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Bert Rürup Sozialpolitik der Bundeskanzlerin ist „kein gut bestelltes Terrain“

Angela Merkels Rentenpolitik bliebt zeitweise auf der Strecke, obwohl sie finanziell aus dem vollen schöpfen konnte. Pandemiebedingte Einbußen erschweren nötige Reformen.
26.08.2021 - 16:14 Uhr Kommentieren
Sozialpolitisch konnte Merkel dank guter Wirtschaftslage aus dem vollen Schöpfen. Quelle: Reuters
Bundeskanzler

Sozialpolitisch konnte Merkel dank guter Wirtschaftslage aus dem vollen Schöpfen.

(Foto: Reuters)

Das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wird als eine „goldene Dekade“ in die deutsche Wirtschaftsgeschichte eingehen. Denn die Jahre 2010 bis einschließlich 2019 waren – trotz der Turbulenzen der Euro-Krise zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts – durch eine ungemein beschäftigungsintensive gesamtwirtschaftliche Belebung gekennzeichnet.

Die Steuer- und Beitragsquellen sprudelten kräftig, und die Staatsfinanzen sanierten sich im Zuge der Niedrigzinspolitik der EZB geradezu von allein. Dieser ökonomische und finanzpolitische „honeymoon“ brachte es aber mit sich, dass die Herausforderungen des bald einsetzenden massiven Alterungsschubs der Bevölkerung und die damit einhergehende Verringerung des Trendwachstums zunehmend verdrängt wurden.

Die letzten beiden von Angela Merkel geführten Bundesregierungen nahmen es billigend in Kauf, dass die digitale Infrastruktur des Landes viel zu langsam ausgebaut und der Wertschöpfungsanteil hochtechnologischer und wissensbasierter Produkte kleiner wurde.

Die Große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 hat 2007 maßgeblich auf Drängen des sozialdemokratischen Arbeitsministers Franz Müntefering die „Rente mit 67“ beschlossen und zur Überwindung der Megarezession in der Folge der globalen Finanzkrise ebenso beherzte wie erfolgreiche Maßnahmen ergriffen und damit in der Summe eine gute Arbeit geleistet.

Die sich anschließende von der Union und der FDP getragene „bürgerliche“ Koalition begann mit der unrühmlichen „Mövenpick-Steuer“ und war dann überwiegend mit der Euro-Krise, der Aussetzung der Wehrpflicht und der Energiewende beschäftigt.

Bert Rürup leitet das Handelsblatt Research Institute. Der Experte für Sozialpolitik war von 2000 bis 2009 Mitglied und zeitweise Vorsitzender im Rat der „Wirtschaftsweisen“ sowie Berater mehrerer Bundesregierungen.
Bert Rürup

Bert Rürup leitet das Handelsblatt Research Institute. Der Experte für Sozialpolitik war von 2000 bis 2009 Mitglied und zeitweise Vorsitzender im Rat der „Wirtschaftsweisen“ sowie Berater mehrerer Bundesregierungen.

In der gesetzlichen Krankenversicherung wurde immerhin ein langfristiger Umstieg auf einkommensunabhängige (Zusatz-)Beiträge eingeschlagen, der von der folgenden zweiten Großen Koalition unter Merkel allerdings wieder zurückgenommen wurde.

Und mit dem „Pflege-Bahr“, einer freiwilligen privaten Ergänzungsversicherung, wurde ein bestenfalls sehr zaghafter Umstieg auf mehr Kapitaldeckung in der sozialen Pflegeversicherung angestoßen. Sozialministerin Ursula von der Leyen bemühte sich dagegen ohne Erfolg um die Einführung einer „Zuschussrente“, um den steigenden Risiken von Altersarmut namentlich unter Frauen zu begegnen.

Da der bevorzugte Koalitionspartner der Union, die FDP, bei der Bundestagswahl 2013 an der Fünfprozentklausel scheiterte und die Zeit für eine mögliche „schwarz-grüne“ Koalition auf Bundesebene noch nicht reif war, wurden Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD für eine neuerliche Große Koalition aufgenommen. Der strittigste Punkt in den Vorverhandlungen war die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Die SPD konnte sich gegen den zähen Widerstand der Union durchsetzen.

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es nun auch in Deutschland eine gesetzliche Lohnuntergrenze – von zunächst 8,50 Euro pro Stunde. Dieser moderate Mindestlohn war eine überfällige Flankierung der Hartz-IV-Gesetze. Anders als von vielen Ökonomen, einschließlich des Sachverständigenrats, vorausgesagt, blieben massive Beschäftigungsverluste trotz eines spürbaren Anstiegs der Stundenlöhne im unteren Lohnsegment aus.

Mindestlohn von zwölf Euro kostet Jobs

Den Empfehlungen der Mindestlohnkommission entsprechend wurde die gesetzliche Lohnuntergrenze weitgehend parallel zur allgemeinen Lohnentwicklung fortgeschrieben. Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass eine im aktuellen Wahlkampf von den Parteien des Mitte-links-Spektrums in Aussicht gestellte schnelle Anhebung der Lohnuntergrenze von derzeit 9,60 Euro pro Stunde auf zwölf Euro ebenfalls ohne Beschäftigungsverluste vonstattenginge.

Zu den sozialpolitisch sinnvollen Entscheidungen dieser Regierung gehörten zweifelsohne die 2014 beschlossenen Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente wie bei der Rehabilitation. Diese Leistungsverbesserungen waren in der Sache überfällig.

Ebenfalls stellt das nach zähen Verhandlungen 2017 von Sozialministerin Andrea Nahles durchgesetzte Betriebsrentenstärkungsgesetz eine in mehrfacher Hinsicht kluge Modernisierung im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge dar. Allerdings lässt die Akzeptanz dieser neuen Möglichkeiten in der Wirtschaft noch zu wünschen übrig.

Eine bedauerliche Folge der wirtschaftlich guten zurückliegenden Dekade war, dass der damit verbundene kurzfristige finanzielle Spielraum von den beiden letzten von Merkel geführten Regierungen genutzt wurde, um Leistungsausweitungen vorzunehmen, die vor dem Hintergrund des bereits in wenigen Jahren einsetzenden massiven Alterungsschubs der Sache nach nicht zu rechtfertigen waren und definitiv nicht geeignet sind, das Sozialsystem langfristig auf eine solidere Basis zu stellen.

So konzentrierte sich die Politik auf Leistungsverbesserungen in der Rentenpolitik, die vorrangig der vermuteten eigenen Wählerklientel zugutekommen sollten. Auf Drängen der Union wurde in zwei Schritten eine neue Rente für Mütter eingeführt, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Die Kosten dieser Leistungen betrugen allein im vergangenen Jahr rund zwölf Milliarden Euro.

Parallel zur ersten Verbesserung der Mütterrente wurde – auf Drängen der SPD – die abschlagsfreie „Rente ab 63“ eingeführt, von der vor allem männliche Beschäftigte mit vergleichsweise hohen Rentenansprüchen profitierten. Es liegt der Verdacht nahe, dass die SPD mit diesem Projekt die Gewerkschaften ein Stück weit mit der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre versöhnen wollte.

Ökonomisch wirkt dieser Verzicht auf Abschläge wie eine Subvention zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Immerhin ist auch diese Leistungsausweitung insofern nur vorübergehend, als die Altersgrenze relativ zügig wieder auf 65 Jahre angehoben wird. Die rentenpolitischen Großzügigkeiten werden allerdings gerade dann ausgabenwirksam, wenn der demografisch bedingte Finanzierungsdruck markant steigt.

Grundrenten-Kompromiss schwächelt

Durch die Coronakrise kommen in den nächsten Jahren weitere Kosten auf die Rentenversicherung zu – insbesondere im Zusammenwirken mit dem Aussetzen des Nachholfaktors, der 2009 vom damaligen Sozialmister Olaf Scholz als Gegenstück zur Rentengarantie im Falle von Lohnsenkungen in die Rentenanpassungsformel eingefügt worden war. Bemerkenswert dabei ist, dass die Aussetzung dieses Faktors offensichtlich ohne Kenntnis der Bundeskanzlerin stattfand, wie Merkel in einer Bundestagssitzung auf die Frage des FDP-Politikers Johannes Vogel zu erkennen gab.

Die nach langen Querelen und hartnäckigem Drängen der SPD zum 1. Januar 2021 doch noch eingeführte Grundrente sollte das deutsche Rentensystem armutsfester machen. So begrüßenswert diese bereits von Ursula von der Leyen eingebrachte Idee war, so schwächenbehaftet ist der zwischen Union und SPD gefundene Kompromiss. Die mit einem hohen Verwaltungsaufwand nach zähen Verhandlungen verabschiedete Lösung ist aufgrund ihrer hohen Zugangshürden bestenfalls als halbherzig zu bezeichnen, nicht jedoch als zielgerichtet.

Ein anderes Ärgernis in der Wahrnehmung der Bevölkerung wurde unter Angela Merkel im Jahr 2013 abgeschafft: die Praxisgebühr, die zu Kostenersparnissen im Gesundheitswesen beitragen sollte, indem auf nicht zwingend notwendige Arztbesuche verzichtet werden sollte. Diese 2003 unter der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingeführte Gebühr war in der Sache vernünftig. Ihre Rücknahme im November 2012 war der Preis, den die schwarz-gelbe Bundesregierung für die Zustimmung der SPD zum Betreuungsgeld zahlen musste.

In den 16 Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel wurde das Sozialbudget massiv ausgeweitet. So stieg die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialausgaben am nominalen Bruttoinlandsprodukt, von 29 Prozent am Beginn ihrer Kanzlerschaft 2005 auf gegenwärtig mehr als 33 Prozent.

Da im gleichen Zeitraum das nominale Bruttoinlandsprodukt um rund 1,1 Billionen Euro zugelegt hat, entspricht dies einer Ausgabensteigerung von mehr als 450 Milliarden Euro oder nominal 70 Prozent im Vergleich zu 2005. Dabei konnte die Bundeskanzlerin aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage der vergangenen Dekade aus dem Vollen schöpfen; denn die Beitragseinnahmen stiegen seit der Finanzkrise bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie kontinuierlich.

Allerdings hat sich der finanzielle Spielraum – auch Corona-bedingt – eingeengt. Dies zeigen die erheblich gestiegen Ausgabenquoten der Sozialversicherungen. Das sozialpolitische Arbeitsfeld, das Angela Merkel ihrer Nachfolgerin oder ihrem Nachfolger im Kanzleramt überlässt, ist daher – im Vergleich zu ihrem Amtsantritt 2005 – wahrlich kein sonderlich gut bestelltes Terrain.

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