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Weekend-BriefingWeckruf für ein müdes Land: Der Wochenrückblick des Chefredakteurs

Die vergangenen Wochen und Monate des Wahlkampfes waren eine Zumutung. Man könnte den Eindruck gewinnen, Deutschland hätte keine echten Sorgen.Sebastian Matthes 25.09.2021 - 08:16 Uhr Artikel anhören

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,

um es ganz ehrlich zu sagen: Ich bin froh, dass dieser Wahlkampf vorbei ist. Die vergangenen Wochen und Monate waren eine Zumutung. Beinahe könnte man den Eindruck gewinnen, Deutschland hätte keine echten Sorgen, habe ich in der Wochenendausgabe des Handelsblatts kommentiert. Unangenehme Wahrheiten enthielt das politische Spitzenpersonal den Wählern vor. In fast fahrlässiger Weise wurden die relevanten Themen umschifft.

In der Redaktion haben wir seit Wochen über dieses Phänomen diskutiert – und die zentralen Herausforderungen in einer großen Titelgeschichte analysiert. Dafür haben wir mit den wichtigsten Expertinnen und Experten gesprochen und konkrete Vorschläge gesammelt, wie Deutschland sich in den nächsten Jahren neu erfinden muss.
Wie immer, wenn es politisch heikel wird, haben sich die meisten CEOs und Unternehmensvertreter aus dieser Diskussion herausgehalten. Im kleinen Kreis allerdings wurde umso intensiver diskutiert, das habe ich mehrfach miterlebt. Auf offener Bühne aber herrschte Diplomatie. Ich halte das für einen Fehler.

Natürlich werden CEOs nicht dafür bezahlt, Politik zu machen. Sie sind vor allem den Eigentümern ihres Unternehmens verpflichtet. Aber indem sie sich vielfach zu Sachverwaltern der Bilanzen und Gewinne verzwergen, vergeben sie auch eine Chance. Nämlich darauf hinzuweisen, dass in den nächsten Jahren – in denen große Teile der industriell geprägten Wirtschaft umgebaut werden müssen – unglaublich viel auf dem Spiel steht.

Eine Ausnahme ist Allianz-Chef Oliver Bäte, den ich vergangene Woche zusammen mit meinem Kollegen Christian Schnell interviewt habe. Er fordert von der Politik eine klare Wirtschaftsstrategie für die nächsten vier Jahre – und vor allem Ehrlichkeit: „Die Politik muss endlich ehrlich sagen, dass Klimaschutz ohne höhere Kosten bei Mobilität, Energie und teilweise auch Lebensmitteln nicht möglich ist.“

Den Wahlkampf fand Bäte „unglaublich frustrierend“. Wichtige Themen wie die steigende Inflation oder Rekordausgaben für Soziales hätten gefehlt. Der Allianz-Chef warnt: „Vielen ist nicht klar, dass gerade das gesamte Geschäftsmodell Deutschlands auf dem Spiel steht.“

Klare Worte. Kein Wunder, dass dieses Interview gestern der am meisten gelesene Text des Tages war.


Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat

1. Seit Tagen hält eine ganz reale Krise die Wirtschaft in Atem. Noch nie war Erdgas so teuer wie heute – und die Preise steigen weiter. Die Gründe dafür sind vielfältig: leere Speicher, Lieferengpässe in Russland, starke Nachfrage aus Asien. „Die Gaskonzerne haben sich verzockt“, analysiert Handelsblatt-Energiereporterin Kathrin Witsch. Sie haben auf niedrigere Preise gewettet und verloren.

2. Was viele nicht wahrhaben wollen: Die steigenden Energiepreise sind erst der Anfang. Das politisch beschlossene Ziel, bis 2045 klimaneutral zu wirtschaften, bedeutet nichts anderes als: „Fossile Energieträger, ganz gleich ob Gas, Kohle oder Öl, werden teuer, richtig teuer“, wie mein Kollege Daniel Delhaes kommentiert. Weiteres Ungemach droht an der Zapfsäule. Dort muss der Spritpreis schon bald um 70 Cent steigen, wenn die nächste Regierung geltende Gesetze ernst nimmt und alles in Bewegung setzt, um die beschlossenen Klimaziele im Verkehrssektor noch zu erreichen.

3. Für meinen Podcast Handelsblatt Disrupt habe ich diese Woche mit einem der interessantesten Gründer des Landes gesprochen: mit Daniel Wiegand, dem CEO des Flugtaxi-Start-ups Lilium, der sein Unternehmen vor wenigen Tagen in den USA an die Börse gebracht hat. Wir sprachen über die Kritik an seiner Technologie, Bedenkenträgerei in Deutschland – und seinen überaus ehrgeizigen Zeitplan. Nach dem Gespräch war klar: Bei Lilium ist alles drin, vom Welterfolg bis zur Bruchlandung.

4. Für den taumelnden chinesischen Immobilienentwickler Evergrande tickt die Uhr. Der hochverschuldete Konzern hat in dieser Woche fällige Zinsen an Anleihegläubiger nicht pünktlich ausgeschüttet. Offiziell tritt ein Zahlungsausfall allerdings erst ein, wenn innerhalb einer 30-tägigen Nachfrist die ausstehenden Forderungen nicht beglichen werden.

Immobilienkäufer, Lieferanten und Baufirmen können derweil auf staatliche Unterstützung hoffen. Die Staatsführung kann es sich nicht leisten, dass Chinesen aus Sorge vor einem weiteren Evergrande keine Wohnungen mehr kaufen. Was mich überrascht hat: Der Immobiliensektor trug zuletzt rund ein Viertel zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Unsere beiden China-Korrespondentinnen Dana Heide und Sabine Gusbeth verfolgen die Lage.

5. Neun Monate nach dem Brexit ist Großbritannien ein Land an der Belastungsgrenze, berichtet unser Korrespondent Carsten Volkery aus London. Bei der Fast-Food-Kette McDonald’s gab es zeitweise keine Milchshakes mehr, das Möbelhaus Ikea strich angesichts der leeren Lager tausend Produktlinien aus dem Programm, und in den Supermärkten häufen sich die Regallücken mit den Schildern: „Haben Sie bitte Geduld mit uns.“ Der Grund für die Misere: Lieferengpässe, vor allem aber fehlende Lastwagenfahrer. Ökonomen sind alarmiert.

Foto: dpa

6. Wie legen eigentlich Vermögensverwalter und Family Offices das Geld ihrer vermögenden Kundschaft an? Dieser Frage ist unser Geldanlage-Team nachgegangen. Fazit: Von diesen Strategien können Anleger durchaus lernen.

7. Eine der irrsten Geschichten kam vergangene Woche vom Handelsblatt Energieteam. Kohle ist, wie wir alle wissen, ein Auslaufmodell. Trotzdem wird RWE noch blendend an dem fossilen Energieträger verdienen – weil Deutschlands größter Stromkonzern einen höchst attraktiven Deal gemacht hat.

8. Aber es gab diese Woche auch gute Nachrichten: Noch nie haben Konzerne weltweit so viel Geld investiert wie 2021. Und wir wissen: Investitionen sind das Fundament, auf dem die Zukunft entsteht. Mehr als drei Billionen Euro steckten die 2000 investitionsstärksten Konzerne 2021 in Zukunftsthemen. Auf Platz eins liegt mit 37 Milliarden Euro übrigens Amazon. In Europa ist die Deutsche Telekom führend.

Und nun bleibt mir nur noch, Ihnen ein spannendes Wahl-Wochenende zu wünschen. Wir verfolgen und analysieren die Ereignisse für Sie rund um die Uhr. Und wenn Sie mögen, dann schreiben Sie mir an matthes@morningbriefing.de, welche Themen und Projekte aus Ihrer Sicht nach der Wahl am schnellsten angegangen werden müssen.

Verwandte Themen Deutschland Oliver Bäte Lilium Evergrande Europa Deutsche Telekom

Herzlichst,
Ihr

Sebastian Matthes
Chefredakteur Handelsblatt

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