Corona-Notbremse Ist die Ausgangssperre verfassungswidrig? Länderchefs und Staatsrechtler üben Kritik

Der menschenleere Alexanderplatz in Berlin.
Berlin Ausgangssperren haben in Deutschland bislang eine kurze Halbwertszeit. Sie seien „nur in einem begrenzten Umfang geeignet“, um die „zweifellos verfolgten legitimen Ziele zu erreichen“, entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, als es vergangene Woche die Regelung in Hannover kippte. In dieser Woche hat auch das Verwaltungsgericht Arnsberg zwei regionale Ausgangssperren wieder aufgehoben. Grund: „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit“.
So könnte es auch der bundesweiten Ausgangsbeschränkung ergehen, die die Bundesregierung im Infektionsschutzgesetz festschreiben will. Am kommenden Mittwoch soll die Novelle vom Bundestag verabschiedet werden. Laut Regierungsentwurf sollen Personen in einer Region mit einer Inzidenz von mehr als 100 ihre Wohnung zwischen 21 und 5 Uhr nicht mehr verlassen dürfen. Ausnahmen sind etwa für den Weg zur Arbeit oder medizinische Notfälle vorgesehen. Ob und in welcher Form die Regelung kommt, ist angesichts rechtlicher Fragen und des breiten Widerstands aber offen.
Die Kritik an dem Vorhaben reicht hoch bis ins Kanzleramt. Wie die „Bild“-Zeitung berichtete, verweist das Gesundheitsreferat in einem internen Vermerk auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen. Die „grundsätzliche Geltung einer nächtlichen Ausgangssperre“ sei mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit und die „derzeit nicht belegte Wirksamkeit“ problematisch, schreiben die Beamten des Kanzleramts. Ein Regierungssprecher teilte auf Anfrage mit, man nehme „zu solchen internen Vorgängen“ grundsätzlich nicht Stellung.
Auch Ministerpräsidenten sehen Ausgangssperren kritisch: „Ein gewisser Effekt mag noch in Ballungsräumen bestehen, im ländlichen Raum tendiert dieser gegen null“, sagte Reiner Haseloff (CDU) aus Sachsen-Anhalt. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sprach im ZDF von einem „harten Grundrechtseingriff“.
Die Bundesregierung sieht das naturgemäß anders, hat doch das Justizministerium den Entwurf als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft. Er rechne zwar damit, dass die bundesweite „Notbremse“ vor dem Verfassungsgericht lande, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er gehe aber davon aus, dass der Schritt „in der aktuellen Lage als vorübergehende Maßnahme trägt“.
Unklare Rechtslage
Juristen sind in der Frage allerdings gespalten. „Mit Verfassungsklagen ist zu rechnen“, sagte der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart dem Handelsblatt. Er hält auch direkte Verfassungsbeschwerden an das Bundesverfassungsgericht für möglich, verbunden mit einem Eilantrag – ohne zuvor den Rechtsweg auszuschöpfen.
„Da die Verbote bußgeld- beziehungsweise strafbewehrt sind, ist es Betroffenen nicht zuzumuten, erst den Rechtsweg auszuschöpfen, also Sanktionen zu riskieren, um dagegen vor Gericht zu gehen.“ Die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Es lägen keine validen Erkenntnisse vor, inwieweit sie geeignet seien, um die Gesetzesziele zu erreichen.
Auch andere Maßnahmen des Gesetzes seien problematisch. „Man denke nur an das Verbot für den Amateursport, während der Profisport von einer Ausnahmeregel profitiert“, sagte Degenhart. Und vor allem für die Wirtschaft bringe das Gesetz „erhebliche Rechtsunsicherheit“.
Der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza glaubt dagegen, dass es keinen direkten Weg nach Karlsruhe geben wird. Denn es stehe „hinreichend schneller Rechtsschutz gegen den jeweiligen Vollzug durch die Verwaltungsgerichte zur Verfügung“, sagte er dem Handelsblatt. Zulässig wären dagegen sogenannte Normenkontrollanträge zum Bundesverfassungsgericht.
„Ein Viertel der Bundestagsabgeordneten könnten sie, wenn sie das Gesetz oder Teile davon für verfassungswidrig halten, ohne Weiteres stellen.“ Eine auf die willkürlich bestimmte Nachtzeit begrenzte Ausgangssperre, die keine ist, sei jedoch sinnlos, sagte der Jurist.
Grüne rügen Verzögerung
Denkbar ist, dass die Ausgangssperre nun angepasst wird. Als kleinere Änderung wurde zuletzt etwa darüber diskutiert, die Uhrzeit, ab der eine Ausgangssperre gelten soll, nach hinten zu verlegen. SPD-Gesundheitsexpertin Bärbel Bas wiederum forderte gegenüber dem Handelsblatt, dass Sport oder ein Spaziergang im Freien in vertretbarem Rahmen auch nach 21 Uhr noch möglich sein sollten.
Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen hält es gar für möglich, dass die Ausgangssperre stark abgeschwächt wird oder nichts mehr von ihr übrig bleibt: „Ausgangssperren können nur das letzte Mittel in der Pandemiebekämpfung sein und bringen umfassende Rechtsunsicherheiten in der Umsetzung mit sich“, sagte Dahmen dem Handelsblatt.
Die Länder hätten bereits jetzt die Möglichkeit, effektivere und zielgerichtetere Mittel anzuwenden. Dafür brauche es kein Bundesgesetz. „Ich finde es unverantwortlich, dass sich die dringend nötigen Maßnahmen durch solche Debatten hinziehen.“
Die Bundesbürger wiederum sind laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag des Handelsblatts in der Frage uneins. Eine knappe Mehrheit von 49 Prozent sieht in der Ausgangssperre kein geeignetes Mittel, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Dagegen glauben 47 Prozent der Befragten, dass nächtliche Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr ein geeignetes Mittel sind.
Mehr: „Jeder Tag zählt“: Spahn appelliert an Länder, Notbremse bereits jetzt umzusetzen
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Immer wieder die gleiche Leier ohne endlich die Impfungen zu beschleunigen einfach Leute wegsperren.
Mit dieser Regierung kann keine Zukunft gemacht werden. Ich hoffe nur das ALLE sich am Wahltag daran erinnern werden.