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Behinderungen bei der Bildungsforschung Kartell der Verblödung

Wie schneiden Schüler in NRW im Vergleich zu denen in Bayern ab? Da können Forscher nur mit den Schultern zucken, denn die Länder geben bestimmte Daten nicht heraus – auf Kosten der Steuerzahler und Eltern. Wie kann das sein?
10.05.2016 - 15:39 Uhr
Forschern werden bestimmte Analysen zum Pisa-Test erschwert. Quelle: dpa
Schüler an der Tafel

Forschern werden bestimmte Analysen zum Pisa-Test erschwert.

(Foto: dpa)

Düsseldorf Als Anfang des Jahrtausends die ersten Ergebnisse des internationalen Schülertests Pisa veröffentlicht wurden, da stand die Bildungsrepublik unter Schock: Deutschlands Schüler, das zeigte sich im Test, waren nicht mal Mittelmaß und Jugendliche in den besten Bundesländern hatten ihren Mitschülern in den schlechtesten mehr als ein Schuljahr voraus. Doch innerhalb von sechs Jahren holten die schlechtesten massiv auf.

Und heute?

Da müssen die Bildungsforscher passen. Nicht weil sie es nicht spannend finden. Sie können die Frage schlicht nicht beantworten, weil es die Daten nicht mehr gibt oder Forscher nicht an sie herankommen. Und das liegt an den Kultusministern der Bundesländer. Die arbeiten schon seit Jahren darauf hin, dass es Vergleiche zwischen Bundesländern kaum mehr gibt. Die Daten oder die Regelungen zu ihrer Nutzung wurden so geändert, dass Forscher in ihrer Arbeit behindert werden.

Ein Kartell des Schweigens, auf Kosten der Steuerzahler und Eltern. Das Kartell funktioniert, weil selbst Länder mit leistungsstarken Bildungssystemen wie Bayern ihre Schwachstellen haben – das soziale Bildungsgefälle zum Beispiel. Zudem war ein Großteil der Bildungsreformen der vergangenen Jahre in erster Linie ideologisch motiviert. Da können empirische Erkenntnisse über Erfolg oder Misserfolg solcher Reformen nur stören.

„Es ist manchen Politikern vielleicht peinlich, wenn ihr Bundesland auf dem Niveau von Mexiko landet. Ein Teil der Länder hat offenbar kein Interesse daran, von Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden“, sagt der Dortmunder Schulforscher Wilfried Bos. Mathias Brodkorb, seit 2011 Mecklenburg-Vorpommerns Kultusminister, meint: „Ich persönlich hätte nichts gegen Ländervergleiche, wir haben sie mit den IQB-Studien ohnehin. Aber eine Reihe von Kollegen befürchtet nicht zu Unrecht, in eine unfaire Wettbewerbssituation manövriert zu werden, aus der man nur schwer herauskommt.“

Die Folge: bildungspolitischer Blindflug. „Keiner weiß, woran es liegt, dass die Schüler in Bremen oder Hamburg so viel schlechter sind als jene in Bayern oder Baden-Württemberg“, sagt Marcel Helbig, der am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung forscht. In einem Gutachten hat der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums vor kurzem dargelegt, wie „Kultusbehörden seit vielen Jahren die systematische Erforschung von bundeslandspezifischen Bildungsinitiativen und die Bereitstellung von Vergleichsgrößen behindern“.

Immer wieder erleben Forscher, dass sie vorhandene – in der Regel vom Steuerzahler finanzierte – Daten nicht nutzen dürfen.

Beispiel Pisa: Zwischen 2000 und 2006 wurden hierzulande so viele Schüler getestet, dass Ländervergleiche möglich waren. Doch dann beschloss die Politik, künftig viel weniger Jugendliche testen zu lassen – offiziell, um Geld zu sparen. Forscher bezweifeln das. Etwa gleichzeitig wurden zum einen Ländervergleiche mit den bestehenden Pisa-Daten enorm erschwert, zum anderen führte die Kultusministerkonferenz (KMK) nationale Ländervergleichstest ein, an deren Daten Wissenschaftler aber für Vergleiche faktisch so gut wie nicht kommen. „Die KMK hat nicht beschlossen, dass keine Ländervergleiche mehr gemacht werden dürfen. Die Länder möchten als Urheber der Daten aber wissen, was damit geschieht“, heißt es bei der KMK.

Bundesländer mauern bei den Daten. Quelle: picture alliance / Lukas Ilgner
Ludger Wößmann

Bundesländer mauern bei den Daten.

(Foto: picture alliance / Lukas Ilgner)

Die Tests werden vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) verantwortet. Das wiederum bekommt seine Vorgaben von der KMK und entscheidet, was veröffentlicht wird – und was nicht. Und hier wird etwa Mathematik nur im Wechsel mit anderen Fächern getestet, die Abstände zwischen den Tests wurden zum Teil deutlich verlängert. „So kann man sicherstellen, dass kein Wissenschaftler mit den Daten untersuchen kann, wie wirksam konkrete bildungspolitische Maßnahmen und Reformen waren“, sagt Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik.

Petra Stanat, die das IQB leitet, weiß: „Ländervergleiche sind eine heikle Angelegenheit, weil solche Ergebnisse sehr schnell in den Medien sind. Auch Ergebnisse, die nicht stimmen, bringen ein Ministerium sofort unter Zugzwang.“ Was das in der Praxis bedeutet, weiß Wissenschaftler Helbig: „Wir erleben, dass bestimmte Ergebnisse nicht mehr veröffentlicht werden – etwa die Zahlen zur sozialen Ungleichheit beim Gymnasialzugang im neuen IQB-Ländervergleich.“

Bei einem anderen großen deutschen Bildungsforschungsprojekt ist das nicht anders. Das „Nationale Bildungspanel“ verfolgt den Schul- und Berufsweg Tausender Menschen hierzulande. Wissenschaftler, die die Daten nutzen wollen, müssen einen Vertrag unterschreiben. Und in dem steht, dass „eine Identifikation einzelner Bundesländer in Ergebnisdarstellungen nicht gestattet“ ist. Laut KMK sei die Stichprobe zu klein für einige Länder. Forscher erwidern, das gelte nicht für einzelne große Länder, die man sehr wohl untersuchen könnte.

Aber nicht nur bei Vergleichen werden Forscher am Forschen gehindert. Beispiel Berlin: Der Stadtstaat untersucht alle Kinder kurz vor ihrer Einschulung, macht einen Sprachtest und erfasst auch, ob die Kleinen in eine Kita gingen. Wissenschaftler könnten anhand dieser Daten herausfinden, ob der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz wirkt und vor allem Einwandererkinder mit besseren Sprachkenntnissen in die Schule kommen. Bildungsforscher Helbig hat versucht, an die Daten zu gelangen. Die Antwort der Senatsverwaltung für Gesundheit: Es sei zu aufwendig, die Daten zu anonymisieren. „Das stimmt so einfach nicht“, kontert Helbig.

Dass die Kultusminister für seine Forschung keine Daten herausrücken hat auch der Dortmunder Schulforscher Wilfried Bos mehrfach erlebt. Er hatte etwa mal die Idee, eine alte Abiturientenstudie zu replizieren, um die Schüler mit den heutigen im sogenannten G8 zu vergleichen, die nach 12 statt 13 Jahren Abi machen. „Ich habe bei der KMK vorgesprochen, als das Wort G8 fiel, war das Vorhaben begraben“, erinnert sich Bos.

Der Pisa-Schock hatte Deutschland kurzfristig aus seiner Lethargie gerissen. Doch inzwischen funktioniert die Bildungspolitik wieder nach dem alten Prinzip: Wenn die empirische Realität nicht zum eigenen politischen Wunschdenken passt, hat sich die Realität eben anzupassen.

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