Corona-Beschränkungen Mit der Geduld am Ende: Politiker und Wirtschaft drängen auf Lockerungen

Viele Branchen hoffen mit Blick auf die anstehenden Beratungen der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten auf Perspektiven.
Berlin Vor der Sitzung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten am kommenden Mittwoch wächst der Druck aus Politik und Wirtschaft, die strengen Corona-Auflagen zu lockern. „Für mich ist ganz klar, dass es Öffnungsschritte geben muss“, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) dem Handelsblatt.
Die Fortschritte bei den Impfungen und bei den Selbsttests gäben „Rückenwind“. Allerdings sei es sicherlich nicht verantwortbar, alles zeitgleich wieder zu öffnen, betonte Giffey. „Das Öffnen muss stufenweise geschehen und verantwortlich sein. Wir dürfen nicht riskieren, Erfolge wieder zu verlieren.“
Neben dem Einzelhandel erhoffen sich auch andere geschlossene Branchen wie die Gastronomie oder der Tourismus von den Gesprächen am Mittwoch endlich eine Perspektive. Auch die Bürger verlieren langsam die Geduld.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa für die „Bild am Sonntag“ sprachen sich 75 Prozent dafür aus, dass die Geschäfte im März wieder öffnen, für Restaurants befürworten dies 54 Prozent der Befragten. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte am Freitag mit seinen Länderkollegen beraten und ein eigenes Öffnungskonzept angekündigt. Noch am Sonntag wollte er seine Vorschläge an die Verbände verschicken.
Seine Länderkollegen machen Druck: Anders als beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020 „stehen uns mittlerweile vielfältige Werkzeuge der Pandemiebekämpfung zur Verfügung, die intelligentere Lösungen als pauschale Schließungen erlauben“, sagte der Vorsitzende der Wirtschaftsministerkonferenz, Nordrhein-Westfalens Ressortchef Andreas Pinkwart (FDP), dem Handelsblatt.
Allerdings gibt es auch Forderungen nach einem abgestimmten Vorgehen: Ein Flickenteppich an unterschiedlichen Regeln und Vorgehensweisen wäre „das Letzte, was wir jetzt brauchen“, sagte Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Gebe es nach den Gesprächen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten keine entsprechenden Vorgaben, „werden wir ganz sicher eine Kakofonie unterschiedlicher Vorgehensweisen in den Ländern erleben“, warnte Tiefensee.
Die meisten Länder gehen schon eigene Wege
Diese Vielstimmigkeit ist allerdings längst Realität. Obwohl der bundesweite Lockdown mit Ausnahme der Frisöre und der Grundschulen eigentlich noch bis zum 7. März gilt, gehen die meisten Länder schon eigene Wege. In Baden-Württemberg öffnen bereits an diesem Montag auch Blumenläden und Gartenmärkte. Ähnlich verfahren Bayern, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, das Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.
Die meisten Bundesländer stellen auch der Gastronomie und dem Handel im März Lockerungen in Aussicht. Altmaier hatte betont, die Bewirtung von Gästen in Außenbereichen werde wahrscheinlich um Ostern herum wieder möglich sein.
Baden-Württemberg will seinen Einzelhändlern in einem ersten Schritt zum 8. März das sogenannte „Click & Meet“ ermöglichen. Kunden können dann wieder in den Läden stöbern, Waren begutachten und kaufen, sofern sie sich vorab einen Termin für ihren Einkauf reserviert haben. Das Konzept biete „zunächst für kleinere Geschäfte eine echte Perspektive“, sagte Landeswirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) dem Handelsblatt. Diese Form des Einkaufens planen auch Sachsen und Schleswig-Holstein. Schulen und Kindergärten haben teilweise unter Auflagen schon wieder geöffnet.
Zurückhaltend agieren die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin angesichts der Corona- Infektionslage und neuer Gefahren durch Virusmutationen. Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) sagte, der Senat stehe zur begonnenen schrittweisen Schulöffnung und zu den Lockerungen für Friseure, die ab 1. März öffnen dürfen. Weitere Lockerungen stünden aber zunächst nicht an.
Diskutiert werde aber ein Stufenplan, „der auch die 35er-Inzidenz in den Blick nimmt“. Andere Länder haben auch eigene Stufenpläne erstellt. In Thüringen sind demnach Öffnungen für Gastronomie, Einzelhandel, Fitnessstudios, Bars, Klubs und Diskotheken ab bestimmten Inzidenzwerten vorgesehen.
Eine wichtige Voraussetzung, um sie realisieren zu können, sei eine umfassende Teststrategie, sagte Tiefensee: „Flächendeckende Schnelltests sind das A und O für den Weg aus dem Lockdown.“ Diese Tests müssen in Schulen, Behörden, Läden und kleineren Betrieben in ausreichender Zahl und kostenfrei zur Verfügung stehen.
Neben flächendeckenden Tests könnten auch Fortschritte bei der Impfkampagne den Weg zurück in die Normalität ebnen. Mehrere Ministerpräsidenten forderten am Wochenende, die Impfpriorisierung zu ändern, um bislang nicht genutzte Dosen des Herstellers Astra-Zeneca rasch verimpfen zu können.
„Priorisierung ein Mittel der Mangelverwaltung“
Das Vakzin ist nur für unter 65-Jährige empfohlen, kann also bei der Bevölkerungsgruppe mit der höchsten Impfpriorität nur bedingt genutzt werden. „Die Priorisierung ist ein Mittel der Mangelverwaltung“ und solle für Astra-Zeneca „zügig aufgehoben werden“, sagte Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Der Impfstoff habe eine „große Wirkung“ und schütze genauso gut wie der vom deutschen Hersteller Biontech.
Auch aus der Wirtschaft kommen Forderungen, das Impfen zu beschleunigen – und Angebote, dabei selbst mitzuwirken. Da Impfungen der Schlüssel für Lockerungen seien, sollten Betriebsärzte und betriebliche Gesundheitsdienste so früh wie möglich in die Impfstrategie einbezogen werden, schlägt der Präsident des Chemiearbeitgeberverbands BAVC, Kai Beckmann, in einem Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor.

Auch der Einzelhandel hofft auf Lockerungen.
Derzeit sei zwar eher das Problem, dass es insgesamt noch zu wenig Impfstoff gebe, sagte Beckmann dem Handelsblatt. Das sei aber wahrscheinlich im April schon anders. Nach Berechnungen des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung könnten dann bis zu drei Millionen Menschen wöchentlich nur deshalb nicht geimpft werden, weil die Kapazitäten der Impfzentren nicht ausreichten, sagt Beckmann.
Eine Umfrage unter den BAVC-Mitgliedsunternehmen habe ergeben, dass diese – je nach Größe – bis zu 2000 Impfungen täglich vornehmen könnten. Sie könnten also, sobald es die Priorisierung zulässt, ihre Belegschaften und auch Personal anderer Firmen schnell impfen. Dafür müssten aber noch Fragen wie die der Finanzierung und der Haftung geklärt werden, schreibt Beckmann.
Chemiebranche bietet Unterstützung bei Impfungen an
Sorge bereitet momentan allerdings, dass die Infektionszahlen – vermutlich bedingt durch die Verbreitung der Mutationen – eher wieder steigen. Die Zahl der Todesopfer kletterte am Wochenende über die Marke von 70.000. Man müsse deshalb das Infektionsgeschehen weiter im Blick behalten, sagte Familienministerin Giffey. Eine Rückkehr zu Einschränkungen sei nicht völlig ausgeschlossen. Dafür müsse es aber klare, überprüfbare Kriterien geben.
Eine Verlängerung des Lockdowns bis April, wie ihn Intensiv- und Notfallmediziner fordern, lehnt die Ministerin aber ab: Der Einzelhandel ringe bereits mit großen Existenzängsten. „Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, in der unsere Innenstädte veröden, weil die Geschäfte den Lockdown nicht überlebt haben“, mahnte Giffey. „Da hängen auch die Beschäftigten dran und ihre Familien.“
Teile des Einzelhandels, der Gastronomie, der Veranstaltungs-, Kultur- und Dienstleistungswirtschaft würden „Sonderopfer“ zugemutet, sagt auch Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut. „Ohne konkrete Perspektive werden viele von ihnen nicht mehr auf die Beine kommen – mit gravierenden strukturellen Folgen für unsere Städte und für die Lebensart unserer ganzen Gesellschaft.“
Die Lasten müssten deshalb gerechter und weniger selektiv verteilt werden. „Wir können einzelne Branchen nicht auf Dauer quasi verbieten“, sagte Hoffmeister-Kraut. Deshalb müssten Tests massiv ausgeweitet werden, in einem ersten Schritt auf Kosten des Staates.
Mehr: Mehrere Bundesländer gehen bei den Lockerungen jetzt schon eigene Wege. Ein Überblick.
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