Wahlprogramme im Vergleich - digitale Verwaltung: Woran die Digitalisierung scheitert
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Wahlprogramme im VergleichDie Verwaltung soll digital werden – doch das fällt ihr schwer
Seit 2009 wirbt jede Koalition in ihrem Regierungsplan mit der „Digitalisierung“. Doch „digital first“ gilt bis heute selten in der Verwaltung. An zu vielen Stellen gibt es Probleme.
„Digital first, Bedenken second“, forderte im Bundestagswahlkampf 2017 die FDP. „Digital first“ hatten Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag verankert. Übrigens auch einen Digital-Tüv, der nur weniger plakativ hieß. Im Kanzleramt entstand eine Digitalabteilung und obendrein für die gesamte Regierung ein Digitalkabinett.
Damit sei das Thema „endgültig“ Chefsache geworden, wie Digital-Staatsministerin Dorothee Bär (CSU) erklärte. Dennoch muss sie einräumen: Das „zentrale Steuerungs- und Koordinationsgremium der Digitalpolitik“ tagte sechs Mal – in vier Jahren.
Der Dauerbrenner Digitalisierung gehört inzwischen in jeden Koalitionsvertrag. Erstmals tauchte er vor zwölf Jahren im Regierungsprogramm von Union und FDP auf - zwei Jahre nachdem Apple das erste iPhone auf den Markt gebracht und mit dem Smartphone das mobile Internet salonfähig gemacht hatte.
Damals ging es Union und FDP aber zunächst darum, „die flächendeckende Digitalisierung der Kinos“ sicherzustellen und auf die „Risiken“ der Digitalisierung hinzuweisen. 2013 dann zielten Union und SPD darauf ab, die Idee der einheitlichen Behördennummer 115 „ins Internet zu übertragen und zumindest die 100 wichtigsten und am häufigsten genutzten Verwaltungsleistungen innerhalb der nächsten vier Jahre bundesweit einheitlich online“ anzubieten.
Die meisten Berührungspunkte haben Bürger mit ihrer Kommune
Daraus wurde bekanntlich nichts. Ebenso wenig aus den Plänen, die sich 2018 im Koalitionsvertrag fanden. Dabei tauchte das Wort Digitalisierung erstmals in einer Überschrift des Koalitionsvertrags auf.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte in ihrem letzten Bundestagswahlkampf vor vier Jahren schon geahnt, woran es hängt, um das von ihr versprochene gemeinsame „Bürgerportal“ von Bund, Ländern und Kommunen zu schaffen. Die meisten „Berührungspunkte“ haben die Bürger mit ihrer Kommune. Merkels Blaupause war das seit August 2017 geltende Online-Zugangsgesetz. Mit dem Gesetz haben sich Bund, Länder und Kommunen verpflichtet, alle Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 digital anzubieten. Um 575 Vorgänge geht es dabei insgesamt. 460 davon fallen in die Zuständigkeit der Länder und Kommunen.
Für die Digitalisierung müssen viele verwaltungseigene Datenbanken miteinander vernetzt werden, vom Melde- bis zum Binnenschifffahrtsregister. Der federführende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ist überzeugt, dass das gelingt. Bei der Digitalisierung von öffentlichen Dienstleistungen sei „ein wunderbarer Fortschritt“ zu verzeichnen, sagte Seehofer kürzlich im Bundestags-Digitalausschuss.
Problem: Unzählige Systeme und Ressorteitelkeiten
Doch wissen die Fachleute im Bundesinnenministerium auch, dass der Weg mühsam ist. Die Digitalisierung der Verwaltung sei vor allem eine föderale Aufgabe. Doch ist es auch eine Mentalitätsfrage: Allein die Konsolidierung der IT des Bundes verzögert sich seit Jahren angesichts der unterschiedlichen Systeme und Ressorteitelkeiten. Der Prozess verschlingt weit mehr Milliarden als je eingeplant waren.
Da klingt es in der Tat fast unglaublich, wenn das Ministerium die Pläne „im Zeitplan“ wähnt und berichtet, dass von 115 Bundesleistungen bereits 85 digital angeboten werden. Schlecht sieht es indes bei kommunalen Angeboten aus. Die Forscher vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme haben etwa 300 repräsentativ ausgewählte Kommunen untersucht und resümieren: Es geht „nur schleppend“ voran.
Fünf besonders häufig nachgefragte Verwaltungsleistungen haben die Forscher näher in den Blick genommen: die KFZ-Zulassung, die Melderegisterauskunft, die Gewerbeanmeldung, der Wohngeldantrag sowie die Baugenehmigung. Demnach bieten die Kommunen erst 1,2 der fünf Dienstleistungen vollständig digital an. Das sind 0,3 Leistungen mehr als bei der letzten Auswertung vor zwei Jahren. Es gebe „noch keinen Durchbruch“.
Am besten läuft es bei der KFZ-Zulassung. Die Online-Anmeldung eines Fahrzeugs ist inzwischen in fast der Hälfte der untersuchten Kommunen möglich. Zwei Jahre zuvor war das erst in etwas mehr als jeder zehnten Kommune der Fall.
Serie: Wahlcheck
Am 26. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. In loser Folge stellt das Handelsblatt deshalb in den kommenden Wochen zentrale Themen vor, die die künftige Regierung angehen muss. So geht es zum Beispiel um den Ausbau Erneuerbarer Energien, die Digitalisierung, den Wohnungsbau und die künftige Steuerpolitik.
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Rot-Rot-Grün wirbt für höhere Mindestlöhne und Weiterbildungsansprüche, Schwarz-Gelb will wenig regulieren. Wo die Trennlinie bei den arbeitsmarktpolitischen Plänen verläuft.
Für Union und Grüne gilt: Mehr finanzielle Förderung bringt auch bessere Forschungsergebnisse. Die FDP dagegen will die Leistung von Forschern strenger kontrollieren.
Wer bauen will, kann nur in vier Prozent der Kommunen online Anträge stellen. Das könnte sich nach Einschätzung der Forscher bald ändern. Denn seit Beginn dieses Jahres steht im Landkreis Nordwestmecklenburg ein Online-Bauantrag als volldigitaler Prozess zur Verfügung. Dieser könnte nach dem Prinzip „Einer für Alle“ demnächst von anderen Kommunen übernommen werden.
Dieser „Leitgedanke“ ist laut Innenministerium zentral im föderalen Digitalisierungsprogramm: So digitalisiert ein Land eine Leistung, die dann allen anderen Ländern zur Verfügung steht. Die Bundesregierung unterstütze mit dem Konjunkturpaket die Länder dabei, solche standardisierten Online-Dienste rasch zu entwickeln.
Um schneller voranzukommen haben sich Bund und Länder die Arbeit aufgeteilt. So ist Baden-Württemberg zusammen mit dem Bundesverkehrsministerium federführend im Bereich „Mobilität und Reisen“, Brandenburg bei „Ein- und Auswanderung“ und Bremen bei „Familie und Kind“.
Die Hansestadt demonstriert mit dem Projekt „Elfe“ („Einfach Leistungen für Eltern“), wie Verwaltungsvorgänge rund um die Geburt eines Kindes mit ein paar Klicks erledigt werden können. Wer Nachwuchs bekommt, muss nicht mehr zig Formulare bei unterschiedlichen Behörden mit immergleichen Daten füllen. Stattdessen soll ein einziger online gestellter Kombi-Antrag für Elterngeld, Kindergeld und Geburtsanzeige ausreichen.
Der Haken dabei: Bisher können nur die Daten verwendet werden, die in Bremen vorliegen. Wer etwa in Stuttgart geboren wurde und nicht in Bremen geheiratet hat, ist dem Bremer Registern unbekannt. Das soll sich mit dem Großprojekt Registermodernisierung ändern.
Ein entsprechendes Gesetz hat der Bundestag in diesem Jahr beschlossen. Das Ziel ist nicht nur, sämtliche Register in Bund, Ländern und Kommunen zu digitalisieren. Durch die Nutzung der Steuer-Identifikationsnummer als Personenkennziffer sollen die Daten auch eindeutig zugeordnet werden können. Bürger bekommen damit Zugang zu allen öffentlichen Leistungen, ohne jedes Mal aufs Neue die nötigen Dokumente zusammenzutragen.
Das klingt effizient. Der Nationale Normenkontrollrat hat dennoch Zweifel am Zeitplan der Bundregierung, bis Ende 2022 alles zu schaffen. „Vermutlich müssen wir uns erst mal mit einer minimalen Verwaltungsdigitalisierung abfinden – auch wenn das natürlich nicht das ist, was man sich unter digitaler Transformation vorstellt“, sagt Sabine Kuhlmann, Vizechefin des unabhängigen Beratergremiums der Bundesregierung, im Interview mit dem Handelsblatt.
Wegen des Föderalismus empfiehlt sie, „die Dinge unterschwellig zu verändern, ohne mit dem Grundgesetz in Konflikt zu geraten“. Der Normenkontrollrat plädiert für eine „eher schlanke Digitalisierungsagentur, die mit agilen, flexiblen und innovativen Formaten die Digitalisierung operativ voranbringen kann“, sagte die Expertin. „Eine Digitalagentur wäre praktikabler und wahrscheinlich effektiver als ein großes Digitalministerium.“
Kommunen fordern für die Digitalisierung mehr Personal - und Geld
Kann es unter diesen Umständen gelingen, die Verwaltungen in Bund, Ländern und Kommunen in nur wenigen Jahren umzukrempeln? Der Deutsche Städte- und Gemeindebund spricht von einer „Herkulesaufgabe“. Um das Ziel zu erreichen bräuchten die Kommunen mehr Personal und Geld, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg.
Bis heute sei kein Cent von den drei Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket angekommen. Zudem fehle für die Aufgabe vielerorts noch entsprechend ausgebildetes Personal. „Wir brauchen eine Aus- und Weiterbildungsoffensive für digitale Kompetenzen.“
Landsberg schlägt daher vor, das Zieldatum 2022 auf die am meisten nachgefragten Leistungen zu konzentrieren. „Besser einige Leistungen gut und nutzbringend digitalisieren als unfertige, wenig hilfreiche Zwischenlösungen auf den Weg zu bringen.“
Digitalisierung braucht nicht nur effiziente Strukturen, verlässliche Software und intuitiv bedienbare Online-Formulare sondern auch juristische Grundlagen. Für viele Verwaltungsvorgänge sind noch Unterschriften auf Papier gesetzlich vorgeschrieben, ebenso wie persönliches Erscheinen bei der Behörde oder die Vorlage bestimmter Dokumente. Landsberg fordert deswegen einen echten „Digital-Tüv“ für alle neuen gesetzlichen Regelungen.
So schreitet die Digitalisierung der Verwaltung vor, wenn auch langsam. Einen Lichtblick gab es Anfang Juni: Da startete das erste einheitliche Unternehmenskonto auf Basis der Elster-Technologie, die die Finanzämter seit 20 Jahren nutzen und mit der sie auch die Coronahilfen ausgezahlt haben.
In der Startphase sind Verwaltungsleistungen der Pilotpartner Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und des Bundes angebunden, mit denen die angemeldeten Unternehmen über das System direkt kommunizieren können. CDU und CSU werben damit immer noch in ihrem Wahlprogramm.
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