Weekend-Briefing Kapitulation des Westens, Chinas Chance, Panik in der CDU: Der Wochenrückblick des Chefredakteurs
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
der Fall Kabuls ist auch eine Kapitulation des Westens. Und die zeigte sich diese Woche in unglaublichen Szenen: Ein riesiger US-Militärjet bahnt sich sich den Weg durch Menschenmassen. Männer reichen ihre Kinder über den Stacheldraht am Flughafen, damit US-Soldaten sie in Sicherheit bringen, andere Menschen klammern sich an Flugzeugen fest und stürzen kurz nach dem Start als schwarze Schatten vom Himmel in den Tod.
Vergangene Woche sind Bilder entstanden, die lange bleiben werden. Bilder wie dieses:

Neben den Bildern stehen am Ende dieser Woche viele Fragen: Wie kann es sein, dass weder die Experten bei der Nato, im Verteidigungsministerium oder in den Nachrichtendiensten den schnellen Triumph der Taliban vorhergesehen haben? Oder gab es diese Warnungen, sie wurden aber nicht gehört? Warum ist niemandem aufgefallen, dass die afghanische Armee offenbar weder die Fähigkeiten noch den Willen hat, sich gegen die Taliban zu stellen? Und weshalb lief die Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und afghanischen Ortskräften so schleppend an? Vor allem aber: Wie geht es jetzt weiter?
Der Fall Kabuls wird die Welt ähnlich stark verändern wie vor 20 Jahren die Anschläge auf das World Trade Center, argumentiert das Autorenteam unseres Wochenend-Reports. Das weiß vor allem China für sich zu nutzen, wie unsere Korrespondenten berichten. Und Peking – so viel ist klar – will in Afghanistan nicht nur seinen Rohstoffhunger stillen.
China baut seinen Einfluss in der Region immer weiter aus. Mit dem Sieg der Taliban habe sich auch das Thema westlicher Werteexport erledigt, analysiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview mit dem Handelsblatt.
Die EU hatte zu alledem wenig beizutragen. Das lange Schweigen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen könnte lauter nicht sein, kommentiert mein Kollege Jens Münchrath. Die Afghanistan-Krise sei „eine Sache der Nato“, hieß es bei der Kommission. Lehren aus der Krise würden später gezogen. Es ist ein Akt der Selbstverzwergung. Eine „geopolitische Kommission“ hatte von der Leyen versprochen. Fazit: In ihrer ersten geopolitischen Bewährungsprobe ist diese Kommission still gescheitert.
Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
1. Rund 40 Tage vor der Bundestagswahl ist die Union in Umfragen im freien Fall. Armin Laschet stolpert von einer Panne in die nächste und muss sich mit ungebetenen Ratschlägen seines Kontrahenten Markus Söder herumschlagen. Während SPD-Chefin Saskia Esken die Schlummertaste gedrückt hält und Kanzlerkandidat Olaf Scholz freie Hand lässt, macht der bayerische Ministerpräsident das Gegenteil: „Wenn Söder weiterhin jeden zweiten Tag einen Weckruf startet, landet die Union noch in der Opposition“, kommentiert Handelsblatt-Politikchef Thomas Sigmund. Wegen der miesen Umfragewerte herrschte in der Union Ende der Woche Panik. Die Düsseldorfer Bundestagsabgeordnete Sylvia Pantel legte Laschet sogar den Rückzug nahe, sollten die Umfragewerte nicht besser werden.
2. Das Handelsblatt-Bankenteam sorgte vergangene Woche mit einer exklusiven Recherche für Aufsehen: Wie mehrere Insider bestätigen, erwägt die Finanzaufsicht BaFin eine Beschränkung des Neugeschäfts der bekanntesten Smartphone-Bank N26. Die Behörde sei verstimmt darüber, dass N26 Mängel in der Bekämpfung von Geldwäsche und anderen illegalen Geschäften nicht behoben habe. Das Unternehmen reagierte bereits einen Tag nach dem Handelsblatt-Bericht und bestellte einen neuen Risikovorstand. Dennoch birgt die Recherche Sprengstoff – N26 steht kurz vor dem Abschluss einer neuen Finanzierungsrunde.
3. Es war eine historische Rekordjagd, die Anleger zuletzt an den Börsen erlebten. Doch damit dürfte es erst einmal vorbei sein. Der Chef des Vermögensverwalters DJE Kapital, Jens Ehrhardt, glaubt, dass die Dax-Hausse an Tempo verlieren wird. Den Leitindex, der gerade erst die 16.000 Punkte überschritten hat, sieht er am Jahresende kaum höher als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Chancen sieht Ehrhardt, wie er im Interview sagte, in Industrieländern. Und er empfiehlt: „Europa nicht mehr so stark untergewichten, wie es viele Jahre sinnvoll war.“
4. Kurz nachdem Gerd Chrzanowski die Leitung der Schwarz-Gruppe in Aussicht hatte, wurde klar, in welche Richtung er das Handelsunternehmen führen will: Chrzanowski will neue Geschäftsmodelle jenseits des klassischen Discounthandels unter den Marken Lidl und Kaufland entwickeln, analysiert Handelsreporter Florian Kolf in einem lesenswerten Report. Dabei geht es um nichts weniger als die Neuerfindung des Discounters.

5. Während Industrieländer im Kampf gegen die Coronakrise in den vergangenen Monaten Fortschritte gemacht haben, herrscht in vielen Schwellenländern Agonie, wie Handelsblatt-Korrespondenten aus Südamerika, Afrika und Asien berichten. Es ist ein neuer Graben, der sich in der Weltwirtschaft auftut zwischen den einstigen Wachstumsstars einerseits, und den klassischen Industriestaaten plus China andererseits. Diese Kluft wird immer mehr zum Risiko für die Weltwirtschaft.
6. In der Klimapolitik ist Wunschdenken derzeit die Hauptwärmequelle. Das zeigt ein bislang unveröffentlichter Bericht des Bundesumweltministeriums, der meinen Kollegen Daniel Delhaes und Klaus Stratmann bereits vorliegt. Für die Treibhausgasemissionen in Deutschland ergibt sich laut Bericht „im Zeitraum 1990 bis 2030 eine Minderung um 49 Prozent, und bis 2040 wird eine Minderung von 67 Prozent erreicht“. Die Kluft zu den Zielen der Bundesregierung ist beträchtlich: Bis 2030 müssen die Treibhausgase laut Klimaschutzgesetz um 65 Prozent und bis 2040 um 88 Prozent sinken. Mit anderen Worten: Entweder die Deutschen verabschieden sich noch zügiger als bisher geplant von Kohle und Öl – oder spätestens die übernächste Bundesregierung muss einräumen, dass die Klimaziele zu ehrgeizig waren.
7. Mit den steigenden Preisen in der Industrie beschäftigt sich mittlerweile unser gesamtes Unternehmens-Ressort, weil das Thema fast alle Branchen betrifft. Um ihre Margen zu sichern, erhöhen nun auch immer mehr Industriebetriebe ihre Preise, wie unsere Recherchen zeigen. Wie dramatisch die Situation ist, bringt diese Grafik auf den Punkt:
8. Wenn Sie dieses Wochenende noch ein echtes Streitgespräch miterleben wollen, dann hören Sie sich die Jubiläumsfolge unseres täglichen Podcasts Handelsblatt Today an. Darin diskutieren der Linken-Politiker Fabio De Masi, der Unternehmer Julian Hosp und der Kryptoexperte Roman Reher über die Chancen und Risiken des Bitcoins. Zentrale Frage: Kann sich die Kryptowährung als Wertanlage und Zahlungsmittel langfristig etablieren? Ich verrate nur soviel: In dem Gespräch ging es richtig zur Sache.
9. Nach den Rückschlägen in den vergangenen Wochen geht es an den Kryptomärkten derzeit wieder aufwärts. Doch im Schatten von Bitcoin und Ether hat sich eine kleinere Kryptowährung zum Favoriten der Anleger entwickelt: Ada, der Coin der Cardano-Blockchain, ist seit Mitte Mai um 140 Prozent im Wert gestiegen. Mein Kollege Andreas Neuhaus analysiert, was hinter dem überraschenden Boom steckt.
Ihnen ein schönes Wochenende,
Herzlichst
Ihr
Sebastian Matthes
Chefredakteur Handelsblatt
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