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Bürokratie-Serie Ein Blick auf den deutschen Bürokratie-Wahnsinn

Die Kosten der Anpassung an neue Gesetze sind für die Wirtschaft so hoch wie nie zuvor. Das Handelsblatt nimmt die Vorschriften, Regeln und Hemmnisse unter die Lupe.
30.09.2021 - 12:34 Uhr Kommentieren
Seit dem 1. Januar 2020 müssen Händler mit elektronischen Kassensystemen ihren Kunden bei jedem Kauf unaufgefordert einen Beleg aushändigen. Das sorgt in den Bäckereien für enormen Bürokratieaufwand. Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Eine Fachverkäuferin hängt einen Kassenzettel mit einer Klammer an eine Leine

Seit dem 1. Januar 2020 müssen Händler mit elektronischen Kassensystemen ihren Kunden bei jedem Kauf unaufgefordert einen Beleg aushändigen. Das sorgt in den Bäckereien für enormen Bürokratieaufwand.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Berlin Es gibt ein Thema in der Politik, bei dem sich alle einig sind, es ist ein wahnsinniges Problem für die Bürger, den Staat und die Wirtschaft – und doch ist es kaum in den Griff zu bekommen: die wachsende Menge an Vorschriften, Verwaltungsregeln, Entwicklungshemmnissen. „Wir blicken in Deutschland auf ein gewaltiges bürokratisches Monster „, beschreibt Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, die aktuelle Situation.

Es ist ein Monster, dessen Paradoxon darin besteht, dass es immer weiter wächst, je mehr man es zu zähmen versucht. Denn während andere gesellschaftliche Probleme durch neue Regeln und Gesetze gelöst werden können, wird das Bürokratiemonster mit jeder neuen Regelung nur weiter genährt.

Das Handelsblatt widmet sich ab heute den größten und absurdesten Auswüchsen dieses Problems in den unterschiedlichsten Sektoren wie der Energie-, Sozial- oder Industriepolitik in einer eigenen Serie. Aktuelle Zahlen zeigen, wie viel Zeit und Geld das Monster frisst: Die deutsche Wirtschaft kostete es im letzten Jahr 5,8 Milliarden Euro, sich an neue Regelungen anzupassen – so viel wie nie zuvor.

Diese Rekordsumme präsentierte der Normenkontrollrat (NKR) am Donnerstag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Geld, das Unternehmen nur dafür ausgeben, sich an gesetzliche Vorschriften zu halten. „Erfüllungsaufwand“ heißt dieser bürokratische Mehraufwand im Fachjargon. Schuld an diesem Rekordhoch seien vor allem Regelungen rund um die Corona-Pandemie.

„Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“, fasst Johannes Ludewig, Vorsitzender des NKR, die Ergebnisse zusammen. Die Anpassungskosten für öffentliche Stellen lagen mit zehn Milliarden Euro sogar noch deutlich über denen der Wirtschaft. „Das hatten wir noch nie“, sagt Ludewig.

Für Familienunternehmensexperte Kirchdörfer sind diese Zahlen sogar noch zu niedrig veranschlagt. Bei der Berechnung des Erfüllungsaufwandes handele es sich um ein „Standardverfahren, das nur die unmittelbaren Kosten berechnet“, sagt Kirchdörfer. Für die Erbschaftsteuerreform etwa waren für die gesamte deutsche Wirtschaft nur 10.000 Euro an Mehraufwand pro Jahr veranschlagt worden.

Spurensuche nach den Berechtigten

„Das ist völliger Unsinn“, sagt Kirchdörfer. „Die tatsächlichen Belastungen der Wirtschaft sind um ein Vielfaches höher.“ tatsächlich müssten viel Zeit und Geld in die Informationsbeschaffung investiert werden – teilweise mithilfe von externen Beratern, so Kirchdörfer.

Für die seit August geltenden Neuregelungen zum Transparenzregister etwa müssen Unternehmen alle wirtschaftlich Berechtigten einzeln angeben – alle Personen also, die im Unternehmen Einfluss nehmen können. Auch dann, wenn sich diese Information eigentlich schon aus anderen Registern herauslesen ließe.

Die komplexen Gesellschafterstrukturen und Rechtsverhältnisse zwischen Gesellschaftern machen die Antwort auf die Frage, wer wirtschaftlich Berechtigter ist, für Familienunternehmen sehr kompliziert. Beispiele sind Strukturen nach einem Erbfall oder Gesellschaftervereinbarungen mit Nießbrauchrechten und Mehrstimmrechten. „Bei einem internationalen Gesellschafterkreis müssen die Verhältnisse um die wirtschaftliche Berechtigung auch im Ausland geklärt werden“, berichtet Kirchdörfer. Ihm seien Unternehmen bekannt, die 100.000 Euro allein an Beratungskosten bezahlt hätten, um die Meldung ordnungsgemäß zu erstellen.

Volker Wittberg ist Professor für Mittelstandsmanagement an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld und berichtet, dass laut Studien seiner Hochschule durchschnittlich drei Prozent des Unternehmensumsatzes nur für die Erfüllung bürokratischer Pflichten aufgewendet werde. „Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sind überproportional belastet“, sagt Wittberg.

Bonpflicht in der Backstube

Zu dieser Gruppe zählen etwa Bäckereien, die neben dem Verkauf von Backwaren laut dem Normenkontrollrat Baden-Württemberg durchschnittlich 12,5 Stunden in der Woche nur mit der Erfüllung bürokratischer Pflichten beschäftigt seien. Mehr als ein Viertel einer Vollzeitstelle muss also neben dem Backen noch dafür aufgewendet werden, Dokumentationen zu erstellen oder Formulare auszufüllen.

Für zusätzlichen Ärger sorgt die seit Januar 2020 geltende Pflicht, für jedes verkaufte Brot, Brötchen oder Croissant einen eigenen Kassenbon auszustellen. Diesen auszudrucken koste Zeit und Geld und erzeuge Restmüll, der entsorgt werden müsste – denn die meisten Kunden würden ihren Kassenzettel gar nicht erst mitnehmen, so der Normenkontrollrat.

Nicht nur bei Bäckereien, auch in anderen Unternehmen entsteht erheblicher Mehraufwand dafür, Informationen und Daten zu verschicken und anzugeben, die allerdings an anderer Stelle schon vorhanden wären. Rund 120 Unternehmensregister gibt es in Deutschland. Erst ab 2024 soll laut Bundeswirtschaftsministerium eine Zentralstelle für wirtschaftliche Meldungen bereitstehen. Teilweise benötigten die Register unterschiedliche Datenformate, berichtete Familienunternehmensexperte Kirchdörfer. Eine Anpassungsarbeit, die den Unternehmen obliegt.

Laut einer unveröffentlichten repräsentativen Befragung des Ifo-Instituts im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen unter 1500 Unternehmern, die dem Handelsblatt vorliegt, halten fast 78 Prozent der Befragten den „Abbau von Dokumentationspflichten“ für ein geeignetes Instrument, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.

Denn darum geht es beim Bürokratieabbau schlussendlich: Kapazitäten freizugeben, die an anderer Stelle in die Produktivität investiert werden könnten. Professor Wittberg spricht von einer „Wirtschaftsförderung zum Nulltarif“.

Allerdings, und das ist ein weiteres Paradoxon des Bürokratiemonsters, bedeuten klare Regeln und Informationen eben auch Rechtssicherheit. „Man kann also schwerlich sagen: je weniger Bürokratie desto besser“, sagt Professor Wittberg.

Stattdessen müsste laut Normenkontrollrat vor allem die Komplexität abgebaut werden: „Die Dinge sind in Deutschland gerade zwischen Bund und Ländern wahnsinnig kompliziert organisiert“, stellt der NKR-Vorsitzende Ludewig fest.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Peter Adrian, betont die Bedeutung von Wirtschaftsvertretern bei Gesetzgebungsverfahren. „Es ist wichtig, die Wirtschaft frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess einzubinden, damit Regelungen effektiver, praxisnaher und moderner gestaltet werden.“

Fahrerschulung trotz Führerschein

Mangelnde Praxisnähe herrscht auch beim Thema Autofahren im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz. Hier müssen Unternehmen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter prüfen, die sie an anderer Stelle längst bewiesen haben. Für fest zugeordnete Dienstwagen müssen Arbeitgeber die Führerscheine ihrer Arbeitnehmer regelmäßig überprüfen, bei Fahrzeugen, die aus einem Fahrzeugpool stammen, sogar bei jeder Fahrt.

Außerdem müssen die Arbeitgeber laut der Unfallverhütungsvorschrift zusätzliche Fahrerunterweisungen anbieten. „Völlig überflüssig“, lautet das Urteil der Stiftung Familienunternehmen.

Um die Belastung von Wirtschaft, Verwaltung und Bürgern durch neue Regelungen in Grenzen zu halten, hatten sich der Normenkontrollrat und die Bundesregierung 2014 darauf geeinigt, Gesetze nach dem sogenannten „One in, one out“-Prinzip zu erlassen.

Für jede neue Vorschrift sollte eine andere abgebaut werden. Familienunternehmensexperte Kirchdörfer hält diese Regelung zwar grundsätzlich für gut, kritisiert aber, dass dabei der Erfüllungsaufwand nicht vollständig berücksichtigt werde. Es kann also passieren, dass eine „billige“ Regelung durch eine „teure“ ersetzt wird.

Weitere Nahrung für das deutsche Bürokratiemonster kommt aus Brüssel. Mehrarbeit, die durch EU-Verordnungen erzeugt wird, fließt in die Berechnungen des NKR gar nicht erst ein. „Was EU-Verordnungen angeht, haben wir keinen Überblick, da sie ein anderes Verfahren durchlaufen“, gibt NKR- Vorsitzender Ludewig zu.

Dies sei aber notwendig, um ein Gesamtbild der Belastung der Unternehmen zu bekommen.  „Das bleibt ein offener Punkt“, so Ludewig.

Im internationalen Vergleich steht Deutschland, was die Regulierung angeht, laut einer Erhebung des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung und der Beraterfirma Calculus Consult im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen, im Mittelfeld. Platz 12 von 21 OECD-Staaten, lautet das Ergebnis, an erster Stelle der Staaten mit der wenigsten Regulierung stehen die USA gefolgt von Irland und Kanada. Schlusslicht ist Italien.

International sei die deutsche Bürokratie auf jeden Fall ein Wettbewerbsnachteil, sagt Familienunternehmensexperte Kirchdörfer. Wenn er anderswo von der deutschen Regulierung erzähle, klopften sich viele Ausländer lachend auf die Schenkel.

Verzögerte Baugenehmigung

Das Lachen dürfte Tesla-Chef Elon Musk allerdings mittlerweile vergangen sein. Auch er bekam es mit der deutschen Regulierung zu tun, als er sich entschied, ein neues Werk für seine Elektrofahrzeuge im brandenburgischen Grünheide zu eröffnen. Der US-Konzern besitzt bis heute noch keine offizielle Baugenehmigung und hatte sich nach den Berührungspunkten mit der brandenburgischen Bürokratie über den enormen Zeitaufwand beschwert, den der Dokumentenaustausch in Papierform erforderte.

Diese Prozesse zu digitalisieren wäre die wohl effektivste Waffe im Kampf gegen das Bürokratiemonster. Bis das komplett erreicht ist, dürfte allerdings noch viel wertvolle Zeit ins Land gehen. Zu viel für den NKR-Vorsitzenden Ludewig, der warnt: „Die Welt wartet nicht auf Deutschland.“

Mehr: Das sind die fünf größten Bürokratie-Ärgernisse für Unternehmer

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