Dreikönigstreffen FDP-Chef Lindner buhlt um frustrierte Sozialdemokraten
„Noch bevor die CO2-Steuer erhoben worden ist, haben die Grünen sie schon erhöht“
Stuttgart Der 1. Mai ist fest in der Hand der Gewerkschaften und der SPD. In diesem Jahr müssen sich die Beschäftigten darauf einstellen, von unerwarteter Seite zum Tag der Arbeit beschallt zu werden: FDP-Chef Christian Lindner plant am 30. April bundesweite Aktionen seiner Partei. „Wir gehen vor die Werkstore, um mit den Menschen darüber zu sprechen, was ihnen wichtig ist“, kündigte er am Montag beim Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart an. Lindner als Arbeiterführer, es klingt wie eine Showeinlage.
Doch der Parteivorsitzende meint es ernst. Lindner möchte mit der FDP bei der nächsten Bundestagswahl wieder ein zweistelliges Ergebnis einfahren. Dafür will er Menschen ins liberale Lager holen, die „in der politischen Landschaft heimatlos geworden“ sind. Besonders viele Heimatlose vermutet Lindner unter früheren SPD-Wählern. Der Facharbeiter in der Autoindustrie zum Beispiel, der von seinen guten Tarifabschlüssen immer weniger behalten könne, den Zustand der öffentlichen Schulen beklage und sich in der Migrationspolitik Recht und Ordnung wünsche.
Das Stuttgarter Staatstheater ist gut gefüllt. Am Dreikönigstag versammeln sich die Freien Demokraten hier zu ihrem politischen Jahresauftakt, das hat Tradition. Vor einem Jahr buhlte Lindner um enttäuschte CDU-Anhänger. Massenhafte Übertritte von Unionsleuten, die lieber Friedrich Merz als Annegret Kramp-Karrenbauer an der Parteispitze gesehen hätten, sind nicht überliefert. Nun hofft Lindner, dass Sozialdemokraten seine Signale hören.
„Das ist noch eine Kommunikationsaufgabe. Aber ist nicht unmöglich“, sagt er. Lindner erinnert daran, dass die FDP bei ihrem Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen 2017 die meisten Zugewinne aus dem SPD-Lager verzeichnet hat. Er zitiert Harald Christ, den früheren Mittelstandsbeauftragten der Sozialdemokraten, der seiner Partei wegen des Linkskurses des neuen Spitzenduos Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken den Rücken gekehrt hat. Und er begrüßt ein FDP-Neumitglied im Saal, das gerade von der SPD herübergewechselt ist: den früheren Bundestagsabgeordneten und rheinland-pfälzischen Sozialminister Florian Gerster.
Lindners Diagnose lautet: Die SPD habe sich „völlig abgekoppelt von den Interessen und Bedürfnissen der Mitte unseres Landes“. Walter-Borjans habe schon als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen „Schuldenmachen zur Staatsphilosophie“ erklärt. Der neue SPD-Vorsitzende sei „ein notorischer Steuererfinder und Verfassungsbrecher“. Auch andere FDP-Politiker arbeiten sich beim Dreikönigstreffen an der Führungsebene der Sozialdemokraten ab.
Lindner fordert eine „breitflächige Steuerentlastung“
Der baden-württembergische Landeschef Michael Theurer nahm Eskens Kritik am Polizeieinsatz bei den Silvesterkrawallen in Leipzig zum Anlass, ihr „die Sensibilität eines Presslufthammers“ zu bescheinigen. Die in der ehemaligen DDR geborene FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg spottete über „Kevin aus Westberlin“. Juso-Chef Kevin Kühnert habe nicht verstanden, dass der Sozialismus weder frei noch sexy, sondern arm mache.
Neue politische Angebote für wechselwillige Sozialdemokraten macht Lindner aber nicht, in weiten Teilen seiner Rede klingt er wie im vergangenen Jahr. Der FDP-Chef fordert eine „breitflächige Steuerentlastung“, der Spitzensteuersatz habe sich schließlich „bis tief in die Mitte der Gesellschaft vorgefressen“. Er spricht über einen unzweckmäßigen Sozialstaat, der mit den Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV „diejenigen behindert, die sich aus eigener Kraft aus der Bedürftigkeit befreien wollen“. Digitalisierung und Bildung stehen für die Liberalen weiterhin oben auf der Agenda. Und den Schutz von Umwelt und Klima will Lindner nicht mit Verboten, sondern „mit Technologie und Marktsteuerung erreichen“.
Das bestehende Politikportfolio seiner Partei scheint der FDP-Chef aber zielgenauer einsetzen zu wollen, um neue Wählergruppen anzusprechen. Sogar auf die im konservativen Milieu verankerten Landwirte hat er es abgesehen. Lindner sprach Ende November auf einer Bauerndemonstration in Berlin. Auch beim Dreikönigstreffen nimmt er Landwirte gegen pauschale Vorwürfe, sie seien Klima- und Umweltsünder, in Schutz. „Ich habe mir nie träumen lassen, ich würde mal Vorsitzender einer Arbeiter- und Bauerpartei“, witzelt Lindner. Im Übrigen stimme das ja auch nicht. Die FDP sei ebenso wenig die Partei der Arbeiter und Bauern wie die der Apotheker – sondern eine „Partei der politischen Mitte“.
Manche Parteimitglieder verdrehen die Augen, wenn man sie in Stuttgart auf Lindners Charmeoffensive in der Arbeiterklasse anspricht. Doch der Parteichef ist unangefochten. Vor zehn Jahren hielt Lindner seine erste Rede beim Dreikönigstreffen, damals als junger Generalsekretär. Seitdem ist viel passiert in der FDP.
Die Partei blickte nach der verunglückten schwarz-gelben Regierungszeit in den politischen Abgrund, kam langsam über die Landesparlamente zurück, zog 2017 wieder in den Bundestag ein und ließ prompt die Gespräche über die Jamaika-Premiere auf Bundesebene platzen. Im dritten Jahr der Opposition scheint der Regierungswille stärker zu werden, auch bei Lindner. „Wir sind bereit zur Übernahme von Verantwortung, wenn die Inhalte stimmen“, sagt er. Angesichts des „Erosionsprozesses“ von Union und SPD in der Großen Koalition sei Veränderung dringend nötig. Ob Minderheitsregierung oder Neuwahlen – „es ist alles besser als dieser Status quo“.
Wahlergebnisse sollen wieder zweistellig werden
Lindner steht auf der Bühne des Staatstheaters vor einem riesigen Foto aus dem Weltall, ferne Galaxien, unendliche Weiten. Dazu der Schriftzug in Magenta und Gelb: „Bleiben wir frei. Denken wir groß.“ Der FDP-Chef meint die Herausforderungen des neuen Jahrzehnts.
Doch Lindner hat zuletzt auch hohe Erwartungen an die Wahlergebnisse formuliert: Die FDP wolle wieder klar zweistellig werden – bei der Bundestagswahl 2017 hatte die Partei 10,7 Prozent der Stimmen geholt. Im vergangenen Jahr verliefen die Europa- und Landtagswahlen eher ernüchternd, auch wenn Lindner einen „stabilen Aufwärtstrend“ ausmacht. Immerhin: Eine Umfrage aus dem Dezember sah die FDP bei zehn Prozent im Bund.
Echte Stimmungstests gibt es in diesem Jahr wenige. Ende Februar wird in Hamburg gewählt. Die FDP-Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels durfte auch kurz auf die Bühne, sie gab sich optimistisch: „Ich glaube, wir werden Regierungsverantwortung übernehmen können.“
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