Corona Wie gefährlich ist die vierte Welle?

Umfangreiche Impfungen könnten die vierte Welle verhindern. Doch die Impfquote ist deutlich zu gering.
Berlin Lothar Wieler gilt nicht als jemand, der schnell Panik verbreitet. Doch dieses Mal klingen die Worte des RKI-Chefs dramatisch deutlich: „Wenn wir die aktuellen Impfquoten nicht drastisch steigern, dann kann die aktuelle vierte Welle im Herbst einen fulminanten Verlauf nehmen“, warnt Wieler. Was er meint, sind vor allem überlastete Krankenhäuser, die mit einem Ansturm von Corona-Patienten zu kämpfen haben.
Der Charité-Virologe Christian Drosten hatte schon am Wochenende von „erheblichem Druck auf die Kliniken“ gesprochen.
„Für Sorgen vor einer starken vierten Welle gibt es gute Gründe“, sagt auch Timo Ulrichs, Epidemiologe am Lehrstuhl für Globale Gesundheit der Akkon-Hochschule Berlin. Schließlich habe sich die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 allein in den vergangenen zwei Wochen verdoppelt, sagte Ulrichs dem Handelsblatt. Natürlich seien die deutschen Krankenhäuser heute besser aufgestellt als vor eineinhalb Jahren, „aber Massen an Covid-Patienten können wir uns trotzdem nicht erlauben“.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant daher ab Montag eine Verstärkung der Impfkampagne mithilfe von Ländern und Kommunen. Bei Impfwochen vor Ort sollen niedrigschwellige Angebote gemacht werden – in den sozialen Medien läuft die Aktion unter dem Hashtag #hierwirdgeimpft.
Auch der Einzelhandel unterstützt die Kampagne. „Der Handel steht für Leben statt Lockdown“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbands HDE, Stefan Genth. Bislang seien in Einkaufszentren bundesweit bereits mehr als 100.000 Impfdosen verabreicht worden. Nun wolle man die Kampagne ausweiten.
Kanzlerkandidaten gehen beim Thema Corona auf Tauchstation
Doch was die Experten schwer beunruhigt, findet bei einigen der wahlkämpfenden Spitzenpolitiker wenig Aufmerksamkeit. Corona dient etwa bei der Union vor allem als Munition gegen den politischen Gegner: So forderte Unionskanzlerkandidat Armin Laschet seinen SPD-Konkurrenten Olaf Scholz kürzlich auf, von Begriffen wie „Versuchskaninchen“ Abstand zu nehmen. „Menschen sind keine Versuchskaninchen in diesem Land“, rüffelte er den Vizekanzler.
Scholz wirbt für Impfungen und hatte etwa bei einem Auftritt in Berlin lediglich gesagt: „Wir alle waren gern eure Versuchskaninchen – bei uns ist das mit der Impfung gut gegangen, jetzt bitte macht es auch.“
Das Desinteresse weckt unangenehme Erinnerungen an den Herbst 2020. Damals hätte die Politik die zweite Welle womöglich verhindern können. Sie entschloss sich aber erst im November zu harten Maßnahmen. Und das ganz ohne Wahlkampf. Nun sieht es noch düsterer aus. Im November 2021 sind voraussichtlich die Koalitionsverhandlungen in vollem Gange – und nur noch eine geschäftsführende Bundesregierung im Amt.
Im Herbst 2020 war außerdem noch keine Rede von der Delta-Variante des Virus, die mittlerweile das Infektionsgeschehen beherrscht. Studien zufolge kann die Viruslast bei der Delta-Variante um den Faktor 300 höher sein als beim ursprünglichen Virustyp. „Für Geimpfte in der Umgebung ist dies kein Problem, aber für Ungeimpfte ist die Gefährdung vor dem Hintergrund von Delta wirklich erheblich, sie tragen ein sehr hohes Risiko zu erkranken“, sagt Virus-Experte Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik Schwabing.
Nur 62 Prozent sind voll geimpft
Doch das, was der vierten Welle noch etwas entgegensetzen könnte, sieht ausgesprochen unbefriedigend aus: die aktuelle Impflage. Erst 62 Prozent der Bevölkerung haben den vollen Impfschutz. Das ist weit entfernt von der ersehnten Herdenimmunität. Der Gesundheitsminister strebt eine Quote von über 90 Prozent bei den über 60-Jährigen und 75 Prozent bei den Zwölf- bis 59-Jährigen an. Dann wäre es unwahrscheinlich, dass die Intensivstationen noch einmal ans Limit kämen, sodass es dann die Aussicht „auf einen sicheren Herbst und Winter“ gäbe, sagte Spahn. Dafür aber müssten schnell mindestens weitere fünf Millionen Menschen geimpft werden.
Das aber dürfte kaum klappen. Besonders niedrig ist die Impfquote in Ostdeutschland. Das bundesweite Schlusslicht Sachsen liegt sogar fast 20 Prozentpunkte hinter Spitzenreiter Bremen. Auch das ist jedoch ein Thema, das Politiker nicht gern anfassen – vor allem nicht in der entscheidenden Endphase des Wahlkampfs. Nur der unerschrockene Ostbeauftragte Wanderwitz, selbst gebürtiger Sachse, spekulierte schon Mitte August über einen Zusammenhang von hohen Zustimmungsraten für die AfD und niedrigen Impfquoten.
Noch ist die Lage an den Kliniken ruhig: Am Mittwoch waren 1348 Intensivpatienten mit Covid-19 registriert, 25 mehr als am Vortag. Zum Höhepunkt der Pandemie waren es mehr als 5000. Doch „alle Modellierer und Modelle zeigen, dass die Zahl der Covid-19-Patienten ansteigen wird“, sagte Stefan Kluge, Präsidiumsmitglied der Intensivmedizinervereinigung Divi.
Sorge mache ihm auch, dass rund 20 Prozent der über 70-Jährigen noch ungeimpft seien. Und „bei den schweren Verläufen handelt es sich fast ausschließlich um Nichtgeimpfte“, sagt Virologe Ulrichs.
Inzidenz stieg in einer Woche um zehn Punkte
Die Sieben-Tage-Inzidenz macht auch wenig Mut. Zwar ist sie zuletzt erstmals seit zwei Monaten an zwei Tagen hintereinander gefallen und lag bei 82,7 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche. Das sei aber keine Trendwende, so RKI-Chef Wieler. Einzelne Tage mit Rückgang sagten nichts aus, entscheidend sei die Entwicklung über Wochen. Und vor einer Woche lag die Inzidenz noch bei gut 75.

Seine Warnungen werden immer lauter. Die Krankenhäuser könnten bald überlastet sein.
Die Inzidenz selbst gilt inzwischen nicht mehr als der entscheidende Wert – ist aber dennoch der vorauslaufende Indikator für die Krankenhauseinweisungen.
Einen erneuten Lockdown befürchten aktuell allerdings weder die Virologen Ulrichs und Drosten noch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Die Alternative dazu sei jedoch auch nicht schön, so Lauterbach. Denn dann komme der breite Einsatz der 2G- und 3G-Konzepte zum Tragen – also der Ausschluss von Menschen, die weder geimpft noch genesen sind, von Veranstaltungen oder Restaurantbesuchen. Und in der schärferen Variante auch der Ausschluss der Getesteten, meint Lauterbach. Auch Drosten kann sich nicht vorstellen, dass es im Herbst ohne Kontaktbeschränkungen gehen kann.
Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärzteverbundes, hält die Verschärfung der Maßnahmen ebenfalls für notwendig. Es werde kaum reichen, die Impfquote durch mobile Angebote zu erhöhen. „Um die vierte Welle zu brechen, bevor sie dramatisch wird, sollte man jetzt bundesweit überall dort, wo es möglich ist, eine 2G-Regel einführen“, sagte Montgomery den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Donnerstag).
Dort, wo es nicht praktikabel wäre, Ungeimpfte auszuschließen, wie etwa im Öffentlichen Nahverkehr, müsse dann zumindest eine strengere 3G-Regel gelten. „Ungeimpfte müssten dann einen aktuellen PCR-Tests vorweisen. Ein einfacher Schnelltest dürfte nicht mehr ausreichen“, sagte Montgomery. Eine solche erweiterte 2G-Regel könne der nötige Anreiz sein, sich impfen zu lassen.
Gesundheitsminister Spahn hält es unterdessen auch für gerechtfertigt, dass ungeimpfte Arbeitnehmer, die in Quarantäne gehen müssen, Lohnabzüge hinnehmen müssten. Er sehe nicht ein, dass andere auf Dauer dafür zahlen sollten, wenn sich Menschen trotz ausreichender Impfstoffe in Deutschland nicht impfen ließen, sagt Spahn.
Drosten macht in seinem neusten Podcast einen vollkommen neuen Vorschlag für den Kampf gegen die vierte Welle: Er empfiehlt, alle bereits gegen das Coronavirus geimpften Personen sollten sich absichtlich mit dem Virus infizieren, um möglichst viele Antikörper aufzubauen. „Ich will eine Impfimmunität haben, und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben“, erklärte der Wissenschaftler. Das könne robuster als weitere Impfungen sein.
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Vielleicht kann uns das RKI auch mal die Impfquoten aller über 12- jähringen pro Bundesland zur Verfügung stellen. Dann sieht man besser die % derer, die noch fehlen. Hilfreich wäre auch mal zu erfahren wer sich da nicht impfen lassen möchte. Das müssen ja noch Millionen sein. Vielleicht hilft ja ein Befragen derer, die jetzt ungeimpft im Krankenhaus liegen als Abschreckung und Aufmunterung zur zeitigen Impfung?
@Herr Winfried Diekmann
ja, richtig. Die ach so Religiösen sollte man sich selbst überlassen. Gottes-Wahn-Auswüchse zu bändigen ist nicht Aufgabe des Staates, eher Gottes-Wahn grundsätzlich zu verhindern durch andere Schulbildung. Religiöse meine doch, sie fänden ihren Frieden und immerwährende Juheirassa-Glückseligkeit im eingebildeten "Himmel". Sollen sie haben.
@Volker Kobelt
Sie liegen vermutlich richtig.
Herr Wieler und besonnen? Das ich nicht lache. Herr Wieler hat im Frühjahr mit Prognosen von Inzidenzen über 1000 reichlich Panik verbreitet. Besonnen ist ein ein Fremdwort für ihn.
Panik ist doch Blasam für seine Profilneurose. Eigentlich war die dritte Welle schon nicht real, da sie vor allem durch das zusätzliche Testen in den Unternehmen ab Anfang März verursacht wurde. Die Todesfälle gingen aber kaum nach oben. Die derzeit hohen Zahlen lassen sich stark auf impfunwillige Gruppen, wie unser russischen Freikirchen, islamische Religionsgruppen und Gruppen vom rechten Rand zurückführen. Das sollte die Politik auch mal offen ansprechen, ohne falsche Rücksicht.
Weshalb haben die Politiker Angst vor der "Corona Pandemie"? Als die Pandemie auftrat, waren alle geschockt und keiner wusste, wie zu reagieren sei. Aber heute, nach fast zwei Jahren sollte sich die Politik völlig zurückziehen. Wäre ich der Kanzlerkandidat Laschet würde ich folgendes sagen: "Wenn ich zum Kanzler gewählt werde, ist meine erste Amtshandlung, die Pandemie zu beenden. Die Bürger werden nicht mehr bevormundet und sind für ihre Gesundheit wieder selbst verantwortlich. Der Staat hat die Bürger über die ersten Wellen der Krankheit geleitet, hat dafür gesorgt, dass eine Schutzimpfung kostenlos entwickelt wurde und zur Verfügung steht. Damit hat er seine Pflicht getan. Alles was jetzt kommt, ist Sache der Bürger und fällt nicht unter die Zuständigkeit der Ministerien. Der Staat gibt Ratschläge, der Bürger entscheidet. Das ist doch wohl demokratisch mit mündigen Bürgern.
Ich bin sicher, dass sich der Trent über Nacht dreht und die Wahl gewonnen wird.
Wenn der Gesundheitsminister durch neue Gesetze die Kliniken dazu bringt die Anzahl Intensivbetten zu reduzieren, darf der gleiche Minister dann Zahl "freie Intensivbetten" als kritische Messgröße setzen? Oder anders, bitte stattet doch endlich die Krankenhäuser mit den nötigen Resourcen aus, damit keine Engpässe mehr zu erwarten sind! Das wären in meinen Augen sinnvolle politische Maßnahmen. Warum wird dazu nichts berichtet?
Christian Drosten hat im Podcast (Skript S. 16) keine Empfehlung für ein Selbst-Infektion für Geimpfte gegeben, sondern argumentiert, dass wir alle in einem endemischen Zustand früher oder später mit dem Virus weiterhin in Kontakt kommen und dass dieser Kontakt mit dem Virus für einen gesunden Erwachsenen (Beispiel Privatperson Drosten) einen vergleichbaren oder besseren Schutz als ein Booster geben kann. Dieser Booster-Impfstoff sollte stattdessen besser den ärmeren Ländern zur Verfügung gestellt werden. Die Verallgemeinerung auf alle Geimpften im Text gibt dies m.E. falsch wieder.