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BDEW-Präsidentin im Interview Marie-Luise Wolff: „Keine Partei möchte vor der Wahl Grausamkeiten in Worte fassen“

Die Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft kritisiert die Politik als unehrlich. Sie fordert ein Klimaschutzministerium.
27.07.2021 - 04:00 Uhr 1 Kommentar
Die studierte Musikwissenschaftlerin wurde 2018 zur Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gewählt und 2020 im Amt bestätigt. Quelle: imago images/Future Image
Marie-Luise Wolff

Die studierte Musikwissenschaftlerin wurde 2018 zur Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gewählt und 2020 im Amt bestätigt.

(Foto: imago images/Future Image)

Berlin Die Parteien drücken sich nach Einschätzung der Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Marie-Luise Wolff, im Bundestagswahlkampf vor der Wahrheit. 

„Alle demokratischen Parteien bekennen sich zu den Klimaschutzzielen, aber nicht alle sagen auch, dass Klimaschutz nicht kostenlos zu haben ist“, sagte Wolff dem Handelsblatt. Die BDEW-Präsidentin ist im Hauptberuf Vorstandsvorsitzende der Entega AG in Darmstadt.

Nach Überzeugung Wolffs muss sich die Bedeutung des Themas Klimaschutz künftig im Ministeriumszuschnitt der Bundesregierung widerspiegeln. „Ich plädiere dafür, nach der nächsten Bundestagswahl ein Klimaschutzministerium einzurichten“, sagte sie.

„Da müssen Abteilungen aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium, aber auch aus dem Verkehrs- und dem Innenministerium zusammengeführt werden. Das hilft, Kompetenzwirrwarr aufzulösen und Streitigkeiten beizulegen“, sagte Wolff.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frau Wolff, die noch amtierende Große Koalition hat ihre Ziele im Klimaschutz deutlich erhöht. Sind wir bereits auf dem richtigen Kurs?
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von Ende April bringt eine ganz neue Dringlichkeit in die Debatte. Wir als Energiewirtschaft sehen uns mit einer erheblichen Anschärfung der EU-Klimaziele konfrontiert. Es reicht darum nicht mehr aus, so zu verfahren wie bisher. Es muss eine ganz neue Dynamik in die Klimaschutzbemühungen, insbesondere in den Ausbau der erneuerbaren Energien kommen. Für uns ist das ein Ansporn. Wir wollen alles möglich machen, wir stehen in den Startlöchern. Aber wir brauchen einen klaren Rahmen. Diesen Rahmen muss die Politik liefern.

Ist die Politik bereit, mehr zu liefern als neue Ziele?
Ich habe meine Zweifel.

Einige Aspekte werden ausgeklammert

Womit begründen Sie diese Zweifel?
Wenn ich auf die Wahlprogramme der Parteien schaue, sehe ich, dass ein Aspekt weitgehend ausgeklammert wird: Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Klimaschutz einklagbar geworden, und zwar auf allen Ebenen und für alle Sektoren. Jede Person, jedes Unternehmen, jede Organisation kann künftig hingehen und sagen, man werde von der Bundesregierung daran gehindert, die Klimaschutzziele zu erfüllen. Die Politik kann sich künftig nicht mehr darauf zurückziehen, neue Ziele zu definieren, sie muss definitiv auch liefern und die Erreichung der Ziele ermöglichen. Das ist eine neue Qualität.

Der Preis für den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid dürfte deutlich steigen. Quelle: dpa
Kohlekraftwerk vor Windrädern

Der Preis für den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid dürfte deutlich steigen.

(Foto: dpa)

Große Teile der Politik nehmen ausdrücklich Bezug auf das Verfassungsgerichtsurteil. Spiegelt sich das nicht wenigstens zum Teil in den Wahlprogrammen wider?
Mit Details zur Zielerreichung tun sich alle schwer. Keine Partei möchte vor der Wahl Grausamkeiten in Worte fassen. Wobei natürlich die Grünen insgesamt viel deutlicher sind als andere.

Ist das klug?
Es ist zumindest ehrlich. Die Grünen haben darunter ja auch gelitten und in den letzten Wochen an Zustimmung verloren.

Was meinen Sie damit?
Frau Baerbock hat kürzlich darauf hingewiesen, dass der von den Grünen angepeilte CO2-Preis von 60 Euro ab 2023 beim Sprit einen Aufschlag gegenüber dem heutigen CO2-Preis von 16 Cent je Liter bedeuten würde. Das Echo war niederschmetternd. Dabei ist ein CO2-Preis von 60 Euro und ein Aufschlag auf den Spritpreis von 16 Cent in Relation zu den Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine überschaubare Größe. Es geht um ganz andere Dimensionen. Aus Gründen des Wahlkampfs bleiben die anderen da lieber im Ungefähren. Die Stunde der Wahrheit steht noch bevor. Alle demokratischen Parteien bekennen sich zu den Klimaschutzzielen, aber nicht alle sagen auch, dass Klimaschutz nicht kostenlos zu haben ist.

Die Spitzenkandidatin der Grünen erntete mit ihrer Ansage, der Benzinpreis dürfte mit dem CO2-Preis deutlich steigen, erheblichen Gegenwind. Quelle: imago/Martin Müller
Annalena Baerbock

Die Spitzenkandidatin der Grünen erntete mit ihrer Ansage, der Benzinpreis dürfte mit dem CO2-Preis deutlich steigen, erheblichen Gegenwind.

(Foto: imago/Martin Müller)

Die scheidende Bundeskanzlerin hat in den vergangenen Jahren viele neue Klimaschutzziele durchgesetzt. Wird die Union ohne Merkel diesen Kurs fortsetzen?
Das weiß ich nicht. Es hat in der CDU immer Politiker gegeben, die das Thema Klimaschutz vorantreiben wollten. Sie sind aber regelmäßig ausgebremst worden von Zauderern aus den eigenen Reihen, der CSU und natürlich auch von Lobbyvertretern. Da haben viele auf die Bremse getreten. Entscheidend wird auch sein, welche Rolle in einer künftigen Regierungskoalition die FDP spielen wird.

Wie bewerten Sie die energie- und klimapolitische Positionierung der FDP?
In Teilen der FDP gibt es eine extreme Zurückhaltung, was den Ausbau der Windkraft angeht. Wenn man bedenkt, dass ein forcierter Ausbau der Erneuerbaren unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen der Klimaziele ist, stimmt mich das nachdenklich. Da sehe ich große Konfliktpotenziale. Denn jede neue Bundesregierung wird den Ausbau der Erneuerbaren viel konsequenter vorantreiben müssen, als das bislang der Fall war.

Die Anreize aus der Politik sind zu gering

Die FDP betont in ihrem Programm sehr die segensreiche Wirkung des Emissionshandels und einer CO2-Bepreisung. Reicht das?
Nein, das reicht nicht. Ein hoher CO2-Preis baut kein einziges Gaskraftwerk. Der Windausbau ist eingebrochen, obwohl der CO2-Preis mittlerweile ein recht hohes Niveau entwickelt hat. Natürlich brauchen wir einen CO2-Preis. Aber er ist eine flüchtige, eine volatile Zahl. Er liefert allein noch keine belastbare Basis für Investitionen. Wenn wir bei einem Erneuerbaren-Anteil von 70 Prozent angekommen sind, wird der CO2-Preis vielleicht auch mal wieder fallen. Damit fehlt jede Kalkulationsgrundlage für Investitionen in Kraftwerke, die wir als Back-up brauchen werden, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Was empfehlen Sie?
Es müssen Anreize her.

Da sind wir schnell wieder bei Kapazitätsmärkten.
Nennen Sie es, wie sie wollen. Ohne Anreize wird es jedenfalls nicht gehen. Spätestens ab 2030 sprechen wir über Leistungsvorhaltungsmechanismen. Wenn das Bereithalten von Kraftwerksleistung nicht honoriert wird, wird es die erforderlichen Kraftwerke nicht geben. So einfach ist das. Unsere Branche hat ein Trauma erlitten. Wir sind vor ein paar Jahren von der Politik dazu gedrängt worden, Gaskraftwerke zu bauen. Diese Kraftwerke haben sich im Nachhinein oft als Fehlinvestitionen erwiesen, weil sie wegen des steigenden Erneuerbaren-Anteils kaum zum Einsatz gekommen sind.  

Die Politik honoriert den Wechsel von Kohle auf Gas bei Kraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK). Reicht das nicht, um gesicherte Leistung im Markt zu halten?
Die Anreize sind zu gering. Das reicht bei Weitem nicht, um die gesicherte Leistung bereitzuhalten, die wir in den kommenden Jahren brauchen. Das gilt ganz besonders unter den Vorzeichen eines beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien, den wir ja alle wollen. Außerdem gehen die Kohlekraftwerke schneller als gedacht vom Netz. Da tut sich eine immense Lücke auf.

Erdgas wird über 2030 hinaus benötigt

Wäre nicht ein Mindestpreis im Emissionshandel eine Lösung?
Das ist eine Maßnahme, über die man zumindest nachdenken sollte. Möglicherweise ist ein Preiskorridor der richtige Weg. Denn je stärker der CO2-Preis in die Höhe geht, desto schwieriger wird es für den industriellen Mittelstand, noch marktgerecht zu produzieren.

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Die Grünen fordern, die Spitzenlast durch Flexibilisierung der Nachfrage von gut 80 auf 60 Gigawatt zu reduzieren und die Back-up-Kraftwerke ausschließlich mit Biogas oder grünem Wasserstoff zu betreiben. Wie realistisch ist das?
Es liegt noch eine Menge Arbeit vor uns, ehe das möglich wird. Da reden wir nicht über Kleinigkeiten. Wir werden Erdgas daher noch eine gewisse Zeit brauchen, und zwar über 2030 hinaus. Das bestätigen auch Organisationen wie Agora Energiewende oder Stiftung Klimaneutralität.

Der Ausbau der Erneuerbaren stockt. Was ist zu tun, um die Fesseln zu lösen?
Ein Grund ist noch immer der Kampf zwischen verschiedenen Ministerien. Wenn das Umweltministerium Vorschläge für eine Beschleunigung von Verfahren macht, kann man sich sicher sein, dass das Wirtschaftsressort Einwände hat. Die Kämpfe können wir uns nicht mehr leisten. Und beim Thema Artenschutz werden Initiativen des Umweltministeriums von den Ländern torpediert. Da wird bis heute darum gestritten, ob das einzelne Exemplar einer Vogelart schützenswert ist oder die Art an sich. Dabei ist unstreitig, dass der Ausbau erneuerbarer Energien einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz leistet und damit die Basis für den Erhalt von Lebensräumen und somit für den Artenschutz ist.

Was soll man tun?
Ich plädiere dafür, nach der nächsten Bundestagswahl ein Klimaschutzministerium einzurichten. Da müssen Abteilungen aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium, aber auch aus dem Verkehrs- und dem Innenministerium zusammengeführt werden. Das hilft, Kompetenzwirrwarr aufzulösen und Streitigkeiten beizulegen. Ein geeintes Ministerium mit klarer Zielsetzung und natürlich einer starken Ministerin oder einem starken Minister bringt größere Stringenz in die gesamte Debatte.

Die Debatte um Wasserstoff fokussiert sich oft auf die Frage, für welche Anwendungsfälle Wasserstoff überhaupt in Betracht kommt. Was sagen Sie?
Mein Eindruck ist, dass die Aussage, grüner Wasserstoff sei der Champagner der Energiewende, kaum mehr vertreten wird. Das ist gut so. Ich bin davon überzeugt, dass Wasserstoff nicht nur in der Stahl- oder in der Chemieindustrie zum Einsatz kommen wird, um dort die Dekarbonisierung möglich zu machen. Nehmen Sie den industriellen Mittelstand, etwa Gießereien. Oder selbst Großbäckereien. Diese Unternehmen werden einen Teil ihres Wärmebedarfs mittels Wasserstoff decken müssen.

Streit um Ausbau der Ladeinfrastruktur

Ihre Branche streitet sich mit der Automobilbranche um den Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Autos. Wo liegt das Problem?
In Deutschland sind derzeit 370.000 reine E-Fahrzeuge zugelassen, und das bei einem Pkw-Bestand von 48 Millionen. Das ist deutlich weniger als ein Prozent. Von uns zu fordern, dass wir jetzt und sofort weiter massiv in den Ausbau der Ladeinfrastruktur investieren, ist unwirtschaftlich. Die Ladeinfrastruktur wird sich entwickeln. Wir bauen mehr Schnelllader, wir bauen Säulen für unterschiedliche Fahrzeugtypen. Und die Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen. Es besteht die Gefahr, dass wir eine Infrastruktur aufbauen, die veraltet ist, sobald der Aufbau abgeschlossen ist. Das macht keinen Sinn. Wir müssen den Ausbau der Ladeinfrastruktur mit dem Hochlauf der Zulassung von Elektroautos synchronisieren.

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Was halten Sie davon, den immensen Bestand an Verbrenner-Autos mittels synthetischer Kraftstoffe in Richtung Klimaneutralität zu bewegen?
Das Ende des Verbrennungsmotors hat die Automobilindustrie inzwischen selbst für 2035 ausgerufen, wenn wir auf VW schauen. Ob es dann sinnvoll ist, ein System, dessen Ende sich bereits abzeichnet, künstlich am Leben zu erhalten, bezweifele ich, vor allem unter Kosten-Nutzen-Erwägungen.

Mehr: Kanzlerkandidaten werben für ihre Klimakonzepte

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1 Kommentar zu "BDEW-Präsidentin im Interview: Marie-Luise Wolff: „Keine Partei möchte vor der Wahl Grausamkeiten in Worte fassen“"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • Bei solchen Regierungspolitikern (siehe https://twitter.com/p4f_leipzig/status/1418137329420668937 )
    braucht man sich nicht wundern, dass der Ausbau der Erneuerbaren stockt.

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