Wolfgang Franz, Chef des Sachverständigenrats: Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Steuersenkungen. Angesichts der kostenträchtigen Energiepolitik und vor dem Hintergrund der notwendigen Haushaltskonsolidierung sehe ich kaum Spielraum für die Senkung von Steuern.
Wolfgang Wiegard, Ex-Chef des Sachverständigenrats: Eigentlich ist die Sache ganz einfach: In einer tiefen Rezession wie im Jahr 2009 sollte der Staat durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren. Das hat die Große Koalition gemacht. Im nachfolgenden Aufschwung sollten konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen dann zum Abbau der staatlichen Verschuldung, also zur Haushaltskonsolidierung, eingesetzt werden. Bislang hat sich die CDU/CSU/FDP-Koalition an diese Binsenweisheit einer antizyklischen Fiskalpolitik gehalten. Aber die nächsten Bundestagswahlen stehen vor der Tür, und die FDP droht an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Da ist die Versuchung groß, rechtzeitig vor den Wahlen wenigstens einen kleinen Teil der noch im Koalitionsvertrag enthaltenen Steuersenkungspläne umzusetzen. Nach den unpopulären Rettungsschirmen für die überschuldeten und unter mangelnder wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit leidenden Peripherieländer des Euro-Raums jetzt also ein Rettungsschirm für die politisch darbende FDP. Das ist pure Wahltaktik, aber schlechte Ökonomie. Dabei sind Steuersenkungen natürlich nichts Schlechtes. Aber erstens sollte angesichts einer staatlichen Schuldenstandsquote von über 80 Prozent eine entschlossene Haushaltskonsolidierung in der nächsten Zeit das vorrangige Ziel der Finanzpolitik sein.
Und zweitens: Wenn die Politik das Konsolidierungsziel schon zugunsten von Steuersenkungen aufweichen will, gibt es unter Wachstums- und Beschäftigungsaspekten sinnvollere Maßnahmen als die jetzt diskutierten Korrekturen im unteren Bereich des Einkommensteuertarifs. Dazu gehören die Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung eigenfinanzierter Investitionen oder der Beschränkungen für die Verlustverrechnung sowie eine systematische steuerliche Förderung von Forschungsaufwendungen.
Ulrich Blum, Chef vom Institut für Wirtschaftsforschung: Die gegenwärtige Steuersenkungsdiskussion findet zur Unzeit statt. Denn eigentlich stehen Mittel zur Entlastung nicht zur Verfügung. Zu hoch sind der inländische Konsolidierungsbedarf bei Staatsausgaben und Rückführung der Schuldenquote, zu groß sind die eventuellen Anforderungen aus der Stützung der Peripherieländer und der gemeinsamen Währung, und zu deutlich ist die Erfahrung, dass der Aufschwung nicht ewig so weitergeht. Zugleich ist der einzusetzende Betrag von rund zehn Milliarden – ob als Rückgabe an Bürger und Wirtschaft oder zur Absicherung bei der Reform übergangsbedingter Steuerausfälle – schlicht zu gering für einen großen Wurf. Wenn man dennoch aus Gründen der politischen Signale an Steuersenkungen festhalten will, dann gibt es drei Prioritäten.
Erstens: Das Eliminieren der kalten Progression. Zweitens: Einstieg in eine Reform der Mehrwertsteuer. Diese würde, vor allem im Bereich der Geringverdiener, einmalige Anpassungen bei den Leistungsniveaus erforderlich machen. Drittens: Die Unternehmensbesteuerung muss dort, wo sie den Wandel der Wirtschaft behindert, reformiert werden. Es sind zum Beispiel Erleichterungen bei Betriebsaufgaben zwingend erforderlich, um den Generationenübergang ebenso zu meistern wie das Erfordernis nach Wachstum zu befriedigen.
Clemens Fuest, Uni Oxford: Das erste Argument, das aktuell für Steuersenkungen angeführt wird, lautet, angesichts der guten Konjunktur bestehe dafür Spielraum. Das überzeugt aus zwei Gründen nicht. Erstens stehen konjunkturbedingte Mehreinnahmen nur vorübergehend zur Verfügung, Einkommensteuersenkungen wirken aber dauerhaft. Es besteht die Gefahr, dass dauerhafte Defizite entstehen. Zudem wäre die Wirkung prozyklisch. Im Boom soll man eher Steuern erhöhen als Steuern senken.
Das zweite Argument lautet, dass wir dauerhaft auf einem höheren Wachstumspfad sind und daher dauerhaft Entlastungsspielräume haben. Auch das überzeugt nicht. Denn wir wissen nicht, ob das Wachstum dauerhaft höher ist. Und es gibt weiteren Konsolidierungsbedarf, um die Schuldenschranke von Bund und Ländern einhalten zu können. Bei unveränderten Ausgaben besteht daher keinerlei Entlastungsspielraum.
Das dritte Argument lautet, die kalte Progression führe zu einer übermäßigen Belastung kleiner und mittlerer Einkommen. Das rechtfertigt aber lediglich eine Umverteilung von Steuerlasten, keine Entlastung.
Ein weiteres Argument lautet, dass Steuersenkungen nötig sind, um zu verhindern, dass kurzfristig vorhandene Spielräume für Wahlgeschenke genutzt werden. Das mag sein, aber vielleicht kann man von der Regierungskoalition doch erwarten, dass sie eine rationale finanzpolitische Strategie verfolgt.
Hans Eichel, Finanzminister a.D.: Lernen wir denn rein gar nichts aus der europäischen Schuldenkrise? Die Wirtschaft boomt, aber Bund, Länder und Gemeinden häufen neue Schulden an, statt im Boom Überschüsse zu erwirtschaften, wie es der Europäische Stabilitätspakt verlangt, um die hohen Defizite aus der vorausgegangenen Krise abdecken zu können.
Deutschlands Staatsverschuldung beträgt mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie ist damit höher als in Spanien und weit höher als die 60 Prozent, die der Maastricht-Vertrag zulässt. Deutschland ist im europäischen Vergleich kein Hochsteuerland. Aber die Bundesregierung will die Steuern senken, rechtzeitig zur Bundestagswahl. Das ist unverantwortlich. Es verstößt gegen die Schuldenbremse und gegen die finanzpolitischen Prinzipien Europas.
Wenn die Bundesregierung trotzdem den „Mittelstandsbauch“ in der Einkommensteuer abflachen will – was für sich genommen in Ordnung ist, wenn man es sich leisten kann –, muss sie die Einnahmeausfälle voll gegenfinanzieren. Dazu kann man entweder die Ausgaben kürzen oder die Einnahmen erhöhen, etwa durch eine Erhöhung des Einkommensteuertarifs im oberen Bereich. Das muss man übrigens sowieso machen, weil andernfalls die Steuersenkung auch höhere und höchste Einkommen einbezieht, was doch nicht gewollt ist, oder? Das wäre eine wünschenswerte Strukturreform.
Aber all das wird nicht geschehen. Und deshalb haben Länder und Gemeinden und Wolfgang Schäuble recht, wenn sie sich dagegen sträuben.
Lars Feld, Wirtschaftsweiser: Die Konsolidierung der Staatsfinanzen muss Vorrang vor Steuersenkungen haben. Konjunkturell bedingte Steuermehreinnahmen dürfen nicht zuletzt wegen der Schuldenbremse nicht für dauerhafte Steuersenkungen verwendet werden. Gleichwohl profitiert der Staat von Inflation.
Wegen der Progression steigt das Steueraufkommen überproportional, und es kommt zu strukturellen Mehreinnahmen. Das gilt selbst dann, wenn Lohnerhöhungen lediglich den Kaufkraftverlust durch Preissteigerungen ausgleichen.
Die den Bürgern in der Vergangenheit stets als größte Steuerreform aller Zeiten verkauften Entlastungen haben meist nur diese Mehreinnahmen des Staates den Bürgern zurückgegeben. Ohne solche regelmäßigen Entlastungen würde die Steuerlast der Bürger kontinuierlich steigen. Besser wäre es freilich, den Steuertarif so zu konzipieren, dass solche Effekte von vornherein vermieden werden.
Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt: In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben Bund und Länder viel Geld in die Hand genommen, um die Folgen für Bürger und Unternehmen abzufedern. Die öffentlichen Haushalte leiden unter den Folgen der Krise noch heute. Jetzt, wo die Konjunktur wieder anzieht, ist Haushaltskonsolidierung dringend geboten. In Sachsen-Anhalt mühen wir uns derzeit, einen Haushalt ohne Neuverschuldung aufzustellen, und wollen ab 2014 mit der Tilgung der Altschulden beginnen. Wenn uns aufgrund der Steuerpläne der Bundesregierung ein dreistelliger Millionenbetrag fehlt, werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Wer heute den Bürgern Steuerentlastungen verspricht, sollte daher auch sagen, was das bedeutet: weniger Geld in den öffentlichen Kassen und damit weniger Geld für Investitionen, für Kultur und Bildung und letztlich eine stärkere finanzielle Belastung der Bürger in vielen Bereichen.
Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank: Ich vermisse ein wenig einen Lernfortschritt nach der Schuldenkrise. Die große Lehre ist, dass sich die Staaten den Grenzen der Staatsverschuldung bedenklich genähert haben. Das bedeutet, dass künftig Staatseinnahmen und Staatsausgaben so tariert sein müssen, dass sie in Jahren einer normalen Auslastung der Wirtschaft im Gleichgewicht sind. Da ist Deutschland noch nicht angelangt. Daher verbieten sich die alten Muster der Politik nach dem Motto: Kaum läuft die Konjunktur besser, können die zusätzlichen Mittel wählerwirksam eingesetzt werden.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik, und der würde in diesem Fall heißen: Steuersenkungen können sinnvoll sein, aber nur unter der Nebenbedingung, dass gleichzeitig dauerhaft Ausgaben zurückgeführt werden. Hiervon ist bei den gegenwärtigen Vorschlägen nichts zu hören.
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Eine ganz vorzügliche Idee. Hoffentlich wird sie politisch
nicht zerredet. Durch das jetzige Steuersystem blickt ohnehin niemand mehr durch!
Osnabrück, 29.06.2011 H.-J. Bücker
ProKirchoff
Wenn an einer Gegebenheit so oft gearbeitet wird, dass aufgrund von lauter Regeln, Vorschriften und Co. keiner mehr etwas versteht und sich daraus Arbeitsplätze und Studiengänge generieren um gegen Gebühr dem einfachen Mann einen - nicht immer verlässlichen - Weg aus diesem Jungel zu zeigen, dann ist es spätestens an der Zeit "den Schreibtisch aufzuräumen um zu sehen, welche Farbe er eigentlich hat".
Wenn man nichts neues ausprobiert, kann man nicht wissen, ob es funktioniert.
Ob nun das ganze Geld und der Aufwand, der hier beklagt wird in die Umorganisation einer neuen Idee gesteckt wird um einen neuen Versuch zu starten, oder ob weiterhin das Selbige, aber exponentiell stetig wachsende (Ausgabe und Aufwand) so weitergeführt und mit den Jahren verstärkt und verkompliziert wird ... [?].
Man lernt nur durch Versuche - das bringen Kindern ihren Eltern bei.
Würde man vorab nichts anpacken, was theoretisch unmöglich ist, wären wir längst nicht auf dem Entwicklungsstand, auf dem wir heute als große Nation, stehen.
Natürlich bringt eine neue Idee, neue Herausforderungen mit sich. Aber eine gut argumentierte Idee nur aufgrund dessen nicht auszuprobieren, weil man vor kurzfristigen, übergangsbedingten Umständen Angst hat, halte ich für keinen guten Ratschlag. Wo stünden wir heute, wären wir diesem Slogen immer gefolgt?!
25% für alle und alles. Das klingt in meinen Ohren fair. Die Arbeitsplätze die hierdurch verloren gehen, werden ganz sicher durch daraus resultierende neue Geschäftsideen um ein vielfaches gedeckelt.
Mut zur Weiterentwicklung!
Mut neue Ideen mit Hirn und Verstand umzusetzen!
Das ist die Zukunft.
Anna E. - 28 J.
Natürlich sollte man bei so hohen Staatsschulden keine Steuersenkungen machen. Andererseits ist noch nie irgend-ein Finanzminister dadurch aufgefallen, dass er ungeplante Steuermehreinnahmen für Schuldentilgungen genutzt hätte. Flugs wurden neue Ausgaben erfunden, und die Staatsquote stieg munter an. Offenbar liegt es in der Demokratie systembedingt, dass Politiker nicht sparen können /wollen. Dann aber ist es doch besser, wir nehmen ihnen die ungeplanten Mehreinnahmen weg, dann kommen sie auch nicht in Versuchung!
Nur leider braucht es auf der anderen Seite Menschen, die auf den Rat von solchen Wirtschafts- und Finanzexperten hören. Ich meine, das Herr Assmussen und herr Schäuble da das beste Beispiel sind. ein vermeintlicher High Potential arbeitet für einen ansoluten Laien, der aber das Sagen hat. raus kommt murks. Daher habe ich wenig bis gar keine Hoffnung auf solch eine Reform bzw. irgendeine Reform des Steuerrechts.
Wir deutschen Bürger sind schon wunderbar (für die Politiker!) konditioniert, um nicht zu sagen, dressiert. Jeder Euro, den der Staat weniger hat, geht weniger in Verschwendung wie das schwarze Loch Griechenland, in aufgeblähte Verwaltungen (wir brauchen nicht soviele Bundesländer mit riesigen Beamtenapparaten)oder Unsinn wie thüringische Elbhäfen. Natürlich sind die Kommunen fast pleite. Und das ist gut so. NUR das hindert sie, noch mehr Geld aus dem Fenster zu werfen. Aber wir klatschen denen Beifall, die meinen, unser Geld gehöre primär dem Staat, und nicht uns selbst. Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlachter selber.
Immerhin hat dieses Steuersystem Deutschland nicht daran gehindert, die Größe und Bedeutung zu erlangen, die es jetzt hat. Wer einfache Wahrheiten im Steuerrecht haben will, der kann ja nach Irland und Griechenland blicken. Unser Steuersystem ist eben nicht nur Ergebnis der Regelungswut des Gesetzgebers, sondern Resultat von Bürgern erwirkter Rechtsprechung zur Herstellung der Einzelfallgerechtigkeit. Es darf auch keiner glauben, dass bei einer FlatTax die Steuermoral steigt, vielmehr dürfte bald klar werden, dass es hier um eine Begünstigung der Besserverdienenden (FDP-Klientel?) geht. Und überhaupt: Der deutsche Gesetzgeber ist auch im Steuerrecht (v.a. Umsatz- und Bilanzsteuerrecht) längst an EU-Vorgaben gebunden. Ich bezweifle, dass Herr Kirchhofs Entwurf in allen Fragen verfassungs- und EU-konform sein kann. Hätte er das vollbracht, wäre er in der Tat ein Übermensch.
Hallo,
dann hat die Partei also sechs Jahre benötigt um den "roten Faden" von Prof. Kirchhoff zu begreifen.
Das muss natürlich mit einer Neuverschuldung und mit einem Diätenboni belohnt werden.
Pfui Teufel.
Im Erwerbsleben habe ich mit vielen Charaktere zu tun, aber solche charakterliche Schmierlappen kenne ich nur aus der Politik.
Die Reaktionen der Leser spiegeln eine von geradezu anrührender Naivität getragene Sehnsucht wieder, dass doch alles einfacher, schöner und besser werden möge.
Dieser Vorschlag ist hanebüchener Unsinn, da
1. eine radikale Vereinfachung zu einer radikalen Umverteilung führen würde. Das ist politisch - wenn überhaupt - nur in Zusammenhang mit einer erheblichen Steuerentlastung denkbar.
2. die Auswirkungen einer Radikalreform auf das Steueraufkommen unkalkulierbar sind - auch im Gefüge Bund/Länder/Kommunen.
3. die kurzfristige Neubeurteilung sämtlicher Besteuerungsfälle administrativ schlicht unmöglich ist.
Seit Kaiser Nero Rom angezündet hat, um es hübscher wieder aufzubauen, sind die Dinge etwas komplizierter geworden.
Einen ganz wesentlichen Vorteil hat der Vorschlag: jeder kann behaupten, dass er das auch will, wenn es die anderen nur nicht verhindern würden - und muss sich so nicht mehr fragen lassen, warum sie/er für die systematische Weiterentwicklung des realen Steuerrechts nichts tut!
Und ich bleib drin. In D und FDP.
Eintreten? nie!! - aber wählen: ja