Kampf um die Direktmandate Das große Zittern

Im Bundestagswahlkampf wird mit harten Bandagen gekämpft.
Berlin Kürzlich erhielten die Bürger in Berlin-Reinickendorf Post von der Vorsitzenden der CDU. Darin bat Angela Merkel, bei der Bundestagswahl beide Stimmen der CDU zu, und lobte den örtlichen Kandidaten euphorisch. „Ihre Erststimme für Frank Steffel und Ihre Zweitstimme für die CDU“, schrieb sie und bekräftigte die Aktion mit ihrer Unterschrift.
So sah es zumindest aus. Das persönliche Empfehlungsschreiben der Kanzlerin für den Kandidaten entpuppte sich schnell als Fälschung. Die örtliche CDU hatte es eigenmächtig verfasst und vorab nicht mit der Bundespartei abgestimmt.
Im Bundestagswahlkampf wird mit harten Bandagen gekämpft. Steffel gehört zu jenen Politikern, die bis zum 24. September um eines der insgesamt 299 Direktmandate in den Wahlkreisen kämpft. Die anderen 299 Plätze im Parlament besetzen die Parteien mit ihren Kandidaten von den Landeslisten, gemessen an ihrem Zweitstimmenergebnis. CDU-Kandidat Steffel ist auf der Liste der Berliner CDU nicht abgesichert. Das heißt: Gewinnt er sein Direktmandat nicht, dann zieht er nach 2009 und 2013 nicht erneut in den Bundestag ein.
Dies gilt für die meisten Unionskandidaten, wie eine Auswertung von Election.de im Auftrag des Handelsblatts zeigt. Danach werden 251 Kandidaten von CDU und CSU direkt in den Bundestag einziehen, nur 23 von der SPD, vier von den Linken und einer von den Grünen. Somit können die wenigsten Unions-Kandidaten auf den Landeslisten darauf hoffen, ins Parlament einzuziehen.
Die Prognosen von Election.de speisen sich aus Ergebnissen vorhergehender Wahlen und aktuellen Umfragen. Daraus ergibt sich, dass derzeit bundesweit nur elf Kandidaten über die Liste in den Bundestag einziehen: vier aus Nordrhein-Westfalen, drei aus Hamburg, einer aus Niedersachsen und jeweils einer aus Bremen, Berlin und für die CSU aus Bayern. „In allen ostdeutschen Ländern, Schleswig-Holstein, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und dem Saarland gilt für die Unionskandidaten: Wer den Wahlkreis nicht direkt gewinnt, bleibt draußen“, erklärt Election-Chef Matthias Moehl. Für die anderen Parteien, auch für die SPD, bedeutet dies im Umkehrschluss: Der Großteil der Kandidaten schafft es nur über die Landeslisten.
Die Prognose zeitigt ein prominentes Opfer: Ursula von der Leyen. Im SPD-dominierten Hannover hat die Bundesverteidigungsministerin keine Chance, direkt zu gewinnen. „Wenn die Union bei den Zweitstimmen weiter abrutscht oder noch einen weiteren Wahlkreis in Niedersachsen gewinnt, wäre sie raus“, resümiert Moehl. Und das, obwohl sie auf dem ersten Listenplatz der CDU steht.
Schwieriger sieht es für CDU-Kandidaten in Hessen aus. Dort steckt Bundesvorstandsmitglied Stefan Heck in der Bredouille. Er könnte gegen SPD-Kandidat Sören Bartol verlieren und den Einzug verpassen, weil auch die Landesliste derzeit nicht zieht. Ganz eng wird es für den Chef der Jungen Union, Paul Ziemiak. Der Iserlohner kandidiert erstmals wie vergeblich im NRW-Wahlkreis Herne-Bochum gegen Michelle Müntefering (SPD). Auf der Landesliste käme er als Fünfter zum Zug. Nach derzeitigem Stand reicht selbst das aber nicht, es sei denn, Marie-Luise Dött gewinnt Oberhausen direkt. Aber auch dann gilt: Sollte die CDU in Hessen und Rheinland-Pfalz besonders erfolgreich sein, dann verliert sie in Nordrhein-Westfalen einen Platz – das komplizierte Wahlrecht macht‘s möglich.
In anderen Wahlkreisen treten viele Direktkandidaten, die ihren Wahlkreis stets sicher gewonnen haben, nicht mehr an. So scheidet etwa das gesamte Bundestagspräsidium um Norbert Lammert (CDU), Edelgard Bulmahn(SPD) und Johannes Singhammer (CSU) aus. Aber auch Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) oder CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt hören auf. Deren Nachfolger müssen sich in der Regel nicht sorgen, ob sie gewinnen: „Die Wahlkreise werden in der Regel vererbt“, sagt Election-Chef Moehl. Der Wähler ist ein Gewohnheitstier.
Dennoch gibt es spannende Konstellationen: So tritt im Bergischen statt CDU-Medienstar Wolfgang Bosbach nun der örtliche Landrat Hermann-Josef Tebroke an. Ein beliebter Politiker, der aber gegen keinen Geringeren als FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner kämpfen muss. Und im Berliner Wahlkreis von Christian Ströbele (Grüne) buhlen gleich 18 Kandidaten um das Direktmandat. Bosbach und Ströbele waren im Übrigen Überflieger: Sie holten im Wahlkreis deutlich mehr Stimmen als ihre Partei. So etwas gelang zudem vor allem Gregor Gysi (Linke) in Berlin, Ulrich Kelber (SPD) in Bonn und Angela Merkel in Vorpommern.
Alle drei kandidieren wieder. Während die Kanzlerin in ihrem Wahlkreis mit der AfD zu kämpfen hat, muss Verbraucher-Staatssekretär Kelber gegen andere Prominente antreten, etwa den Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP) oder die Grünen-Bundestagsabgeordnete Katja Dörner. Beide Herausforderer sind über die Landesliste abgesichert. Kelber hingegen ist darauf angewiesen, direkt zu gewinnen.
Wer allerdings auf den Landeslisten nicht gut platziert ist, der muss auch bibbern. Schließlich ziehen mit der AfD und der FDP zwei neue Fraktionen in den Bundestag ein und werden laut aktueller Prognose 128 Sitze beanspruchen, Mandate, auf die vor allem die großen Parteien verzichten müssen. Deren Listenkandidaten fragen sich mit jeder neuen Umfrage, ob sie es schaffen oder nicht. Ihnen bleibt nur eine Hoffnung: die Überhangmandate. Sie entstehen, wenn aus einer Partei mehr Direktkandidaten den Sprung ins Parlament schaffen, als der Partei Sitze über das Zweitstimmenergebnis zustehen. Dieses Übergewicht im Parlament wird dann ausgeglichen, indem auch die anderen Parteien mehr Sitze erhalten, die sie mit Vertreter ihrer Landeslisten besetzen.
Derzeit rechnet Election mit insgesamt 27 Überhangmandaten, 25 bei CDU und je eines bei SPD und CSU. Insgesamt aber verliert die Union 47 Sitze, die SPD 41, während neben AfD und FDP die Grünen (plus sieben) und die Linke (plus eins) zulegen. Nach dem Ausgleichsmechanismus würde das Parlament derzeit um zusätzlich 38 Listenkandidaten anwachsen und anstatt 598 dann 663 Abgeordnete zählen.
Dabei gibt es ein Kuriosum: Nach den Berechnungen von Election wird die CSU ein Überhangmandat erhalten – womit der Spitzenkandidat Joachim Herrmann trotz Listenplatz eins den Einzug in den Bundestag verpassen würde. Er bewirbt sich nicht um ein Direktmandat. Allerdings ist das Wahlrecht komplizierter, so dass die CSU wegen der vielen Überhangmandate der CDU selbst auch ein Ausgleichsmandat erhält – und damit der Listenplatz eins der CSU doch zieht. Herrmann könnte also nach Berlin wechseln, um Bundesinnenminister zu werden, so er sein Amt als Landesminister wirklich aufgeben will.
Auch ist nicht ausgemacht, dass es bis zum Wahltag bei dem derzeitigen Zweitstimmenergebnis bleibt: Die CDU verliert traditionell zum Wahlendspurt noch Stimmen. „Viele Unionswähler überlegen, ob sie nicht doch FDP wählen“, hat etwa der Düsseldorfer Bundestagsabgeordnete Thomas Jarzombek (CDU) im Wahlkampf bemerkt. Weil die SPD im Kampf um die Erststimmen schwach ist, dürfte damit die Zahl der Überhangmandate für die CDU und damit der Abgeordneten insgesamt weiter steigen. „Das Wahlrecht ist nicht für ein Sechs-Parteien-System gemacht“, sagt Moehl.
Bei der SPD werden nur etwa 43 der 299 Kandidaten den Sprung direkt ins Parlament schaffen – und dies in besonders sicheren Wahlkreisen wie Aurich/Emden und weiten Teilen des Ruhrgebiets. Inzwischen wackeln auch scheinbar sichere Wahlkreise. So tritt etwa der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach in Köln wieder direkt an. 2013 konnte er sich knapp durchsetzen. Nun aber kandidiert auch der international renommierte Kriminalbiologe Marc Benecke (Die Partei). „Er könnte den SPD-Kandidaten um die entscheidenden zwei bis drei Prozentpunkte bringen“, sagt Moehl. Oder Gelsenkirchen: Hier hört der Bundestagsabgeordnete Joachim Poß nach 37 Jahren auf. SPD-Kandidat Markus Tönns muss gegen die AfD kämpfen – die bei der Landtagswahl fast 14 Prozent holte. Tönns wird gewinnen, aber nicht mehr so sicher wie zu Zeiten, als Poß noch bundesweit das beste Erststimmenergebnis mit mehr als 50 Prozent für die SPD holte.
Angst vor der AfD hat auch die CDU im Osten, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, der Heimat von Angela Merkel. Dort kandidiert im Wahlkreis 16 Philipp Amthor. Damit nicht die AfD gewinnt, bekam der 24-Jährige prominente Unterstützung: CSU-Chef Horst Seehofer reiste zu seinem einzigen Wahlkampfauftritt außerhalb Bayerns nach Neubrandenburg und vertrat seine Haltung in der Flüchtlingspolitik. „Die Positionen von Horst Seehofer haben in der Union ihre Berechtigung und stoßen auch in Norddeutschland auf viel Zustimmung“, sagt Amthor. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble und Fraktionschef Volker Kauder schauten vorbei und natürlich Kanzlerin Merkel selbst. Amthor bedankte sich bei ihr, dass sie die Termine persönlich ermöglicht habe. In ihrem Nachbarwahlkreis soll der CDU kein politisches Unglück geschehen.
Die Sorge dürfte allerdings unbegründet sein. Zwar sei der Wahlkreis eine AfD-Hochburg, sagt Election-Chef Moehl‧. „Aber die Landtagswahl ist nicht die Bundestagswahl.“ Zum einen werde die CDU deutlich besser mobilisieren. Zum anderen sei die Flüchtlingsfrage „nicht mehr so relevant für die Wahlentscheidung“. Deshalb werde die AfD auch in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr 20,8 Prozent wie bei der Landtagswahl erreichen. „Im Wahlkreis 16 sehen wir die CDU daher mit solidem Vorsprung.“
Im Gerangel um die besten Plätze könnte es aber weitere prominente Opfer geben, etwa in Berlin. Das gilt nicht etwa für Frank Steffel: Er dürfte es trotz des gefälschten Merkel-Briefs schaffen. Reinickendorf gehört zu den sicheren Wahlkreisen für die Berliner CDU ebenso wie Zehlendorf, wo der ehemalige Justizsenator Thomas Heilmann direkt kandidiert. Bei seiner Wahl waren Anfang des Jahres gefälschte Wahlzettel im Umlauf. Geklärt ist die Sache bis heute nicht. Verlieren dürfte Frank Henkel, der einstige Innensenator – und vielleicht auch Renate Künast.
Die einstige Bundesverbraucherministerin steht zwar auf Listenplatz drei der Grünen. Allerdings könnte Canan Bayram das Direktmandat von Ströbele holen, was Künast den Einzug kosten würde. Bayram gehört zur Parteilinken, weshalb es jetzt bei den Realos heißt, Bayram sei „unwählbar“. Ex-Fraktionschef Volker Ratzmann wird mit den Worten zitiert: „Dass die auch noch Renate rauskegelt, das darf echt nicht passieren.“ So kämpfen Grüne gegen ihr einziges Direktmandat.
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