Chemiebranche Mehr Freizeit oder Urlaubsgeld? Gewerkschaft IG BCE fordert freie Wahl für ihre Mitglieder
Berlin Die Forderung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) hat es in sich. Sechs Prozent mehr Geld fordert sie für die 580.000 Beschäftigten. Obendrauf soll es noch einen Prozentpunkt zusätzlich für eine Verdoppelung des Urlaubsgelds von heute rund 614 Euro geben. Und die Gewerkschaft will eine „zukunftsorientierte Weiterentwicklung bestehender Arbeitsbedingungen“ erreichen.
Diese Forderung könnte sich neben den Lohnprozenten zum Hauptknackpunkt der Tarifrunde entwickeln, die nach regionalen Runden nun an diesem Mittwoch mit den ersten bundesweiten Verhandlungen in Hannover in die heiße Phase geht. Denn Verhandlungsführer Ralf Sikorski hat inzwischen die Katze aus dem Sack gelassen, wie die Gewerkschaft die Arbeitsbedingungen weiterentwickeln will: Aus den Betrieben sei vielfach der Wunsch nach einer Wahloption gekommen, das höhere Urlaubsgeld in mehr Freizeit umzumünzen, sagte Sikorski der „Tarifzeitung“ der IG BCE.
Damit steht der Chemieindustrie eine Tarifrunde bevor, wie sie die Deutsche Bahn oder die Metall- und Elektroindustrie schon hinter sich haben. Vielen Beschäftigten ist mehr Freizeit inzwischen wichtiger als mehr Geld. Auch die Politik hat auf Bedürfnisse der Arbeitnehmer, in bestimmten Lebensphasen beruflich kürzerzutreten, reagiert.
Im Juni passierte der Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur neuen Brückenteilzeit das Kabinett. Tritt das Gesetz wie geplant Anfang 2019 in Kraft, können Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 45 Beschäftigten zeitlich befristet ihre Arbeitszeit kürzen und danach zum ursprünglichen Volumen zurückkehren.
Schon diese gesetzliche Neuregelung werde viele Unternehmen vor große Herausforderungen stellen, sagte der Verhandlungsführer des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC), Georg Müller, dem Handelsblatt. Und nun trete die Gewerkschaft auch noch mit der Forderung nach mehr Urlaub an. Eines müsse aber klar sein: Das Arbeitsvolumen insgesamt dürfe in Zeiten des Fachkräftemangels nicht sinken, sagte Müller. Heißt konkret: Wenn ein Mitarbeiter mehr Freizeit will, muss ein anderer mehr arbeiten.
Erfahrungen mit Wahlmodellen konnte man bereits bei der Bahn sammeln. Der Staatskonzern hatte rund um den Jahreswechsel 2016/17 mit den Gewerkschaften EVG und GDL vereinbart, dass sich die Beschäftigten entweder für die zweite Stufe der Tariferhöhung von 2,6 Prozent oder alternativ für eine um eine Stunde verkürzte Wochenarbeitszeit oder sechs zusätzliche Urlaubstage entscheiden können. 56 Prozent der Beschäftigten wählten die Urlaubsoption, gut 41 Prozent das Geld, der Rest die Arbeitszeitverkürzung.
Um das Arbeitsvolumen trotz des Wahlmodells halten zu können, hat die Bahn 1500 Mitarbeiter neu eingestellt. „Bei 19.000 Neueinstellungen im Jahr ist das schon eine signifikante Größe“, sagte Sigrid Heudorf, Leiterin Beschäftigungsbedingungen bei der Bahn. Die Vertretung lasse sich noch regeln, aber nun sei bei der Arbeitszeitverkürzung auch das Ende der Fahnenstange erreicht.
Allerdings: „Bei der Rekrutierung neuer Kräfte hilft uns das Wahlmodell schon sehr, das bringt uns einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt“, sagte Heudorf. Neue Kollegen lassen sich ganz offenbar mit der Option auf zusätzliche Urlaubstage ködern.
In Deutschlands größter Industriebranche steht die Bewährungsprobe erst noch aus. Hier hatten sich die Tarifparteien im Februar auf größere Flexibilität bei der Arbeitszeit verständigt. Bis Ende September müssen die Beschäftigten entscheiden, ob sie im kommenden Jahr ihre Arbeitszeit für bis zu zwei Jahre auf bis zu 28 Wochenstunden absenken wollen. Metaller, die Kinder oder pflegebedürftige Angehörige betreuen, sowie langjährige Schichtarbeiter können statt des vereinbarten tariflichen Zusatzgelds auch acht zusätzliche Urlaubstage in Anspruch nehmen.
Um den Ausfall des Arbeitsvolumens zu begrenzen, hatten die Arbeitgeber Gesamtmetall durchgesetzt, dass mehr Beschäftigte als bisher nach oben von der 35-Stunden-Woche abweichen dürfen. Außerdem greift eine Überlastklausel: Betriebe können die „kurze Vollzeit“ ablehnen, wenn schon 18 Prozent ihrer Beschäftigten in Teilzeit sind. Solche Regelungen kann sich Chemie-Verhandlungsführer Müller auch für die eigene Branche vorstellen.
Insgesamt ist Teilzeitarbeit in Deutschland weiter auf dem Vormarsch. Nach neuen Daten des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahresquartal um 1,5 Prozent auf knapp 16 Millionen. Allerdings nahm die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um 1,8 Prozent und damit stärker zu, sodass die Teilzeitquote ganz leicht auf 39,2 Prozent gesunken ist.
Zugenommen hat im zweiten Quartal dagegen die Zahl der bezahlten Überstunden pro Arbeitnehmer – um 0,4 auf 6,7 Stunden. Darüber hinaus fielen 6,7 unbezahlte Überstunden an. Für die Chemiegewerkschaft ist das willkommene Munition, um für eine Entlastung der Beschäftigten zu trommeln. In den ostdeutschen Tarifbezirken und Berlin gilt bereits das „Potsdamer Modell“.
Hier wählen die Betriebsparteien die Wochenarbeitszeit in einem Korridor von 32 bis 40 Stunden frei. Auch persönliche Arbeitszeitwünsche können berücksichtigt werden. Mit der Wahloption will die IG BCE nun die individuelle Freiheit für alle Beschäftigten erhöhen – und Mitglieder gewinnen. Für die IG Metall hat sich der Kampf um flexiblere Arbeitszeiten bereits ausgezahlt. Im Januar und Februar – also in der Hochphase des von Streiks begleiteten Tarifkonflikts und unmittelbar nach dem Abschluss – zählte sie nach eigenen Angaben fast dreimal so viele Neuaufnahmen wie im Vorjahreszeitraum.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.