Wahlprogramme im Check - EU: Diese drei Antworten erwartet Brüssel von der nächsten Bundesregierung
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Wahlprogramme im CheckSchulden, Klimaschutz, Digitales: Diese Europa-Themen muss die nächste Bundesregierung anpacken
In Brüssel stehen schon bald wichtige Richtungsentscheidungen an. Die nächste Bundesregierung hat enormen Einfluss auf ihren Ausgang. Vor allem drei Bereiche stehen dabei im Vordergrund.
Lesen Sie hier, auf welche Themen konkret Deutschland eine Antwort finden muss:
Schicksalsfrage 1: Darf Europa weiter Schulden aufnehmen?
In der Coronakrise hat die EU einen Schritt gewagt, über den lange gestritten worden war: Sie hat in großem Maßstab Geld an den Finanzmärkten geliehen und es zur Stützung der Konjunktur an die Mitgliedstaaten weitergegeben. Noch in der Finanz- und Bankenkrise war das nicht möglich gewesen. Nun aber kann die EU 750 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Ist das eine einmalige Ausnahme angesichts der historischen Dimension der Herausforderung? Oder ist es die Blaupause einer weiteren Vertiefung der EU?
Darauf hat die nächste Bundesregierung entscheidenden Einfluss. Druck gibt es von beiden Seiten. Grob gesagt sind die südeuropäischen Staaten an gemeinsamen Schulden interessiert, weil dadurch die hohe Zinslast ihrer eigenen Verbindlichkeiten gesenkt werden könnte. Die Nordeuropäer fürchten aber um ihr gutes Standing an den Finanzmärkten. Wie die Entscheidung ausgeht, liegt auch in der Hand der deutschen Regierung.
Die deutschen Parteien sind in der Frage gespalten. Die Schuldenaufnahme sei „kein Einstieg in eine Schuldenunion – und darf es nie werden“, warnen CDU und CSU in ihrem Programm. Ihr Argument: Haftung und Verantwortung müssten in einer Hand liegen. Soll heißen: Wenn sich die EU mit ihren Schulden übernimmt, müssten die Mitgliedstaaten einspringen. Das wollen die Unions-Parteien verhindern. Auch die FDP will „schnell zu einem schuldenfreien EU-Haushalt zurückkehren“.
Die SPD sieht aber große Chancen in einer „gemeinsamen Investitionspolitik Europas“. Die EU solle sich „zu einer echten Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion weiterentwickeln“. Die Grünen haben auch konkrete Vorstellungen davon, was mit dem Geld geschehen soll: „Der Fonds stabilisiert im Krisenfall und investiert in europäische öffentliche Güter wie Klima, Forschung, digitale Infrastruktur, Eisenbahn und Bildung“, heißt es in ihrem Programm.
Auch über die Schulden der Mitgliedstaaten wird nach der Bundestagswahl verhandelt werden. Die Maastricht-Kriterien, die eine zu hohe Verschuldung der Euro-Staaten verhindern sollen, sind seit anderthalb Jahren ausgesetzt. Denn die Staaten müssen Schulden machen, um ihre Wirtschaft nach der Pandemie wieder in Gang zu bringen.
Angela Merkel beim Europäischen Rat
Deutschland hat erheblichen Einfluss auf die Gesetze, die in Brüssel erlassen werden.
(Foto: AP)
Die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts sollen sie dabei nicht bremsen. Diese Regeln hatten eigentlich vorgeschrieben, dass die jährliche Neuverschuldung drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigt und die gesamten öffentlichen Schulden nicht über 60 Prozent steigen.
Ob diese Kriterien je wieder in Kraft treten sollen, ist umstritten. Denn erstens waren sie schon vor der Coronakrise oft ignoriert worden. Und zweitens folgt auf diese Krise gleich die nächste Herausforderung, die öffentliche Investitionen in Milliardenhöhe nötig macht: der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft.
In Brüssel wie in Berlin sind die Vorschläge allerdings sehr vage, wenn es darum geht, was an die Stelle der Maastricht-Kriterien treten soll. Die Union spricht von „weiterentwickeln“, die SPD von einem „Nachhaltigkeitspakt“, die Grünen wollen eine Reform, die einen „zu hohen Kürzungs- und Privatisierungsdruck“ verhindert. Einzig die FDP hat eine klare Aussage: Sie will die Maastricht-Kriterien „in vollem Umfang“ wieder in Kraft setzen und die Sanktionen bei Verstößen dagegen verschärfen.
Schicksalsfrage 2: Wie schützt Europa das Klima?
In ihrem Klimaschutzpaket hat die EU-Kommission eine Abgabe vorgeschlagen, die ihr viel Ärger bringen kann. Wer umweltschädliche Produkte wie Stahl oder Zement in die EU exportiert, soll dafür Geld bezahlen – so viel, wie in Europa für die erforderlichen CO2-Zertifikate fällig geworden wäre.
Dieser CO2-Grenzausgleich ist der umstrittenste Teil des „Fit for 55“-Pakets, das die Kommission im Juli vorgeschlagen hat und das die Emissionen der EU bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken soll.
Andere Staaten sind alarmiert: Sie sehen sich von der Abgabe diskriminiert und könnten vor der Welthandelsorganisation WTO dagegen klagen oder Strafzölle verhängen. Handelskriege scheinen nicht ausgeschlossen zu sein. Wirtschaftsverbände wiederum kritisieren, dass der Grenzausgleich die europäischen Unternehmen nicht wirksam vor der Konkurrenz aus dem Ausland schützt, wenn sie nicht weiter freie CO2-Zertifikate zugeteilt bekommen.
Umso erstaunlicher ist, dass die CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP den CO2-Grenzausgleich klar befürworten. Die Unions-Kollegen im Europaparlament sind da skeptischer. Sie bezweifeln, dass der Grenzausgleich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen sicherstellen kann, wenn er nicht zu bürokratisch werden soll, heißt es in einem Positionspapier. Auch der BDI meint, dass der Grenzausgleich „keine Alternative zu freien Zuteilungen über das Emissionshandelssystem“ sei.
Eine andere große Streitfrage ist das Datum, zu dem Autos klimaneutral fahren sollen. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass ab 2030 nur noch emissionsfrei fahrende Autos zugelassen werden dürfen.
Da Wasserstoff und E-Fuels auch dann noch sehr teuer sein werden, läuft es daraus hinaus, dass nur noch Elektroautos gekauft werden können. Das trifft genau die Forderung der Grünen. Auch die SPD setzt auf Elektroantriebe, während FDP und Union die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass auch andere klimaneutrale Antriebe wettbewerbsfähig werden könnten. Die FDP will deswegen auch Subventionen für E-Autos abschaffen.
Für den CO2-Grenzausgleich, für klimaneutrale Autos und für das ganze Klimapaket der EU gilt: Die deutsche Position hätte großes Gewicht, könnte aber noch von der alten Bundesregierung vorgetragen werden.
Nach der Sommerpause beginnt in den Ministerien die Arbeit an den Gesetzestexten. Im Herbst sollen die Änderungsanträge vorliegen und dann zu einer gemeinsamen Position der Mitgliedstaaten zusammengefasst werden.
Das Gesetzgebungsverfahren der EU
Wenn die EU ein Gesetz erlassen will, muss die von Ursula von der Leyen geführte EU-Kommission dazu einen Vorschlag vorlegen. Ihre Experten arbeiten dazu ein vollständiges Gesetz aus und lassen es in alle EU-Sprachen übersetzen. Auf dieser Grundlage machen die Abgeordneten des Parlaments und die Minister aus den Mitgliedstaaten Änderungsvorschläge.
Bis sie sich jeweils geeinigt haben, kann es viele Monate dauern. Das Gremium, in dem die Minister zusammenkommen ist der Rat der Europäischen Union. Jeder Staat hat hier eine Stimme, trotzdem ist der Einfluss Deutschland besonders groß. Wenn alle Änderungsvorschläge vorliegen, verhandeln alle drei miteinander: Rat, Parlament und Kommission. Erst, wenn sie sich auf einen gemeinsamen Text geeinigt haben, kann das Gesetz in Kraft treten.
Wenn die Regierungsbildung in Berlin lange dauert, könnte entscheidender Einfluss von der alten Bundesregierung ausgeübt werden, statt von der neuen. Besonders bedrohlich ist das aus heutiger Sicht für die Grünen, die gerne Teil der nächsten Regierung wären und denen die Arbeit am Klimaschutzpaket besonders wichtig ist.
Schicksalsfrage 3: Traut sich Europa an ein digitales Grundgesetz?
„Wenn Sie in Brüssel sitzen, fühlt es sich vielleicht nicht unbedingt so an – aber die Welt erwartet von der EU nun Führung.“ Das sagt Shoshana Zuboff, die Ikone der Tech-Kritiker in den USA. Zwar wollen auch Politiker in den USA die Macht der Tech-Konzerne begrenzen. Aber ihre Kollegen in Europa sind weiter und haben bessere Aussichten auf Erfolg.
Weil die Gesetzgeber nicht eingeschritten sind, haben die Konzerne die Regeln für die Plattformökonomie bisher selbst geschrieben. Das ändert sich jetzt. In der EU liegen Entwürfe vor für etwas, das man ein digitales Grundgesetz nennen könnte: der Digital Markets Act (DMA) und der Digital Services Act (DSA). Das Parlament arbeitet eifrig daran, die vorgeschlagenen Regeln zu verfeinern. Auch die Mitgliedstaaten werden in den kommenden Monaten sagen müssen, wo sie Änderungsbedarf sehen.
Die grundsätzliche Stoßrichtung ist kaum umstritten, auch nicht unter den deutschen Parteien. Doch auch von der Stimme Deutschlands wird abhängen, ob die Gesetze ein enges Korsett bilden, in dem sich die Konzerne nur so bewegen können, wie es definiert ist – oder eher eine Leitplanke, die den Kurs nur leicht korrigiert.
Zeigen wird sich das an vielen einzelnen Bestimmungen: etwa ob Facebook die Daten aus seinem Netzwerk mit denen von Whatsapp zusammenführen darf; ob Amazon die erfolgreichsten Produkte auf seinem Marktplatz kopieren darf; ob Apple fremde App-Stores auf seinen Handys verbieten darf; ob Google Werbung auf den Nutzer anpassen darf.
Erstaunlich einig sind sich die deutschen Parteien bei der Interoperabilität: Sie wollen Unternehmen vorschreiben, ihre Anwendungen kompatibel mit denen anderer Unternehmen zu machen. Das würde sich vor allem bei Messengern auswirken und Nachrichten zwischen Whatsapp, Signal und iMessage erlauben. Die Konzerne wehren sich dagegen, und auch die EU-Kommission ist skeptisch.
Serie: Wahlcheck
Am 26. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. In loser Folge stellt das Handelsblatt deshalb in den kommenden Wochen zentrale Themen vor, die die künftige Regierung angehen muss. So geht es zum Beispiel um den Ausbau Erneuerbarer Energien, die Digitalisierung, den Wohnungsbau und die künftige Steuerpolitik.
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Wer Deutschland regiert, kann entscheidend Einfluss nehmen auf die Schicksalsfragen der Europäischen Union. Schon bald stehen Richtungsentscheidungen bevor.
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Für Union und Grüne gilt: Mehr finanzielle Förderung bringt auch bessere Forschungsergebnisse. Die FDP dagegen will die Leistung von Forschern strenger kontrollieren.
Der Streit in Brüssel dreht sich auch um eine Frage, die von den deutschen Parteien noch nicht beantwortet wird: Soll die Regulierung nur die ganz großen amerikanischen Plattformen betreffen oder auch viele weitere Portale aus Europa? Die deutsche Regierung könnte den Kreis klein halten wollen, um deutsche Unternehmen zu schützen. Andererseits besteht gerade die deutsche Wirtschaft aus vielen Mittelständlern, die auf Handelsplattformen angewiesen sind und von einer Regulierung dieser Plattformen profitieren könnten.
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