Wie die Bürokratie die Forschung bremst – vor allem in der Medizin
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Bürokratie-Serie Wie Bürokratie die Forschung bremst – vor allem in der Medizin
Die kleinteilige Interpretation von EU-Regeln in Deutschland belastet die Forschung. Auch die Hochschulen bemängeln die Gängelung durch die Politik.
Gerade beim Gentechnikrecht stehe der bürokratische Aufwand oft in keinem Verhältnis zu den Risiken.
(Foto: Imago)
Berlin Die Expertenkommission Forschung und Innovation EFI beklagt enorme bürokratische Hürden – speziell in der medizinischen Forschung. Das treffe ausgerechnet ein boomendes Forschungsfeld: die Entwicklung von Arzneimitteln für neue Therapien, kritisiert ihr Vorsitzender Uwe Cantner.
Einschlägige EU-Regeln würden in Deutschland „sehr eng und kleinteilig interpretiert“, sagte er dem Handelsblatt. „Während hierzulande für jeden Versuch und jede banale Tätigkeit ein Antrag gestellt werden muss, können Forschende in den USA umfassende Genehmigungen für große Projekte beantragen, die gleich eine Batterie von Versuchen beinhalten.“
Die Kleinteiligkeit führe letztendlich dazu, dass der Standort Deutschland für medizinische Grundlagenforschung und präklinische Forschung an Attraktivität verliere, warnt der Berater der Bundeskanzlerin.
Konkret müssten Forschende in Deutschland mit mehreren Behörden von Bund und Land in Kontakt treten, was zu erheblichen Verzögerungen führe. „Das föderale Durcheinander setzt sich auf europäischer Ebene fort“, berichtet Cantner. Wenn mehrere Partner kooperieren, bräuchten sie eine Vielzahl von Genehmigungen von allen nationalen Behörden. Ein Problem sei auch, dass es bei den Behörden viel zu wenig Personal für den zu erwartenden Anstieg der Genehmigungsanträge gebe.
Klinische Studien müssen durch das Paul-Ehrlich-Institut und die Ethikkommission der jeweiligen Institute genehmigt werden. Bei Letzteren seien die Kriterien aber nicht einheitlich. Japanische Forscherinnen und Forscher hingegen müssten Studien nur bei einer zentralen Behörde anmelden. Zudem beträgt die Freigabefrist in Deutschland 90 Tage, in Japan und den USA gelte sie nach 30 Tagen automatisch als erteilt.
Besonders betroffen sei die Anwendung der neuen „Genschere“ CRISPR/Cas, von der sich Expertenkreise eine Revolution in der Medizin erhoffen, sagt Cantner. Sie kann defekte Gene entfernen oder austauschen. Bei der Anwendung ist Deutschland führend, ihre Erfinderinnen wurden gar mit dem Nobelpreis geadelt.
Gerade beim Gentechnikrecht stehe jedoch der bürokratische Aufwand vielfach „in keinem Verhältnis zu den Risiken“. Auch seien die Behörden hier „zuletzt eher wieder restriktiver geworden“. Dazu kämen unterschiedliche Praktiken in den Bundesländern. Dringend notwendig sei es daher, unbedenkliche gentechnische Arbeiten vom Gentechnikgesetz auszunehmen und andere zu bündeln und einheitlich zu behandeln.
Stifterverband will generell „weniger Vorsorge und mehr Innovation“
Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft plädiert generell für einen grundsätzlich neuen Ansatz bei neuen Technologien – weniger Vorsorge, mehr Innovation: „Es kann nicht sein, dass wir bei allen Neuerungen vorab alle nur möglichen Auswirkungen durchtesten müssen, denn das führt dazu, dass Innovationen massiv gebremst werden“, sagt Vizegeneralsekretär Volker Meyer-Guckel. „Stattdessen sollten wir neue Produkte oder Dienstleistungen schneller zulassen, anwenden und bei Bedarf nachträglich Auflagen machen.“
Eine große Barriere für die Forschung sei auch „die hoffnungslose Unterdigitalisierung der Verwaltung“, so Meyer-Guckel. „Wir müssen Daten, die wir in der Gesellschaft erheben, auch für Forschungen nutzen – gerade in der Gesundheitsforschung: Israel hat das für die Corona-Impfwirkungen gemacht, wir konnten nicht einmal Daten der Luca-App nutzen.“ Auch Daten zum Lernverhalten oder Mobilitätsdaten für nachhaltige Stadtentwicklung blieben ungenutzt.
Gängelung durch die Politik beklagt selbst der oberste Innovator der Republik, Rafael Laguna, der die neue Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind) leitet. Noch-Kanzlerin Angela Merkel hatte im Mai auf dem Forschungsgipfel selbst eingeräumt, dass der Erfolg der von ihr initiierten Agentur „noch relativ klein“ sei, weil sie zu wenig Freiraum habe. Sprind soll mit einer Milliarde Euro Steuergeld für die nächsten zehn Jahre zentrale Innovationen fördern, aus denen völlig neue Märkte entstehen sollen.
Doch die ersten 18 Monate hätten gezeigt, dass sich „mit den bereitgestellten Finanzierungswerkzeugen die hochgesteckten Ziele und Erwartungen – Technologien und Ideen, die das Potenzial zur Sprunginnovation haben, finden, finanzieren und inkubieren – nur schwerlich erreichen lassen“, moniert Laguna.
Um größere Summen in ein Projekt zu investieren, müsse die Agentur eine Tochter-GmbH gründen und ihr ein Darlehen geben. „Der Pferdefuß: Auch die Tochter ist an die Vergabeordnung gebunden und muss sämtliche Ausgaben aufwendig ausschreiben.“ Zudem erbe sie auch das Besserstellungsverbot des öffentlichen Dienstes.
Denn ausgerechnet Projekte, die zentrale Innovationen umsetzen könnten und dafür „im Wettbewerb um die klügsten Köpfe im Land stehen, können Mitarbeiter:innen nicht am Unternehmenserfolg beteiligen und müssen sie nach Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlen“.
Die nächste Regierung müsse die Agentur daher dringend „ressortunabhängig aufstellen und zu einem Reallabor in der Innovationsförderung mit flexiblen Instrumenten ausbauen“. Sie müsse von den Vergaberegeln befreit werden und die Erlaubnis haben, Projekte in der Frühphase vollständig zu fördern oder sich an ihnen zu beteiligen sowie außertarifliche Gehälter zu zahlen. Zudem brauche sie einen Globalhaushalt.
Hochschulforschung: Unis müssen 200-seitige Berichte schreiben, die niemand liest
Auch Hochschulen leiden unter der Bürokratie: „Die Anforderungen nehmen stetig zu, potenziert durch überlagernde oder gar widersprüchliche Zuständigkeiten von Ländern, Bund und EU“, klagt Professor Wolfram Ressel, Präsident der Vereinigung der führenden Technischen Universitäten, TU9. Die Länder änderten zwar dauernd die Hochschulgesetze – „reformieren sie aber nie grundlegend und bauen dabei Komplexität und Bürokratie ab“.
Das treffe gerade Unis hart, deren „Haushalt inzwischen zu einem wesentlichen Teil aus Drittmitteln besteht; und die Zahl der Kooperationen mit Institutionen aus Wissenschaft und Wirtschaft steigt stetig“.
Konkret haben sie etwa eine kaufmännische Buchhaltung – müssen dem Land den Abschluss aber kameralistisch vorlegen. Für Reisekosten gilt teils Landes-, teils Bundesrecht. Auch kleinste Einkäufe müssen dreifach ausgeschrieben werden, moniert die TU9. „Unglaublich kleinteilig“ seien auch die Verwendungsnachweise – bis hin zu einzelnen Briefmarken.
Die Kosten der Bürokratie
Bürokratie vernichtet Jobs, verhindert neue Technologien und Innovationen. In mehreren Teilen zeigt das Handelsblatt die massive Folgen auf und analysiert mögliche Auswege.
Bund und Länder setzen Genehmigungsverfahren aus, um die Schäden in den Hochwassergebieten schnell zu beheben. Kann das auch ein Vorbild für die Klimakrise sein?
Enorme Lasten attestiert auch der Hochschul-Organisationsforscher Peer Pasternack von der Uni Halle. Die Regeln seien „uferlos“. Im Prinzip seien Hochschulen zwar in die Unabhängigkeit entlassen worden und hätten etwa einen Globalhaushalt. Zugleich „hat das Misstrauen der Politik jedoch zu einer Re-Regulierung geführt, die den Hochschulen jede Menge Informationspflichten aufbürdet“.
So müssten etwa die 13 öffentlichen Hochschulen Berlins jährlich 200-seitige Berichte ans Parlament liefern. „Das sind jedes Jahr 2600 Seiten, die selbst von den sechs Bildungspolitikern im Berliner Teilzeit-Parlament keiner liest – also eine krasse Verschwendung von Personalaufwand“.
Er empfiehlt den Hochschulen dennoch, „dort anzufangen, wo sie selbst etwas ändern können, indem sie die intern über viele Jahre aufgebaute Bürokratie abbauen. Da gibt es sehr viele Möglichkeiten – und es würde für große Begeisterung der Professoren führen“.
Bürokratie frisst bis zu 40 Prozent der Arbeitszeit
Pasternacks Team hat durch die Auswertung von Terminkalendern und persönliche Begleitung festgestellt, „dass Professoren 20 bis 40 Prozent ihrer Arbeitszeit auf Bürokratie verwenden“ – oft für ganz simple Dinge wie Publikationslisten oder Studentenstatistik. Ein Sekretariat haben nur die ranghöchsten Professoren.
Gut dotierte Professoren damit zu beschäftigen sei eine „grandiose Verschwendung öffentlicher Mittel“, kritisiert Pasternack. „Besonders krass ist die Lage in den Unikliniken – hier potenzieren sich Hochschul- und Krankenhaus-Bürokratie“.
Schon die Materialbestellung sei mitunter absurd: „Selbst ein Chemielabor, das wegen der Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse immer gleiche Substanzen vom gleichen Hersteller verwenden muss, muss dennoch jedes Mal drei Angebote einholen und dokumentieren.“ Grotesk werde es mitunter bei Dienstreisen: „Hier müssen Forscher selbst für Hotels mehrere Angebote einholen, oder einzeln begründen, warum der vorgesehene Übernachtungspreis von 65 bis 70 Euro überschritten wird, was etwa in München oder Frankfurt absurd ist.“
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