nebenbei das Inflationsziel von unter zwei Prozent auf, macht die EZB zur einer Agentur der EU-Klimapolitik – und stößt damit in ihrer Behörde wie auch in der Öffentlichkeit kaum auf Widerstand. Über die am Donnerstag verkündete Strategierevision der EZB kann man inhaltlich sehr geteilter Meinung sein. Das Geschick, mit dem Lagarde ihre Agenda durchsetzt, kann man nur bewundern.

Die EZB-Chefin stößt in ihrer Behörde offenbar kaum auf Widerstand.
8. Für die einen ist die Diskussion ein reines Sommerloch-Thema. Für die anderen geht es um ein existenzielles Freiheitsrecht: Das Tempolimit. Noch vor einigen Jahren hatte sich die Autoindustrie verbissen dagegen gewehrt. Mittlerweile räumen die Autobosse still und heimlich ihre Position, wie das Handelsblatt-Autoteam schreibt. Sie wissen: Bei Tempo 180 ist die Reichweite ihrer E-Modelle noch kleiner.
9. Falls Sie sich demnächst auch in den Urlaub verabschieden, dann sollten Sie noch einen Blick auf den Text meines Kollegen Ulf Sommer werfen. Er beschreibt wie das urlaubssichere Depot aussieht. Aber auch für die Zeit nach dem Urlaub gibt es viele Hinweise, wie man böse Überraschungen verhindert.
Ihnen ein schönes Wochenende.
Herzlichst,
Ihr
Sebastian Matthes
Chefredakteur Handelsblatt
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