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Bundestagswahl 2021 Der Deutschland-Plan: 21 Aufgaben, die die nächste Regierung dringend anpacken muss

Nach der Wahl kommt auf die neue Bundesregierung viel Arbeit zu. Das Handelsblatt hat sieben Politikfelder analysiert, in denen Handlungsbedarf besteht.
24.09.2021 - 14:00 Uhr 2 Kommentare
Nach der Bundestagswahl sind einige Reformen nötig.
Wohin steuert Deutschland?

Nach der Bundestagswahl sind einige Reformen nötig.

Deutschland ist in den Merkel-Jahren reformträge geworden. Die nächste Bundesregierung wird deshalb eine Vielzahl an Veränderungen anstoßen müssen.

Im Bezug auf den Klimawandel beispielsweise hat sich in den letzten Monaten zumindest insofern etwas bewegt, als dass Deutschland jetzt nicht mehr erst 2050, sondern schon 2045 klimaneutral werden möchte. Einen Plan mit konkreten Maßnahmen, um dieses Ziel auch zu erreichen, gibt es noch nicht.

Im Wahlkampf blickte man kaum über die Bundesrepublik hinaus, doch wer auch immer in Berlin als nächstes regiert, wird sich das nicht leisten können. In der Außenpolitik muss ein Umdenken stattfinden. Es gilt, nicht zwischen den Konflikten der Großmächte unterzugehen.

Doch auch in der Sozialpolitik, Industriepolitik, Finanzpolitik und den Bereichen Innovation und Bürokratie gibt es Reformbedarf. Die Handelsblatt-Redaktion hat konkrete Vorschläge aus diesen sieben Politikfeldern zusammengetragen. Was kann, was muss die kommende Bundesregierung also tun, um Deutschland aus seiner Starre zu wecken?

1. Kampf gegen die Erderwärmung: Willkommen im Klimaklub!

von Klaus Stratmann und Silke Kersting

Wenn es um die Bewältigung der Klimakrise geht, sprechen Politikerinnen und Politiker wahlweise von einer „Menschheitsaufgabe“ oder von einer „Jahrhundertherausforderung“. Um Tatkraft zu demonstrieren, hat die Bundesregierung in der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode in Sachen Klimaschutz an vielen Stellschrauben gedreht, besonders in den vergangenen Monaten: Dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz von Ende April ließ die Große Koalition eine Verschärfung des Klimaschutzgesetzes folgen, die allen Sektoren zusätzliche Anstrengungen aufbürdet.

Der Ausbau der Energieinfrastruktur muss schneller werden. Quelle: Bloomberg
Wasserstofftanks

Der Ausbau der Energieinfrastruktur muss schneller werden.

(Foto: Bloomberg)

Die Verschärfung des Gesetzes gipfelt in der Festlegung, die Klimaneutralität nicht wie die restliche EU erst 2050, sondern vor allen anderen Ländern der Erde bereits 2045 zu schaffen. Wie lässt sich dieses ambitionierte Ziel erreichen? In den Wahlprogrammen der Parteien finden sich dazu stark divergierende Antworten und oftmals kleinteilige Lösungsansätze.

Fachleute wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm warnen indes davor, eine neue Welle der Regulierung loszutreten. Grimm empfiehlt, sich auf drei wesentliche Aspekte zu fokussieren.

An erster Stelle nennt sie den CO2-Preis. „Die nächste Bundesregierung muss die CO2-Bepreisung anschärfen“, sagte Grimm dem Handelsblatt. „Verlässliche Aussagen zu zukünftig höheren CO2-Preisen entfalten unmittelbar Wirkung – denn private Investitionen werden aufgrund von Erwartungen über die zukünftigen Rahmenbedingungen getätigt“, erklärt sie. „Man sollte einen klaren Anstieg des Preises ankündigen, aber Sprünge vermeiden. Private Konsumenten und die Wirtschaft müssen sich vorbereiten können. Zugleich muss es für Härten einen Ausgleich geben.“

Die Große Koalition hatte den CO2-Preis in den Sektoren Wärme und Verkehr mit Jahresbeginn 2021 eingeführt. Die Große Koalition wollte zunächst mit zehn Euro je Tonne CO2 einsteigen, erhöhte den Wert dann aber auf Druck der Länder auf 25 Euro. Das Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) sieht einen schrittweisen Anstieg bis 2025 auf 55 Euro vor. Die Grünen fordern, den Preis bereits 2023 auf 60 Euro anzuheben.

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Vielen Akteuren schwant, dass auch die 60 Euro noch deutlich zu niedrig gegriffen sind, um die ambitionierten Reduktionsziele zu erreichen. Ein höherer CO2-Preis erlaubt zudem Entlastungen an anderer Stelle. Grimm: „Vordringliches Ziel sollte es sein, mit den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu reduzieren und sie möglichst schnell ganz abzuschaffen“, sagt sie.

Grimm rät der nächsten Bundesregierung außerdem, dem Ausbau der Energieinfrastruktur hohe Priorität zu geben und dazu verlässliche Zeitangaben zu machen. „Das gilt nicht nur für die Stromleitungen, sondern insbesondere für die Wasserstoffinfrastruktur“, sagt sie. Konzepte, die ausreichend Anlagen zur Erzeugung, Lagerung und Verteilung von Wasserstoff aus Ökostrom erst bis 2035 in ganz Deutschland sehen, „greifen deutlich zu kurz“. Wer in diesen Zeiträumen denke, riskiere die Abwanderung von Industrie. „Die Zeitachsen müssen deutlich kürzer sein“, rät Grimm.

Bereits der Ausbau des Stromnetzes ist seit Jahren ein politisch brisantes Thema. Neue Hochspannungsleitungen sorgen regelmäßig für Proteste vor Ort, langatmige Genehmigungsverfahren und zeitraubende Verwaltungsgerichtsprozesse sind die Folge. Zwar hat es zuletzt mehrere Gesetzesänderungen gegeben, die mehr Tempo in die Verfahren bringen sollen. Der durchschlagende Erfolg ist jedoch bislang ausgeblieben.

Beim Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur ist Grimm optimistisch, da sich das Akzeptanzproblem nicht in dem Umfang stelle wie beim Bau neuer Stromleitungen. „Durch die Umwidmung bestehender Erdgasleitungen kann in großen Teilen bestehende Infrastruktur genutzt werden“, sagt sie.

Grimm rät dazu, im Klimaschutz internationale Kooperationen zu suchen. Sie „verdienen den Vorzug gegenüber unilateralem Handeln“, sagt Grimm. „Es kann Sand ins Getriebe bringen, wenn Europa mittels CO2-Grenzausgleich zur Klimafestung würde.

Das provoziert schwierige Auseinandersetzungen mit Handelspartnern wie den USA oder China“, warnt Grimm. Mit internationalen Kooperationen dagegen setze Europa das richtige Signal.

Ein Klimaklub könnte Sogwirkung entfalten

„Europa, die USA und China sollten einen Klimaklub anstreben – idealerweise mit einem gemeinsamen CO2-Mindestpreis. Wenn das nicht umsetzbar ist, insbesondere weil sich in den USA die Einführung eines CO2-Preises nicht abzeichnet, sollte man sich anderweitig koordinieren“, sagt sie.

Als Beispiel nennt Grimm gemeinsame Reduktionspfade für emissionsintensive Industrien: „Wenn ein Klimaklub gut konzipiert ist, kann er Sogwirkung entfalten. Es wird dann attraktiv für andere Länder, dem Klub beizutreten.“

Auch Hubertus Bardt, Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), empfiehlt der nächsten Bundesregierung, die Klimaklub-Idee zu verfolgen. „Man sollte mit einer Gruppe gleichgesinnter Länder beginnen und sich für einzelne Produkte oder Produktkategorien, etwa Stahl, auf einen CO2-Preis verständigen“, sagt Bardt dem Handelsblatt.

„Ich warne die Europäer davor, im Alleingang einen pauschalen CO2-Grenzausgleich festzulegen. Man darf nicht gleich den Knüppel herausholen, das provoziert verständlicherweise Abwehrreaktionen“, sagt Bardt. Die derzeitige Bundesregierung hatte erst kürzlich ein Konzept für einen Klimaklub beschlossen. Konkrete Fortschritte gibt es aber noch nicht.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Statt kleinteiliger Regulierung muss der CO2-Preis zum zentralen Steuerungselement der Klimapolitik werden. Um Klimaschutzinvestitionen planbar zu machen, bedarf es eines langfristig verlässlichen Pfades, auf dem der CO2-Preis ansteigt.
  • Der Ausbau der Energieinfrastruktur muss schneller werden, das gilt insbesondere für die Wasserstoffinfrastruktur.
  • Die nächste Bundesregierung muss weitere einseitige Zielverschärfungen vermeiden, denen andere Weltregionen am Ende nicht folgen. Statt sich mit einer CO2-Grenzabgabe abzuschotten, sollte Deutschland in der EU für „Klimaklubs“ werben, in denen Europa gemeinsam mit anderen Staaten außerhalb der EU Reduktionsziele definiert.
Die Alterung der Gesellschaft kommt die Sozialkassen teuer zu stehen. Quelle: dpa
Rente für alle

Die Alterung der Gesellschaft kommt die Sozialkassen teuer zu stehen.

(Foto: dpa)

2. Sozialpolitik: Leistung muss sich lohnen – für alle

von Frank Specht

Glaubt man den Sozialverbänden, dann hat Deutschland mit dem „Land, in dem wir gut und gerne leben“ (CDU-Wahlslogan von 2017) nicht mehr viel zu tun. Das Bild einer wohlhabenden Gesellschaft mit hohen Beschäftigtenzahlen treffe „nur in einer oberflächlichen Betrachtung“ zu, schreibt der Paritätische Gesamtverband in seinem in dieser Woche vorgestellten Jahresgutachten. Er verweist auf den großen Niedriglohnsektor, das steigende Armutsrisiko Älterer oder die Belastung von Hartz-IV-Empfängern in der Pandemie.

Dabei gab Deutschland im Corona-Jahr 2020 die gewaltige Summe von gut 1,1 Billionen Euro für Soziales aus, das entspricht einem Drittel der Wirtschaftsleistung. Betrachtet man diese Zahlen und die Kritik der Sozialverbände zusammen, dann ergeben sich zwei zentrale Herausforderungen für die künftige Bundesregierung: Sie muss Sozialleistungen zielgerichteter als bisher ausgestalten und die Kosten konsequent im Blick behalten.

Denn egal ob Rente, Gesundheit oder Pflege: Die Alterung der Gesellschaft wird – kombiniert mit dem medizinischen Fortschritt – die Sozialkassen teuer zu stehen kommen. „Das Ziel muss deshalb sein, die Kosten und Konsequenzen der Sozialpolitik nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit halbwegs gleichmäßig über alle Generationen zu verteilen“, sagt der Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI), Bert Rürup.

Also beispielsweise bei einer Reform der Alterssicherung die Last nicht nur über eine Erhöhung des Rentenalters vor allem bei den Jungen abzuladen, sondern etwa über ein Auslaufen der doppelten Haltelinie im Jahr 2025 oder über einen höheren, aus der Mehrwertsteuer finanzierten Steuerzuschuss auch die Rentenempfänger an der Finanzierung des Systems beteiligen.

Die doppelte Haltelinie sieht bislang vor, dass der Beitrag zur Rentenversicherung nicht über 20 Prozent des Gehalts steigt und das Standardrentenniveau nicht unter 48 Prozent des Durchschnittseinkommens der Arbeitnehmer sinken darf. Faktisch bedeutet dies stetig steigende Steuerzuschüsse an die Rentenversicherung.

Geld sollte zielgenau eingesetzt werden

Das Problem sei aber, so Rürup, dass es schwer sei, gegen die starken älteren Jahrgänge – jeder fünfte Wahlberechtigte ist älter als 69 – Politik zu machen. An einen großen Wurf, eine „Big-Bang-Reform“, glaubt der langjährige Vorsitzende des Sozialbeirats der Bundesregierung nicht. „Wir müssen akzeptieren, dass Rentenpolitik ein Prozess des dauernden Nachsteuerns ist – auch weil sich im Zeitverlauf die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ändern können.“

Die zukünftige Regierung müsse aber zumindest den Versuch unternehmen, nicht nur in Legislaturperioden zu denken, sondern, wie dies frühere Regierungen taten, immer auch die langfristigen Folgen ihres Handelns – oder Nicht-Handelns – aufzuzeigen.

Wenn die Ausgaben wegen der Alterung der Gesellschaft zwangsläufig steigen, dann sollte das Geld aber zumindest auch zielgenau eingesetzt werden. Die Grundrente war ein Wahlgeschenk für die SPD-Klientel, taugt aber nicht zur treffsicheren Bekämpfung von Altersarmut.

Der Sozialstaat ist gut darin, Geld von der oberen zur unteren Hälfte der Mittelschicht umzuverteilen, doch den wirklich Bedürftigen begegnet er oft als bürokratisches und zugeknöpftes Monster. Hier anzusetzen, wäre für die künftige Regierung aller Mühen wert.

Das heißt aber nicht, dass die nächste Koalition einfach die Hartz-IV-Sätze heraufsetzen sollte. Denn die beste Sozialpolitik ist eine, die Hilfebedürftigkeit gar nicht erst entstehen lässt oder Menschen in einer Notlage hilft, sich rasch wieder daraus zu befreien. Hier gibt es Fehlleistungen im System, die beseitigt werden müssen.

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„Wenn ein Grundsicherungsempfänger von jedem Euro Zuverdienst über 100 Euro 80 bis 100 Cent abgeben muss, dann handelt er rational, wenn er sein Engagement auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht erhöht“, sagt HRI-Präsident Rürup. Viele Sozialleistungen sind so schlecht aufeinander abgestimmt, dass nur ein paar Arbeitsstunden mehr den kompletten Wegfall der Transfers bedeuten. Das hat mit Hilfe zur Selbsthilfe, die Sozialpolitik immer sein sollte, wenig zu tun.

Außerdem gilt es zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst an den staatlichen Tropf geraten. Hier lässt sich an vielen Stellschrauben drehen: Gute Löhne, bezahlbarer Wohnraum, Begrenzung der Energie- und Mobilitätskosten sind nur einige Stichworte.

Natürlich kann der Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht werden. Besser wäre, dafür zu sorgen, dass niemand sein Leben lang zum Mindestlohn arbeiten muss. Das wird nicht gelingen, wenn gut 50.000 Schüler pro Jahr nicht einmal den Hauptschulabschluss schaffen oder jeder achte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte keinen Berufsabschluss hat. Für bessere soziale Aufstiegschancen zu sorgen, wie es etwa das Weltwirtschaftsforum im vergangenen Jahr angemahnt hat, sollte eine zentrale Aufgabe der nächsten Regierung sein.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Die Regierung muss klar aufzeigen, welche langfristigen Folgen ihre Sozialpolitik für künftige Generationen hat. Insbesondere was es für den Steuerzuschuss zur Sozialversicherung oder das Rentenalter bedeutet, wenn Rentenniveau und -beitrag in den kommenden Jahren stabil gehalten werden.
  • Wer sich selbst aus der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen befreien will, muss dabei unterstützt und nicht bestraft werden. So gehören beispielsweise die Hinzuverdienstregeln bei Hartz IV so reformiert, dass Beschäftigte einen höheren Anteil ihres Verdienstes behalten dürfen.
  • Besser als den Mindestlohn per Gesetz zu erhöhen, wäre, dafür zu sorgen, dass niemand sein Leben lang zum Mindestlohn arbeiten muss – durch vernünftige Bildung und Ausbildung. Gemeinsam mit den Ländern muss die nächste Bundesregierung die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss senken, ebenso wie die der Beschäftigten ohne Berufsausbildung.
Gewaltige Kosten für den Wasserstoff-Umstieg. Quelle: Reuters
Stahlproduktion bei Thyssen-Krupp

Gewaltige Kosten für den Wasserstoff-Umstieg.

(Foto: Reuters)

3. Wirtschaftspolitik: Auch mal nichts tun

von Julian Olk und Klaus Stratmann

Der Umgang mit Krisen wird für die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung zentral sein. Im Gegensatz zur Klimakrise scheint bei der Coronakrise der schlimmste Teil vorüber. Den Weg in die neue Normalität wollte die bisherige Regierung aber nicht recht angehen. Zu unpopulär war es im Wahlkampf, Überbrückungshilfen für in Not geratene Unternehmen oder den vereinfachten Zugang zum Kurzarbeitergeld zurückzudrehen. Die neue Regierung wird diesen Mut aufbringen müssen. „Es braucht einen Ausstiegsplan“, sagt der Wirtschaftsweise Volker Wieland.

Die Crux an den Coronahilfen, abgesehen von ihren gewaltigen Kosten: Sie verschleiern, welche Unternehmen ausschließlich wegen der Pandemie in Not geraten sind – und in welchen Bereichen das Corona-Virus lediglich einen bereits laufenden Strukturwandel beschleunigt hat.

Dieser Strukturwandel ist zum geflügelten Begriff der Wahlkämpfer geworden. Ob Klima, Digitalisierung, Mobilität oder Industrie, alle Parteien wollen den Wandel irgendwie gestalten. Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), fordert: „Das kann die nächste Bundesregierung nur, wenn sie Unternehmen nicht mehr künstlich am Leben erhält, die längst dem Wandel zum Opfer fallen würden.“

Ein Beispiel: Wenn wegen des Corona-Lockdowns der Einzelhandelsumsatz in den Innenstädten eingebrochen ist und ein Teil der Kunden auch danach auf Dauer dem Online-Shopping treu bleibt, kann der Staat nicht ewig notleidende Einzelhändler unterstützen.

Der Wandel trifft auch die internationalen Lieferketten der Unternehmen. Je globaler, desto billiger, desto besser: Das Mantra der internationalen Arbeitsteilung war bislang in der deutschen Industrie gesetzt. Doch die Folgen der Pandemie haben diese Strategie für viele Unternehmen zum Risiko werden lassen.

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Der Ökonom Mohamed El-Erian beobachtet, dass eine zunehmende Zahl von Managern mittlerweile davon ausgeht, dass die Probleme langfristig anhalten werden. Die anhaltende Materialknappheit für Kunststoffe, Stahlprodukte oder Halbleiter lässt die Firmen nun umsteuern.

So mancher Wahlkämpfer fordert bereits, Produktionsstandorte nach Deutschland zurückzuholen. Für einige wenige Schlüsseltechnologien wie Mikrochips mag es angebracht sein, darüber nachzudenken. „Ein Zurückfahren der Globalisierung wäre fatal“, warnt aber Ökonom Felbermayr. „Es ist lachhaft zu sagen, die Zukunft der deutschen Industrie sei die Herstellung von Atemschutzmasken.“

In diesem Bereich wird die wichtigste Aufgabe der künftigen Bundesregierung vor allem darin bestehen, aktionistischen Reflexen zu widerstehen. Die Unternehmen wissen selbst am besten, wie sie ihre weltweiten Lieferketten resilienter ausrichten.

Klare Ansagen braucht die Wirtschaft von der nächsten Bundesregierung hingegen mit Blick auf die bis 2045 angestrebte Klimaneutralität. Für einige Industriebranchen – etwa Stahl oder Chemie – geht es ums Überleben. Die Umstellung auf klimafreundliche Verfahren, die etwa auf dem Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff basieren, wird viele Milliarden verschlingen. Ohne Unterstützung durch die öffentliche Hand wird das nicht funktionieren. Das gilt insbesondere, solange die Wettbewerber in anderen Weltregionen noch auf konventionelle Weise kostengünstiger produzieren.

„Die energieintensiven Branchen brauchen einen verlässlichen Rahmen, um den Weg zur Klimaneutralität bewältigen zu können. Das betrifft die Förderung von Investitionen und die Förderung des laufenden Betriebs gleichermaßen“, sagt Hubertus Bardt, Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). „Die Unternehmen brauchen Zusagen über Jahre und Jahrzehnte. Konstruktionen, bei denen die Zahlungen Jahr für Jahr vom Wohl und Wehe des Bundesfinanzministers abhängig sind, helfen den betroffenen Branchen nicht“, sagte Bardt.

Differenzverträge können Unternehmen Sicherheit geben

Ein Instrument, um solche Hilfen zu gewähren, kristallisiert sich bereits heraus: Es handelt sich um Differenzverträge. Mit diesen Verträgen sagt der Staat den Unternehmen zu, die Mehrkosten auszugleichen, die durch den Bau und den Betrieb klimaneutraler Anlagen im Vergleich zu konventionellen Anlagen entstehen.

„Wir reden über hohe zweistellige Milliardenbeträge, die Jahr für Jahr zusätzlich investiert werden müssen, und das über Jahre und Jahrzehnte“, sagt Bardt. Die neue Bundesregierung müsse sich klar bekennen, ob sie den Fortbestand bestimmter Branchen in Deutschland möglich machen wolle.

Die Kunst besteht laut Bardt darin, den Unternehmen zu helfen, ohne dass sie dauerhaft am Tropf des Staates hängen: „Einerseits dürfen wir den normalen Strukturwandel nicht aufhalten, andererseits darf die Klimapolitik nicht einzelne Branchen aus Europa vertreiben. Das ist eine schwierige Gratwanderung.“ Genau wie bei den Corona-Hilfen.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Ein klarer Plan für den schnellen Ausstieg aus den Corona-Hilfen, inklusive des verlängerten Kurzarbeitergeldes, um den Strukturwandel nicht zu blockieren.
  • Die Wirtschaftspolitik sollte auf die Probleme in den internationalen Lieferketten auf keinen Fall mit einer Agenda der De-Globalisierung reagieren.
  • Energieintensive Branchen brauchen auf dem Weg zur Klimaneutralität die langfristige, verlässliche Unterstützung des Staates für den Bau und den Betrieb neuer Anlagen. Differenzverträge können hier das geeignete Mittel sein.
Für einen umfassenden Ausbau bleibt noch viel Arbeit. Quelle: dpa
Glasfaserkabel

Für einen umfassenden Ausbau bleibt noch viel Arbeit.

(Foto: dpa)

4. Innovation: Viel zu baggern

von Teresa Stiens

Beim Thema Digitalisierung geht es für die kommende Bundesregierung vor allem darum, Grundlagen zu schaffen, die eigentlich längst vorhanden sein sollten. Denn ohne die lassen sich ambitionierte Versprechen wie das von Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) formulierte Ziel, „Digital-Weltmeister“ zu werden, kaum umsetzen. In einem aktuellen Digitalisierungsranking des European Center for Digital Competitiveness liegt Deutschland noch hinter Ländern wie Südafrika und Russland.

Auch im Bereich der Förderung von innovativen Start-ups müsse in der kommenden Legislaturperiode noch einiges passieren, meinen Experten. Gerade für Unternehmen, die der Anfangsphase entwachsen seien, gebe es in Deutschland keine ausreichende Finanzierung. „Wenn Start-ups 50, 100 oder auch mal 300 Millionen Euro brauchen, gibt es nichts“, kritisiert Rafael Laguna, Chef der Bundesagentur für Sprunginnovationen Sprind. An so einem Punkt würden dann die Asiaten und Amerikaner einsteigen.

Er fordert deshalb, statt des zehn Milliarden Euro umfassenden Zukunftsfonds, den die Bundesregierung aufgesetzt hat, einen staatlich angestoßenen Privatfonds in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro. „Nur dann kann er auch mal eine halbe Milliarde in eine Firma stecken oder 15 Jahre auf so was wie Biontech warten“, sagt Laguna. Die nächste Regierung müsse da klotzen.

Laguna fordert außerdem, die bis zu 500 Millionen Euro teure Zulassung von Medikamenten zu beschleunigen. Gerade für Arzneimittel gegen lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer „braucht es keine jahrelangen Giftigkeitsstudien“.

Bei der Digitalisierung gilt es für die Politik, erst einmal die bereits gemachten Wahlversprechen der Vergangenheit zu erfüllen. Bis zum Jahr 2025 soll ein flächendeckender Ausbau der schnellen Internet-Infrastruktur abgeschlossen sein, so die derzeitige Bundesregierung. Ende 2020 hatten laut OECD gerade einmal 5,4 Prozent der Internetanschlüsse in Deutschland einen Glasfaserzugang. In Schweden, aber auch in Spanien lag der Wert bei über 70 Prozent.

Das Angebot für Satelliteninternet ist begrenzt und teuer

Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder sagt, das Ziel müsse sein, „ die digitale Teilhabe in der Breite der Gesellschaft stark zu verbessern“. Der Digitalverband schlägt in einem Strategiepapier vor, entlegene Gegenden per Satellit mit schnellem Internet zu versorgen.

Bisher ist das Angebot dafür begrenzt und teuer – das Bundesverkehrsministerium hat im Juni angekündigt, die Einrichtung von Satelliten-Internetanschlüssen mit 500 Euro zu subventionieren. Auch Bitkom fordert, die Technologie von ihrem „Mauerblümchen-Image“ zu befreien und als „Brückentechnologie“ stärker zu fördern.

Neben einer funktionierenden Infrastruktur, da sind sich die Digitalexperten einig, ist eine kommende Bundesregierung vor allem für den sicheren Rechtsrahmen für Zukunftstechnologien und Datenschutz verantwortlich.

Matthias Wahl, Präsident des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) fordert von der Politik ein „rechtssicheres, durchdachtes Regulierungsumfeld“. Die Unternehmen fühlten sich momentan mit den vielen neuen Vorgaben alleingelassen. „Gerade im Datenschutz gibt es unterschiedlichste Interpretationen von den Aufsichtsbehörden, die ein Agieren schwerfällig und schwierig machen“, so Wahl.

Momentan entscheiden in Deutschland 18 verschiedene Behörden über die Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung. Daher fordern Experten schon länger eine Vereinheitlichung auf Bundes- oder EU-Ebene.

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Auch für die Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle ist der Ruf nach klareren Regeln überdeutlich. Gerade in Bereichen wie Künstlicher Intelligenz müsse es größere Rechtssicherheit geben, fordert etwa der Verband für Künstliche Intelligenz.

Ein weiteres großes Zukunftsfeld, bei dem sich die Verbände und Unternehmen von der kommenden Bundesregierung mehr Unterstützung wünschen, ist der Datenaustausch. Seit die EU-Kommission mit ihrem Versuch gescheitert ist, mithilfe des Privacy Shields die Übermittlung personenbezogener Daten von EU- an US-Unternehmen rechtskonform möglich zu machen, stehen die Unternehmen vor großen Herausforderungen.

Momentan müssen sie in jedem Einzelfall den Datenschutz selbst prüfen. Die Verhinderung von Datentransfers sei für deutsche Unternehmen „mindestens ebenso gravierend wie die Blockade von physischen Warenströmen“, so Bitkom-Geschäftsführer Rohleder.

In diesem Zusammenhang, so der BVDW, müsste die Politik außerdem eine „Open-Data-Kultur“ für den öffentlichen Sektor schaffen, genau wie eine „Infrastruktur für die freiwillige Datenteilung von Unternehmen“. Dazu könnten beispielsweise sogenannte Daten-Treuhänder zum Einsatz kommen, die zwischen dem Anbieter und dem Empfänger der Daten eine sichere Instanz bieten und die Informationen wenn nötig anonymisieren.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen nach der Start-up-Phase stärker fördern. Hierfür sollte der Staat einen Fonds in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro aufsetzen, der mit privatem Kapital gefüllt wird.
  • Die Interpretation des Datenschutzes auf Bundes- oder EU-Ebene vereinheitlichen und den Datenaustausch für Wirtschaft und Verwaltung einfacher machen, zum Beispiel mithilfe eines Treuhändermodells.
  • Schnelles Internet für alle zur Verfügung stellen und dafür Brückentechnologien wie Satelliten-Internet stärker fördern.
Der nächste Finanzminister wird sich unbeliebt machen müssen. Quelle: imago images / Gerold Rebsch
Bundesfinanzministerium

Der nächste Finanzminister wird sich unbeliebt machen müssen.

(Foto: imago images / Gerold Rebsch)

5. Finanzpolitik: Einfacher und niedriger

von Martin Greive und Jan Hildebrand

Mit Robert Habeck, Christian Lindner und Friedrich Merz gibt es bereits hochkarätige Interessenten für den Posten des Bundesfinanzministers in der nächsten Bundesregierung. Wer immer oberster Kassenwart werden wird: Der nächste Finanzminister wird sich unbeliebt machen müssen. Anders als zu Zeiten der Großen Koalition wird er weniger großzügig Geld verteilen können.

Ging es bei den Koalitionsverhandlungen 2017 noch darum, ob es 30 oder 50 Milliarden Euro zu verteilen gibt, sind die Spielräume jetzt eher kleiner als größer. Bis Ende des Jahres wird der Bund wegen der Corona-Pandemie rund 370 Milliarden Euro Schulden gemacht haben. Nach den Vorgaben der Schuldenbremse müssen sie in den kommenden Jahren wieder abgebaut werden.

Die nächste Koalition wird daher Prioritäten setzen müssen: Nicht alles ist finanzierbar, aber bei entsprechender Ausgestaltung durchaus einiges möglich. Die knappen Kassen könnten sogar den Handlungsdruck erhöhen.

In den vergangenen Jahren herrschte in der Steuerpolitik weitgehend Stillstand, umso dringlicher sind nun einige Reformen. Beim Solidaritätszuschlag konnten sich Union und SPD nur auf eine halbherzige Lösung verständigen. Für 90 Prozent wurde der Zuschlag abgeschafft, die obersten zehn Prozent müssen ihn voll oder teilweise weiterzahlen. Einige zweifeln, dass das verfassungsfest ist.

Die nächste Koalition sollte einem Urteil des Verfassungsgerichts zuvorkommen und den Soli vollständig abschaffen. Das wird am besten verbunden mit einer Reform der Einkommensteuer, bei der untere und mittlere Einkommen entlastet und Sozialleistungen besser mit dem Steuersystem abgestimmt werden – sodass Einkommensschwache nicht weiter weniger in der Geldbörse haben, wenn sie mehr verdienen.

Gleichzeitig würde der Spitzensteuersatz erst bei höheren Einkommen greifen, dafür der Steuersatz leicht steigen. So wird die Reform nicht zu teuer, und fast alle Einkommensbezieher würden entlastet.

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Eine noch unveröffentlichte Analyse des Ifo-Instituts untermauert diesen Ansatz. Sie zeigt, wo die derzeitigen Steuersätze von „optimalen“ abweichen. So könnten die Steuern für Einkommen nahe 20.000 Euro so gesenkt werden, dass trotzdem kein einziger Steuerzahler „mehr Steuern zahlen muss“, wie es in der Studie heißt. Auch die Steuern für Einkommen zwischen 50.000 und 170.000 Euro seien zu hoch.

Eine Abschaffung des Solis hätte den Charme, zugleich eine Entlastung für die Wirtschaft zu sein. Mehr als die Hälfte der Steuerzahler, die weiterhin den Zuschlag zahlen müssen, sind Unternehmen. Bei der Unternehmensteuerbelastung liegt Deutschland aber mittlerweile unter den Industriestaaten an der Spitze.

Eine allgemeine Senkung der Körperschaftsteuer dürfte zumindest am Anfang der Legislaturperiode schwierig zu finanzieren sein. Ein weniger kostspieliges, aber sehr sinnvolles Instrument wären großzügigere Abschreibungsregeln für Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz. Sie könnten die digitale und ökologische Transformation beschleunigen.

Aber auch steuerliche Vereinfachungen würden den Unternehmen helfen: Die komplexe steuerliche Behandlung der Einbehaltung von Gewinnen bei Personengesellschaften muss dringend vereinfacht, die vielen Ausnahmeregelungen in der Erbschaftsteuer müssen gestrichen werden. Im Gegenzug würde der Erbschaftsteuersatz deutlich gesenkt. Eine ganz besonders mutige Koalition könnte zudem die Gewerbesteuer abschaffen.

In der Haushaltspolitik muss die nächste Koalition sicherstellen, dass die Investitionen trotz Spardruck nicht sinken. Die Schuldenbremse muss erhalten bleiben, könnte aber um eine Investitionsregel ergänzt werden, sodass Zukunftsinvestitionen per Kredit finanziert werden können, Ersatzinvestitionen oder Sozialausgaben aber von der Kreditfinanzierung ausgeschlossen bleiben. Alternativ könnte der Spielraum im Rahmen der Schuldenbremse von 0,35 auf ein Prozent erhöht werden.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Die volle Abschaffung des Solidaritätszuschlags sollte mit einer Einkommensteuerreform kombiniert werden, die sich auf eine Entlastung unterer und mittlerer Einkommen konzentriert.
  • Großzügige Abschreibungsregelungen für Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz als zielgerichtete Entlastung für Firmen.
  • Die Schuldenbremse sollte erhalten bleiben, allerdings um Ausnahmeklauseln für Investitionen ergänzt werden oder mit leicht erhöhtem Spielraum.
Die künftige Bundesregierung wird außenpolitisch vom ersten Tag an gefordert sein. Quelle: imago images/SNA
Chinesische Streitkräfte

Die künftige Bundesregierung wird außenpolitisch vom ersten Tag an gefordert sein.

(Foto: imago images/SNA)

6. Welthandel: Ende der Bequemlichkeit

von Moritz Koch

Es ist in Deutschland bewährte Wahlkampfpraxis, so zu tun, als entscheide sich die Zukunft der Republik am Tempolimit, der Pendlerpauschale oder dem Solidaritätszuschlag. Folgerichtig haben Armin Laschet und Olaf Scholz in den vergangenen Wochen einen großen Bogen um außenpolitische Themen gemacht. Einzig Annalena Baerbock hat hier und da versucht, die Bürger für die Umbrüche zu sensibilisieren, die sich jenseits der deutschen Grenzen abspielen. Dabei ist es aber auch geblieben: einem Versuch.

Dass es so nicht weitergehen kann, dürfte allen Kandidaten klar sein. Die künftige Bundesregierung wird außenpolitisch vom ersten Tag an gefordert sein, auf den tagträumerischen deutschen Wahlkampf wird ein Rendezvous mit der Realität folgen. Und so viel lässt sich jetzt schon sagen: Romantisch wird es nicht. Deutschland braucht ein neues Verständnis davon, was Außenpolitik erreichen soll und welche Mittel dafür zum Einsatz infrage kommen.

Mit welch rasanter Geschwindigkeit sich das weltpolitische Gefüge verschiebt, haben die vergangenen Wochen gezeigt. Erst ziehen die Amerikaner hastig aus Afghanistan ab, lassen das Land, das sie 20 Jahre an der Seite ihrer europäischen Verbündeten befrieden wollten, in die Hände der Taliban fallen.

Dann heben die USA einen neuen Pazifik-Pakt mit Australien und Großbritannien samt einem milliardenschweren U-Boot-Deal aus der Taufe und düpieren damit Frankreich, ihren ältesten Alliierten. All das, um China einzugrenzen, den neuen Systemrivalen. Hier macht US-Präsident Joe Biden weiter, wo sein Vorgänger Donald Trump aufgehört hat.

Wer auch immer die Bundestagswahl gewinnt, muss der Bevölkerung klarmachen, dass es kein Zurück in die gute alte Zeit gibt, in der sich deutsche Außenpolitik darauf beschränken konnte, Exportchancen von Industrieunternehmen zu maximieren. Denn das Ergebnis dieser Politik ist, dass Deutschlands Schlüsselbranchen heute von China abhängig sind und die Bundesregierung erpressbar geworden ist. Daraus entsteht die wachsende Entfremdung von den USA. Dem Ziel, ihre globale Vormachtstellung gegen das aufstrebende China zu behaupten, ordnen die Amerikaner alles unter.

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Die Bundesrepublik wird nicht dauerhaft zuschauen können, wie ihr wichtigster Bündnispartner und ihr wichtigster Absatzmarkt einen Hegemonialkonflikt austragen. „Wir brauchen eine Außenpolitik, die sich nicht ausschließlich an den Abhängigkeiten einiger Großkonzerne orientiert, sondern selbstbewusst deutsche Interessen vertritt“, sagt Thorsten Benner, Direktor des Public Policy Institute in Berlin.

Eine der wichtigsten Fragen der nächsten Legislaturperiode wird sein: Wie kann sich Europa in diesem Großkonflikt behaupten? Erwartungsvoll richten sich die Blicke nach Berlin. Doch so groß das internationale Interesse an Deutschland ist, so gering scheint das Interesse der Deutschen an der Welt zu sein. Der erste Schritt ist damit der schwierigste. Deutschland wird lernen müssen, wieder geopolitisch zu denken.

Das vergangene Jahrzehnt, das Scheitern des arabischen Frühlings, die autoritäre Härtung der Regimes in China und Russland, hat gezeigt: Es gibt keinen historisch-ökonomischen Automatismus, der bewirkt, dass sich unsere Handelspartner unseren Werten anpassen.

Das rheinische Grundgesetz, „Et hätt noch immer jot jejange“, taugt als außenpolitisches Leitmotiv nicht mehr. Gegen Staatszerfall in Nordafrika, Instabilität im Nahen Osten, russische Aggressionen und das Bestreben der Chinesen, die deutsche Industrie durch ihre eigene zu ersetzen, braucht Berlin eine Strategie, die mehr umfasst als toi, toi, toi.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrats. Die Idee wird von Experten schon länger diskutiert, Unionskanzlerkandidat Laschet hat sie aufgegriffen. Es geht darum eine Koordinierungs- und Steuerungszentrale zwischen Ministerien zu schaffen, die bisher außenpolitisch zu oft nebeneinanderher werkeln. Es kann nicht sein, dass das Bundeswirtschaftsministerium eine andere Chinapolitik betreibt als das Auswärtige Amt. Doch genauso war es in den vergangenen Jahren, wie etwa die Huawei-Debatte gezeigt hat. Das Außenministerium warnte, chinesische High-Tech-Lieferanten seien keine vertrauenswürdigen Ausstatter einer kritischen Infrastruktur wie das 5G-Netz; das Wirtschaftsministerium verstand die Aufregung nicht.
  • Eine europäische Antwort auf die Seidenstraßen-Initiative der Chinesen. Konservativ geschätzt, fehlen global 1000 Milliarden Dollar pro Jahr, um Länder an den Weltmarkt anzuschließen und die Energiewende einzuleiten. Die Chinesen haben früh erkannt, dass sie mit dem Bau von Häfen, Straßen, Zug‧strecken, Kraftwerken und Datenkabeln ihre Einflusszone ausweiten können, sie reicht inzwischen bis in die EU. Jetzt sind die Europäer gefragt, sich dieser Expansion entgegenzustemmen. Die EU ist keine Militärmacht und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein. Aber sie ist eine Wirtschaftsmacht. Das Vertrauen, das gerade deutsche Unternehmen global genießen, könnte zum Trumpf im geoökonomischen Wettbewerb werden.
  • Eine neue Balance im Außenhandel. Ausgerechnet Gesundheitsminister Jens Spahn, der bisher nicht als außenpolitischer Denker in Erscheinung getreten ist, brachte es kürzlich in einer Talkshow auf den Punkt: Die „größte Herausforderung der 20er-Jahre“ sei es, „wieder weniger abhängig von China zu werden“. Wie kann das gelingen? Nicht durch die abrupte Ent‧kopplung vom chinesischen Markt, mit neuen und vertieften Handelsbeziehungen zu anderen Partnern aber durchaus, kurz: mit Diversifizierung.
Der Digitalisierungsrückstand in der öffentlichen Verwaltung gilt als Dauerärgernis. Quelle: dpa
Akten

Der Digitalisierungsrückstand in der öffentlichen Verwaltung gilt als Dauerärgernis.

(Foto: dpa)

7. Bürokratie: Abschied vom Aktendeckel

von Dietmar Neuerer

Wer hätte gedacht, dass einmal ein US-Konzernchef Bewegung in die Bürokratiedebatte in Deutschland bringen würde. Bei einem Treffen mit dem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) auf der Baustelle der Tesla-Fabrik in Brandenburg beschwerte sich Unternehmensgründer Elon Musk über die vielen Investitionshürden.

Musk trifft damit den Nerv vieler Unternehmer und Unternehmerinnen in Deutschland. Der Bau der Tesla-Fabrik zeigt, wie die deutsche Bürokratie Industrieprojekte bremst. Anders als von Musk einst gehofft, verzögert sich der Start der Autoproduktion in Grünheide, weil das seit bald zwei Jahren laufende Genehmigungsverfahren immer noch nicht abgeschlossen ist.

Der Zeitfaktor spielt insbesondere bei Klimaschutzinvestitionen eine immer größere Rolle. „Effektiver Klimaschutz kann nur mit neuen Investitionen in industrielle Produktionsprozesse und Infrastruktur erreicht werden“, sagt der Chef des Normenkontrollrats, Johannes Ludewig. „Wenn aber die Planungs- und Genehmigungsverfahren für diese Investitionen zehn Jahre und länger dauern, sind die Klimaschutzziele schlichtweg nicht zu erreichen.“

Ein Grund für langwierige Verfahren ist die zunehmende Klagebereitschaft von Umweltverbänden. Ein Beispiel: Der Wiesbadener Projektentwickler für Windkraftanlagen Abo-Wind musste den Bau und Betrieb eines Windparks im südlichen Odenwald auf Eis legen, weil zuerst vor Gericht geklärt werden musste, ob das Projekt ein „Tötungsrisiko“ für den Schwarzstorch darstellen könnte.

Fünf Jahre dauerte der Streit, den das Unternehmen schließlich in diesem Jahr für sich entscheiden konnte. Als Konsequenz aus solchen Fällen fordert der Normenkontrollrat eine „Planungsbeschleunigungs-Agenda“. Das müsse Chefsache werden.

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Genauso wie über lähmende Genehmigungsverfahren ärgern sich Unternehmen über strenge Datenschutzvorschriften. Durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist der Bedarf an externer Beratung gestiegen. Jedes neu eingesetzte Digitalanwendung muss in Einklang mit der DSGVO gebracht werden. Das führt mitunter dazu, dass Unternehmen technologische Innovationen weniger oder gar nicht vorantreiben können. „Wir leben die Datenschutz-Grundverordnung zu extrem“, sagt der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg.

Im Alltag führen die rigiden Vorschriften etwa dazu, dass Patientendaten nicht ohne Weiteres für die Forschung ausgewertet werden dürfen. Der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, nennt das „unterlassene Hilfeleistung“ und fordert, den Datenschutz im Sinne der Gesundheit neu zu denken.

Der Datenschutz führt mitunter auch zu abstrusen Situationen. Ein Unternehmer, der anonym bleiben will, klagt etwa darüber, dass er nicht ohne die jeweilige Zustimmung der Mitarbeiter deren Geburtsdatum aus der Personalakte entnehmen könne, um etwa ein Dienstjubiläum oder einen Geburtstag zu feiern. Er stehe damit mit einem Bein in der Illegalität. Für Bitkom-Präsident Berg steht außer Frage, dass sich die Bundesregierung für eine Reform der DSGVO einsetzen muss. Pragmatische Lösungen seien gefragt.

Als Dauerärgernis gilt der Digitalisierungsrückstand in der öffentlichen Verwaltung. Im „Digital Economy and Society Index“ der EU, aber auch in anderen Rankings belegt Deutschland seit Jahren hintere Plätze. Die Folgen spüren die Unternehmen jeden Tag. Allein für die Unternehmensgründung sind hierzulande noch etliche Behörden‧gänge notwendig – teilweise wird die persönliche Anwesenheit vorausgesetzt.

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Bund, Länder und Kommunen versprechen Abhilfe mit dem sogenannten Onlinezugangsgesetz (OZG). Bis Ende nächsten Jahres sollen alle Verwaltungsleistungen in Deutschland online angeboten werden. In der Praxis bedeutet das: Über 6.000 Leistungen, zusammengefasst in 575 sogenannten OZG-Leistungsbündeln, müssen digitalisiert, verwaltungseigene Datenbanken miteinander vernetzt werden, vom Melde- bis zum Binnenschifffahrtsregister.

Ob dieses Mammutprojekt rechtzeitig gelingt, ist allerdings fraglich. Der Normenkontrollrat rechnet allenfalls mit einer „minimalen Verwaltungsdigitalisierung“. Denn die bisherige Umsetzung zeige „noch wenig greifbare Erfolge, dafür aber umso mehr offene Fragen“.

Die Wirtschaft pocht auf Ergebnisse. „Analoge Verwaltungsverfahren schwächen die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen schon heute massiv“, sagt Iris Plöger vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Das Onlinezugangsgesetz müsse daher wie vorgesehen bis Ende 2022 vollständig kommen. Und natürlich müssen sich die Behördengänge für den Bürger auch tatsächlich digital erledigen lassen.

Drei To-dos für die nächste Bundesregierung:

  • Die nächste Bundesregierung muss eine Planbeschleunigungs-Agenda verabschieden und auch tatsächlich umsetzen. Insbesondere die Einspruchsrechte von Anwohnern und Umweltverbänden müssen erhalten bleiben, sollten jedoch an einigen wenigen Stellen des Genehmigungsverfahrens gebündelt werden, um so einen zügigeren Abschluss zu ermöglichen.
  • Überzogener Datenschutz bremst Innovationen. Die neue Regierungskoalition muss die Datenschutzregeln gezielt lockern, damit Medizin und Forschung auch sensible Daten problemlos nutzen können.
  • Deutschland muss den Digitalisierungsrückstand in der öffentlichen Verwaltung aufholen und das Onlinezugangsgesetz konsequent umsetzen. Zumindest wichtige Verwaltungsleistungen wie Baugenehmigungen oder Gewerbeanmeldungen sollten schnellstmöglich flächendeckend digitalisiert und einheitlich angeboten werden.
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2 Kommentare zu "Bundestagswahl 2021: Der Deutschland-Plan: 21 Aufgaben, die die nächste Regierung dringend anpacken muss"

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  • CO2 ist überhaupt kein Problem. Armee und Rüstungsindustrie sind für 70% des Klimawandels verantwortlich.
    Denn was da kaputt gemacht wird, muss schliesslich auch wieder aufgebaut werden.

    Der Erhalt überflüssiger Strukturen tut sein Übriges. Die Deutsche Bahn nätte man spätestens 1937 abschaffen müssen, Man tat es nicht. Und am 31.08.1939 gab's dann die Quittung. Bzw. am 8.05.1945.

    Klimawandel bewirkt, dass Armeen auch in Friedenszeiten töten. In Kriegszeiten schrumpft der zivile Sektor sowieso auf unter 10 Przent. Deswegen kommen die 70% Verantwortlichkeit ziemlich genau hin. Denn ich - als ehemaliger Student einer europäischen Elitehochschule mit Abschluss u.A. im Fach Umweltmanagement/Strategisches Controlling erbuche das CO2 eines WIEDERAUFBAUs selbstverständlich korrokt auf das Konto des Verursachers. Alles andere wäre buchhalterisch ja einfach nur falsch.

  • 1. Die Menschheitsaufgabe hat auch die Menschheit insgesamt zu lösen - nicht nur die Deutschen. Sie werden verarmen, die Länder ohne politische Regulierung des Klimas erhalten einen Wettbewerbsvorteil und werden mehr CO2 ausstossen.
    2. Leistung muss sich lohnen - das sollte vor allem für Politiker gelten. Wenig Leistung und hohe Bezüge, Aufblähung des Bundestages von normal 598 auf über 700 und nach der Wahl vielleicht über 800 - dann noch irgendwelche Regierungsbauten, die keiner braucht. Der Rentner, der jahrelang schwere Arbeit geleistet hat, erhält wenig - vergleiche Österreich.
    4. Innovation: Ja, wenn das Geld nicht verbrannt wird - vergleiche Neuer Markt um das jahr 2000. Die Politik sollte den Markt unterstützen und wieder Spekualtionsfristen einführen. Selbst eine Spekulationsfrist von 10 Jahren ist aus meiner Sicht gut, da viele Investitionen/Unternehmen lange Zeit benötigen um zu wachsen.
    5. Finanzpolitk: Die Steuern in Deutschland sind exorbitant. Sowohl der kleine Mann wird abgezockt mit Steuern und Abgaben (CO2 auch noch) als auch die Unternehmer. Es rentiert sich einfach nicht ein unternehmerisches Risiko in Deutschland einzugehen, wenn man im (seltenen) erfolgsfall kaum profitiert.
    7. Bürokratie: bitte digitalisieren und WENIGER

    INSGESAMT DIE CSU/CDU UND SPD HABEN GEPENNT DIE LETZTEN JAHRE
    und wenn was entschieden wurde, dann war es selten sinnvoll.

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