Bert Rürup skizziert Reformprogramm Agenda für eine neue Große Koalition

Mehr Wachstum durch Digitalisierung.
Düsseldorf Selten konnte eine Bundesregierung ihre Amtsgeschäfte in einem besseren gesamtwirtschaftlichen Umfeld aufnehmen als eine mögliche vierte Koalition aus Union und SPD. Der bereits Mitte 2009 einsetzende bemerkenswert beschäftigungsintensive Aufschwung zeigt noch keine Ermüdungserscheinungen. Im Gegenteil: Er hat dieses Jahr sogar noch einmal an Fahrt gewonnen. Die Stimmung in der Wirtschaft ist glänzend, und das vom Handelsblatt Research Institute berechnete HDE-Konsumbarometer signalisiert äußerst zufriedene Verbraucher.
Weil aber auch dieser Aufschwung irgendwann ein Ende haben wird, sollte die künftige Regierung jetzt einige wichtige Stellschrauben justieren, um unseren Wirtschaftsstandort und Sozialstaat fit für das Zeitalter der Digitalisierung und den anstehenden Alterungsschub der Gesellschaft zu machen. So könnte eine neue Große Koalition all jene Lügen strafen, die behaupten, in einer Demokratie seien weitreichende Reformen nur in schlechten Zeiten durchsetzbar, weil dann Politiker mutiger und die Wähler einsichtiger wären.
Wichtig allerdings ist auch das, was die künftige Regierung möglichst unterlassen sollte: Deutschland braucht keine kreditfinanzierten und damit nachfrageseitigen Wachstumsimpulse. Solche Impulse sind in einem Konjunkturabschwung richtig und notwendig – jetzt aber sicher nicht! Ebenfalls die Finger lassen sollte die Regierung bis auf Weiteres von der 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse.

„Eine Große Koalition könnte all jene Lügen strafen, die behaupten, in einer Demokratie seien weitreichende Reformen nur in schlechten Zeiten durchsetzbar.“
Diese Vorschrift hat zwar gravierende Schwächen; klüger wäre es gewesen, die Grenze der staatlichen Nettokreditaufnahme an die öffentlichen Nettoinvestitionen zu koppeln. Da jedoch die Verwundbarkeit einer Volkswirtschaft durch globale Schocks umso größer ist, je stärker sie in die internationale Arbeitsleistung eingebunden, je größer und verflochtener ihr Finanzsektor und je höher die Verschuldung von Staat, Unternehmen und öffentlichen Haushalten ist, sollte die Schuldenstandsquote weiter sinken, damit für den nächsten konjunkturellen Ernstfall genügend Handlungsspielraum vorhanden ist. Auf die Europäische Zentralbank darf man als Retter nicht setzen, denn Zinsen werden wohl noch sehr lange niedrig bleiben.
Bürger entlasten
Die Löhne von Klein- und Mittelverdienern werden in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hoch belastet. Dies gilt vor allem für Alleinstehende. Schuld daran ist jedoch nicht das Steuersystem, sondern es sind die Sozialabgaben. Anders als bei der Einkommensteuer gibt es dort keinen Freibetrag oder Werbungskostenabzug, sondern es besteht Sozialversicherungspflicht vom ersten Euro an. Wer 1.000 Euro brutto im Monat verdient, zahlt keinen Cent an Einkommensteuer, aber gut 200 Euro an die Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Zu Recht mahnte am Donnerstag die OECD, in Deutschland seien die Sozialabgaben der Grund dafür, „dass auch bei geringen Einkommen die Gesamtabgabenlast schon vergleichsweise groß ist und sie bei hohen Einkommen sogar sinken kann“. Dies wirke der progressiven Einkommensteuer entgegen, die die Belastung an der Leistungsfähigkeit orientiere und Einkommensunterschiede verringere.
Eine kluge Einkommensteuerreform sollte daher mit der Neuordnung der Sozialabgabenanteile der Arbeitnehmer einhergehen. Denkbar wären 100 Euro Freibetrag im Monat bei allen Sozialversicherungen. Alle Arbeitnehmer würden so um gut 20, alle Rentner um elf Euro pro Monat entlastet. Die direkten Kosten summierten sich überschlagsmäßig auf elf Milliarden Euro. Der Bund müsste den Sozialkassen diese Ausfälle erstatten, damit den Beitragszahlern keine Nachteile entstünden, etwa durch geringere Rentenansprüche. Ein Teil der Ausfälle würde sich selbst finanzieren, weil Krankenkassen- und Rentenbeiträge teilweise steuerlich abzugsfähig sind.
Doch auch die Einkommensteuer muss reformiert werden. Aufgrund steigender Einkommen wandern immer mehr Steuerzahler auf der Steuertarifskurve nach oben, obwohl ihre relative Einkommensposition in der Gesellschaft unverändert bleibt. Zunehmend mehr Bezieher mittlerer Einkommen kommen so in den Bereich hoher, aber kaum mehr steigender Grenzsteuersätze. Das dämpft die gewollte Umverteilung deutlich.
Der Steuertarif sollte daher wieder auseinandergezogen und die diskriminierend nach einer Personengruppe und nicht einem Steuertatbestand bezeichnete Reichensteuer integriert werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass derzeit Gehälter zwischen 54.058 und 76.200 Euro sowohl mit dem Spitzensteuersatz als auch mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden. Es gilt daher, die Tarifkurve so abzuflachen und zu verlängern, dass der heutige Spitzensatz von 42 Prozent erst ab der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung greift. Zudem sollte der Spitzensteuersatz kontinuierlich bis auf 45 Prozent steigen und für Einkommen ab gut 80.000 Euro greifen.
Der Solidaritätszuschlag (Soli) ist fast drei Jahrzehnte nach der Deutschen Einheit kaum noch haltbar. Um einem Spruch aus Karlsruhe zuvorzukommen, sollte die nächste Regierung zumindest den Einstieg in den Ausstieg schaffen. Im ersten Schritt wäre diese Abgabe für mittlere Einkommen abzuschaffen. Dazu sollte die Freigrenze drastisch angehoben werden. Ein guter Richtwert wären die 52.000 Euro, die im „SPD-Regierungsprogramm“ genannt waren. Weil sich dieser Wert auf das zu versteuernde Einkommen bezieht, wären so die meisten Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze der Renten- und Arbeitslosenversicherung vom Soli befreit – der Soli wäre faktisch die neue Reichensteuer.
Nicht zuletzt um auch die Wirtschaft nicht zu vergessen, sollte bei der Unternehmensbesteuerung die Zinsbereinigung des Grundkapitals eingeführt werden. Das klingt sperrig. Doch so würden mit Eigenkapital finanzierte Investitionen nicht länger gegenüber fremdfinanzierten benachteiligt. Nicht mehr nur gezahlte Zinsen für aufgenommene Kredite, sondern auch eine Mindesteigenkapitalrendite blieben dann steuerfrei.
Rente reformieren
Jede Rentenreform ist ein Verteilungskompromiss, der die finanzielle Beteiligung der Beitragszahler, aktuellen Rentner, künftigen Rentner und Steuerzahler an der Finanzierung der gesetzlichen Renten regelt. Die heute geltenden Eckwerte, ein Mindestsicherungsniveau bis 2030 von 42 Prozent und einem Höchstbeitragssatz von 22 Prozent, die höhere Regelaltersgrenze und Steuerzuschüsse in Höhe von um die 28 Prozent der Rentenausgaben wurden im vergangenen Jahrzehnt festgezurrt. Sie entstanden vor dem Hintergrund der Bevölkerungsalterung und nicht zuletzt der damaligen Massenarbeitslosigkeit und dem daraus resultierenden Druck, den Beitragssatzanstieg zu dämpfen. Heute jedoch steigt die Beschäftigung von Rekord zu Rekord, und die demografische Entwicklung hat sich leicht entspannt. Die Rentenkassen sind voll, der Beitrag sinkt 2018 weiter, und das Rentenniveau steigt sogar.
Gleichwohl wird es Zeit, auf die Jahre nach 2030 zu blicken – die demografisch schwierigste Zeit für die Rentenversicherung. Daher ist es klug – wie von der Union geplant –, eine Rentenkommission einzusetzen, die drei Aufgaben diskutieren und lösen muss: die Rente auf ein stabiles finanzielles Fundament zu stellen, sie armutsfester zu machen sowie die private und betriebliche Zusatzversorgung im Interesse einer lebensstandardsichernden Versorgung zu stärken.
Die finanzielle Basis der gesetzlichen Rente kann letztlich nur durch höhere Beiträge, höhere Zuschüsse aus Steuermitteln oder geringere Leistungen gestärkt werden. Hier gilt es, einen neuen gesamtgesellschaftlich tragfähigen Mix zu finden; viel spricht dabei für einen fest verankerten aus Steuermitteln finanzierten Bundesbeitrag.
Das Risiko der Altersarmut wird für alle, die lange Jahre vollzeitig beschäftigt waren, auch in Zukunft gering bleiben. Wohl aber wird dieses Risiko merklich steigen für Langzeitarbeitslose, Frauen, die lange Zeit nicht erwerbstätig oder teilzeitbeschäftigt waren, Personen ohne Bildungsabschluss und die Bezieher einer Erwerbsminderungsrente. Dies betrifft vor allem die zukünftigen Rentner in den neuen Ländern. Diesen Problemgruppen hilft weder eine Festschreibung noch die Anhebung des Rentenniveaus. Davon würden in erster Linie vollzeitig Beschäftigte mit langen Beitragszeiten profitieren.
Im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft wird die Zahl der Menschen mit durchbrochenen oder untypischen Erwerbsbiografien jedoch weiter zunehmen. Daher ist es an der Zeit, das bislang hoch gehaltene Äquivalenzprinzip bei der Rentenfestsetzung für langjährige Geringverdiener zu lockern und die gesetzliche Rente armutsfester zu machen, so wie es seit langem von der OECD und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) angemahnt wird. Kurzum: Jemand, der sich im Erwerbsleben erfolgreich bemüht hat, keine Fürsorgeleistung des Staates zu beziehen, sollte auch im Alter nicht auf die Grundsicherung angewiesen sein. Letztlich aus dem gleichen Grund sollten auch jene drei Millionen Selbstständigen, die nicht über ein berufsständisches Versorgungswerk abgesichert sind, Pflichtmitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung werden.
Wohnungsnot lindern
Über viele Jahre wurden immer weniger neue Sozialwohnungen gebaut, während die bestehenden sukzessive aus der Sozialbindung fielen. Die Folge: Heute fehlt bereits eine Million bezahlbare Mietwohnungen – und zwar längst nicht nur in Ballungszentren. Jedes Jahr werden aufgrund der Zuwanderung vor allem aus der Europäischen Union und der wachsenden Anzahl von Singlehaushalten 400.000 neue kostengünstige Wohnungen benötigt; gebaut werden derzeit aber nur 240 000. Die Lücke wächst also. Mit der im Jahr 2006 in Kraft getretenen Grundgesetzänderung wurde der soziale Wohnungsbau zur Ländersache. Dafür erhalten sie Geld aus dem Bundeshaushalt, das sie jedoch nicht immer für den Wohnungsbau verwendet haben. Für 2017 bis 2019 stockte der Bund die Mittel auf 1,5 Milliarden Euro auf – und die Länder verpflichteten sich, über die Mittelverwendung zu berichten. Ab 2020 läuft diese Regel aus. Doch gleichgültig, wer für diesen Bereich der Wohnungsbaupolitik zuständig ist: Mehr Steuermittel zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus sind dringend nötig. Denn offensichtlich führt der Markt hier zu einer Lösung, die den sozialen Frieden gefährdet.
Digitalisierung antreiben
Die Verfügbarkeit des schnellen Internets ist eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg im Zeitalter der Digitalisierung. Dies erfordert sowohl den flächendeckenden Ausbau eines Glasfasernetzes als auch die Umsetzung des neuesten Mobilfunkstandards 5G.
Denn nur dieser ermöglicht deutlich höhere Datenraten und Kapazitäten und senkt Lastenzeiten, wodurch viele Anwendungen des digitalen Zeitalters wie selbstfahrender Verkehr, das Internet der Dinge, Smart Cities und Industrie 4.0 erst möglich werden.
Allerdings gleicht Deutschland heute einer Breitband-Wüste; die wichtigste Volkswirtschaft Europas ist hier im EU-Vergleich eines der Schlusslichter. Dies ist eine echte Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts. Natürlich kostet ein flächendeckender Ausbau mit bis zu 100 Milliarden Euro sehr viel Geld. Hier kann sich der Finanzminister nicht ganz davonstehlen.
Doch vor allem muss der Wirtschaftsminister die Rahmenbedingungen so setzen, dass private Anbieter selbst Anreize erhalten, in den Ausbau zu investieren. Der bisherige Ansatz, den Breitbandausbau auch über die Erhöhung des Datendurchsatzes von alten Kupferkabeln voranzutreiben, sollte gestoppt werden. Denn dieses Vectoring behindert nötige Investitionen in die Zukunftstechnologie Glasfaser und nutzt vor allem der Deutschen Telekom.
Doch nicht nur die Infrastruktur muss stimmen, auch die Berufswelt muss fit für das digitale Zeitalter werden. Viele Berufsbilder verändern sich rasant. Bereits heute gibt es kaum noch Tätigkeiten, die nicht von der Digitalisierung tangiert sind. Somit kommt dem Bildungssystem eine Schlüsselrolle zu. Personal, Inhalte und Lernmittel müssen dringend angepasst werden. Ebenso wichtig ist es, ein pädagogisches Bewusstsein für die digitale Bildung an Schulen und Universitäten zu schaffen.
Dazu sind sowohl angepasste Lehrpläne, Fort- und Weiterbildungen für Pädagogen sowie Reformen in der Lehrerausbildung erforderlich – und zwar bundesweit. Arbeitnehmer brauchen ein digitales Grundverständnis, eine Digital Literacy, unabhängig davon, in welchem Bundesland oder in welcher Schulform sie ausgebildet wurden.
Infrastruktur ausbauen
Nicht nur im „Stauland NRW“, in dem der drohende Verkehrsinfarkt ein zentrales Thema bei der Landtagswahl im Mai war, werden die Probleme des deutschen Straßennetzes sichtbar. Tausende marode Brücken und Sanierungsbedarf im Straßen- und Schienennetz sind Belege für den Verschleiß des staatlichen Kapitalstocks. Zwar sind in den vergangenen Jahren mehr Bundesmittel für Investitionen in die Verkehrswege geflossen – knapp 13 Milliarden Euro im Jahr 2017 und damit gut zwei Milliarden mehr als noch im Jahr 2015.
Doch Geld allein löst das Problem nicht. Es fehlen auch in vielen Behörden Planungs- und Baukapazitäten. So wird es nach der Sperrung der wichtigen Brücke bei Leverkusen für den Schwerlastverkehr wohl ein Jahrzehnt dauern, bis dort wieder ein Lkw über den Rhein fahren wird.
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