Bundestagswahlen Grünen-Parteitag in Berlin: „Das Herumgeeiere der Großen Koalition beenden“

Die Grünen-Kanzlerkandidatin wirbt auf dem Parteitag für einen Politikwechsel.
Berlin „Aufbruch statt weiter so“ ist das Motto des Parteitags der Grünen. Doch der Aufbruch lässt auf sich warten. Weil nicht alle teilnehmenden Delegierten pünktlich in den Berliner Rheinbeckhallen sind, startet der Wahlparteitag nicht wie geplant um 11 Uhr, sondern mit gut 20 Minuten Verspätung.
Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Michael Kellner appellierte an die Parteimitglieder, beim Endspurt vor den Bundestagswahlen noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren, um die nächste Regierung „am liebsten gemeinsam mit der SPD“ bilden zu können. Wie schon zuvor Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock im Interview mit dem Handelsblatt erklärt hatte, würde auch Kellner die Union gern in der Opposition sehen.
Dennoch werde auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz beim dritten TV-Triell an diesem Sonntagabend sowie in den nächsten Tagen „nicht geschont“. Die Unterschiede zur SPD seien vielleicht kleiner, aber dennoch groß, sagte Kellner, etwa in der Frage des Kohleausstiegs. Zur Linkspartei äußerte er sich nicht weiter. Die größte Nähe gebe es zur SPD, „den Rest wird man in Gesprächen ausloten müssen“.
Die Grünen verharren derzeit auf dem dritten Platz nach SPD und Union. Fraktionschef Anton Hofreiter forderte seine Mitstreiter auf, dafür zu kämpfen, „dass unsere Kanzlerkandidatin Kanzlerin wird“.
Als Annalena Baerbock um kurz nach halb zwölf auf die Bühne tritt, wird sie mit stehenden Ovationen gefeiert. Baerbock dankte vor allem Co-Parteichef Robert Habeck für seine Unterstützung in den vergangenen Wochen.
Die Grünen setzen auf unentschlossene Wähler, um aufzuholen
Und sie warb für einen Politikwechsel. Jeder dritte Wähler sei noch unentschieden, sagte die 40-Jährige, die die erste Kanzlerkandidatin in der ebenfalls 40-jährigen Geschichte der Grünen ist. Das seien 20 Millionen Menschen, die noch mobilisierbar seien, Grün und damit Aufbruch zu wählen.
Bei der Bundestagswahl 2017 hatten die Grünen 8,9 Prozent der Stimmen bekommen und waren damit kleinste Fraktion im Bundestag geworden, nach Union, SPD, AfD, FDP und Linkspartei. Die nächste Regierung, so Baerbock, müsse eine Klimaregierung sein. Und diese gebe es nur, wenn Grün gewählt werde. Damit Klimaschutz die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht überfordert, legen die Grünen beim Parteitag den sechsseitigen Leitantrag „Sozialpakt für klimagerechten Wohlstand„ vor.
Es gehe jetzt nicht darum, zu sagen, was nicht gehe, warf Baerbock Union und SPD vor. Das „Herumgeeiere der Großen Koalition“ gelte es zu beenden, die letzten Jahre seien vergeudet gewesen. Sie forderte außerdem, dass man mit dem vermeintlichen Gegensatz von Markt und Staat Schluss machen solle.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann stützte Baerbock und ihre These, Verbote seien Innovationstreiber. In dieser Debatte bitte er um Gelassenheit, sagte der 73-Jährige. „Wir brauchen Leitplanken, um dem Markt eine Richtung zu geben.“ Wer behaupte, es gehe ohne, der habe die soziale Marktwirtschaft „überhaupt nicht kapiert“.
Baerbock fordert Mindestlohnerhöhung als „allererste“ Maßnahme
Es gehe nicht um Innovation oder Verbote, sagte der Grünen-Politiker. Es gehe um den richtigen Mix aus Preisen, Ordnungspolitik und Förderung. In Baden-Württemberg würden fast sechs Prozent der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung ausgegeben. „Es ist doppelt und dreifach soviel wie in den Ländern, die von Rot oder Schwarz geführt werden“, sagte Kretschmann. „Dreimal so viel wie in den Ländern, in denen die Sprüche-Weltmeister von der FDP hocken.“
Es gebe nur eine Partei, die wisse, was in diesen Zeiten zu tun sei, so Kretschmann. Und es gebe nur eine Kandidatin, die auch den Schwung habe, das auch umzusetzen: „Das ist Annalena Baerbock.“
Robert Habeck kritisiert den Wahlkampf scharf
Am Ende des Parteitags redete Co-Parteichef Robert Habeck, der Mann, der selbst gern Kanzlerkandidat seiner Partei geworden wäre, Baerbock im April aber den Vortritt gelassen hatte. „Wir erleben einen Epochenübergang, es endet die Ära Merkel“, sagte Habeck und sprach der Noch-Kanzlerin seinen Respekt aus. Sie habe dem Land viel gegeben und es stabil gehalten, mit einer hohen Opferbereitschaft und einer sehr großen persönlichen Integrität. Aber jetzt sei es dringend erforderlich, dass diese politische Ära zu Ende gehe.
Den bisherigen Wahlkampf kritisierte Habeck. „Wir sind steckengeblieben in dämlichen, in dummen Debatten, die von den politischen Mitbewerbern immer wieder hochgezogen wurden und die eigentlichen Diskussionen verstellt haben“, sagte er. Der Koalition warf Habeck vor, die Debatten auszusitzen, es sich „gemütlich“ gemacht zu haben. Die eigentlichen Herausforderungen seien in den vergangenen Monaten nicht diskutiert worden.
„Wir stehen vor Grundsatzfragen“, sagte er in seiner kämpferischen, emotionalen Rede. „Geben wir Antworten oder halten wir an der Antwortlosigkeit fest?“
Es gehe doch gar nicht um die Grünen, sagte der 52-jährige Norddeutsche, der sich in Flensburg um ein Direktmandat für den Bundestag bewirbt. Es gehe darum, dass die Politik auf Augenhöhe der Probleme zu agieren habe. Es gehe darum, dass dieses Land eine Regierung bekomme, die imstande sei, auf die immensen Herausforderungen zu reagieren.
Dass man sich „schon acht Bratwürste reingedrückt hat“ und sich frage, ob man sich noch die neunte Bratwurst leisten könne, obwohl einem nach der achten schon schlecht sei, „das scheint die soziale Frage in Deutschland zu sein“, ätzte er. „Wir mit unseren maroden Brücken, wir mit unseren verspäteten Zügen, mit unseren Funklöchern, unserem Fachkräftemangel, unserer müden Politik“, sagte Habeck. „Die Fehlleistungen sind schlimm genug, aber der Stolz auf die Fehlleistungen, das schlägt dem Fass den Boden aus.“
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