Wahlprogramme 2021: Wie wird der Arbeitsmarkt nach der Bundestagswahl? Ökonomen bewerten
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Serie Wahlcheck – Teil 10Mehr Mindestlohn, Recht auf Remote-Arbeit oder Deregulierung? Was die Parteien am Arbeitsmarkt planen
Rot-Rot-Grün wirbt für höhere Mindestlöhne und Weiterbildungsansprüche, Schwarz-Gelb will wenig regulieren. Wo die Trennlinie bei den arbeitsmarktpolitischen Plänen verläuft.
Berlin Selbst Experten scheinen manchmal ein wenig überrascht, wie gut Deutschland den Corona-Schock weggesteckt hat. „Das Arbeitsmarktgeschehen stimmt einen wirklich optimistisch“, sagte der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, kürzlich bei der Präsentation der August-Daten.
Für die Jahreszeit unüblich ist die Arbeitslosigkeit im Juli und August gesunken, spätestens 2024 dürfte es im Jahresdurchschnitt wieder so wenige Arbeitslose geben wie vor der Krise, schätzt Scheele. Die Zahl der Erwerbstätigen lag im Juli mit 44,8 Millionen nur noch um knapp eine halbe Million unter dem Vorkrisenniveau vom Februar 2020.
Sollte die künftige Bundesregierung also einfach weiter auf die Selbstheilungskräfte vertrauen – und darauf, dass sich ein zweites Jobwunder schon einstellen wird? Nein, sagen Ökonomen und Arbeitsmarktforscher. Auf die Frage nach dem dringendsten arbeitsmarktpolitischen Handlungsbedarf für die kommende Wahlperiode geben sie aber durchaus unterschiedliche Antworten.
Serie: Wahlcheck
Am 26. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. In loser Folge stellt das Handelsblatt deshalb in den kommenden Wochen zentrale Themen vor, die die künftige Regierung angehen muss. So geht es zum Beispiel um den Ausbau Erneuerbarer Energien, die Digitalisierung, den Wohnungsbau und die künftige Steuerpolitik.
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Rot-Rot-Grün wirbt für höhere Mindestlöhne und Weiterbildungsansprüche, Schwarz-Gelb will wenig regulieren. Wo die Trennlinie bei den arbeitsmarktpolitischen Plänen verläuft.
Für Union und Grüne gilt: Mehr finanzielle Förderung bringt auch bessere Forschungsergebnisse. Die FDP dagegen will die Leistung von Forschern strenger kontrollieren.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), fordert: „Die Stärkung der Sozialpartnerschaft, eine Offensive zur Verbesserung der Qualifizierung, die Abschaffung von Minijobs und eine Verbesserung der Erwerbsquote von Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte sollten die obersten Prioritäten der neuen Bundesregierung sein.“
Wenn die digitale und ökologische Transformation der Arbeitswelt nicht zulasten der Beschäftigten gehen solle, „müssen Unternehmen einen Anreiz haben, neue Stellen auch in einem unsicheren Umfeld zu schaffen“, betont Oliver Stettes, der beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) das Kompetenzfeld Arbeitsmarkt und Arbeitswelt leitet.
Auch gelte es, neue Produktivitätspotenziale zu erschließen, um den demografisch bedingten Rückgang beim gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumen abzumildern. Für beides sei „eine Arbeitsmarktordnung erforderlich, die Flexibilität erleichtert und nicht behindert“.
Flexible Beschäftigungsformen wie Zeitverträge, Leiharbeit oder Minijobs würde ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis weiter einschränken oder ganz abschaffen. Dagegen wollen Union und FDP möglichst wenig in den Arbeitsmarkt eingreifen und ihn an einigen Stellen weiter flexibilisieren – etwa beim Arbeitszeitgesetz.
Dem Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, dürfte die Wahlentscheidung an dieser Stelle kaum schwerfallen. Für ihn ist die Stärkung der Tarifbindung die Top-Priorität der künftigen Regierung – etwa durch Tariftreueklauseln bei öffentlichen Aufträgen.
Denn nur gut die Hälfte der Beschäftigten in Westdeutschland und 43 Prozent im Osten arbeiten noch in Betrieben mit Tarifverträgen. Diese gelten als Garanten für gute und faire Arbeitsbedingungen. Auch die Union macht sich deshalb dafür stark, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zu „stärken“ – es also der Regierung leichter zu machen, Tarifverträge auch auf nicht tarifgebundene Unternehmen zu erstrecken.
SPD und Grüne wollen ihn auf zwölf Euro anheben, die Linke auf 13 Euro. Aktuell verdiene immer noch mehr als jeder fünfte Beschäftigte weniger als zwölf Euro pro Stunde, weiß Dullien. „Dieser Lohn liegt gefährlich nahe an der Grenze zur Armutsgefährdung und droht selbst für Langzeitbeschäftigte in Altersarmut zu münden.“
In etwaigen Koalitionsverhandlungen mit Union oder FDP dürfte eine neue Debatte über die gesetzliche Lohnuntergrenze entbrennen – wie vor ihrer Einführung im Jahr 2015. Zwar gilt inzwischen weitgehend als Konsens, dass der Mindestlohn, mit Ausnahme von Minijobs, kaum Arbeitsplätze gekostet hat. Dass aber eine starke Erhöhung ausgerechnet nach der zweitgrößten Rezession der bundesdeutschen Geschichte ähnlich glimpflich verläuft, ist nicht gesagt.
Wirtschaftsweise Veronika Grimm warnt: „Das kann durchaus nach hinten losgehen und Wirtschaftsbereiche, die ohnehin stark von der Krise betroffen sind, zusätzlichen Belastungen aussetzen.“ Mit der Anpassung über die Kommission werde gewährleistet, dass der Mindestlohn nicht stärker als das allgemeine Lohnniveau steigt, betont die Ökonomin. „Von dem Prinzip sollte man nicht abweichen, nur weil gerade Wahlkampf ist.“
IAB: Regierung sollte Erholung absichern
Nach Ansicht von Bernd Fitzenberger, Direktor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, sollte die künftige Regierung das Hauptaugenmerk darauf legen, die Erholung am Arbeitsmarkt nach der Coronakrise abzusichern und die Erwerbstätigkeit hochzuhalten – etwa durch verbesserte Kinderbetreuung, effiziente Homeoffice-Regelungen, Unterstützung für Langzeitarbeitslose oder Anreize für Minijobber, mehr zu arbeiten.
Denn demografiebedingt gehe die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in den nächsten Jahren stark zurück. Der durch Corona ausgelöste Rückzug vieler Beschäftigter vom Arbeitsmarkt und der Rückgang der Nettozuwanderung reduzierten das Arbeitskräfteangebot weiter. Zur Finanzierung seines Wohlstands und seiner sozialen Sicherungssysteme ist Deutschland aber auf einen hohen Beschäftigungsstand angewiesen.
Zentral ist laut Fitzenberger aber ebenfalls, Beschäftigte zu qualifizieren, damit sie mit der durch Digitalisierung und Dekarbonisierung getriebenen Transformation Schritt halten können. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bringt dies gerne auf die Formel, man müsse die Beschäftigten von heute fit machen für die Arbeit von morgen. „Gelingt dies nicht, drohen Fachkräfteengpässe bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitslosigkeit oder Nichterwerbstätigkeit und verschlechterten Verdienstchancen“, warnt der IAB-.Direktor.
Auch hier sind SPD, Grüne und Linke regulatorisch unterwegs. Ihre Pläne sehen beispielsweise eine Ausbildungsgarantie, ein Recht auf Weiterbildung oder eine vom Staat geförderte Bildungsteilzeit vor.
Mittel zur Weiterbildung werden nicht in vollem Umfang genutzt
Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann, der an der Universität Freiburg Volkswirtschaft lehrt, sieht zwar viele der SPD-Vorschläge für den Arbeitsmarkt kritisch. Dem von der IG Metallinspirierten Transformations-Kurzarbeitergeld kann er aber durchaus etwas abgewinnen. In Betrieben, die im Umbruch stecken und deshalb weniger Aufträge erhalten, soll so die Belegschaft an Bord gehalten und für neue Aufgaben qualifiziert werden, bis neue Geschäftsfelder erschlossen sind.
IAB-Direktor Fitzenberger erwartet aber, dass es nicht leicht wird, Beschäftigte überhaupt für Weiterbildung zu gewinnen. So stelle die Bundesregierung schon heute umfangreiche finanzielle Mittel dafür zur Verfügung, die aber nicht im beabsichtigten Umfang genutzt würden.
IW-Ökonom Stettes betont, dass Beschäftigte, deren Arbeitsplatz beim derzeitigen Arbeitgeber keine nachhaltige Zukunft habe oder die bereits arbeitslos seien, auch eine Perspektive an anderer Stelle finden können müssen. „Kurzum: Wir benötigen Chancen für den Einstieg, den Umstieg und die Rückkehr in Arbeit durch neue Jobs.“
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