EU-Kommission Wie viele Vertragsverletzungsverfahren derzeit gegen Deutschland laufen

Die Bundesregierung beteuert, es sei ihr „ein besonderes Anliegen“, die Anzahl an Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik dauerhaft möglichst niedrig zu halten.
Berlin Deutschland nimmt es mit der Einhaltung von EU-Recht nicht so genau. Zumindest werden Vorschriften aus Brüssel nicht immer korrekt und wirksam angewendet. Das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen. Demnach sind mit Stand Mitte April 80 Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anhängig.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner sagte dem Handelsblatt: „Die Bundesregierung muss europäisches Recht besser respektieren und umsetzen.“ Mit 80 Vertragsverletzungsverfahren gebe Deutschland in Europa ein schlechtes Beispiel ab. „Gerade in der Umwelt- und Energiepolitik drückt sich die Bundesregierung vor effektiveren Vorgaben“, rügte Brantner.
Als „Hüterin der Verträge“ kann die EU-Kommission ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn ein Mitgliedstaat die Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung einer Richtlinie nicht mitteilt oder einen mutmaßlichen Verstoß gegen das EU-Recht nicht behebt.
Das Verfahren läuft in mehreren Schritten ab. Am Ende kann die Kommission den Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anrufen, damit dieser gegebenenfalls Sanktionen verhängt.
Auch die Mitgliedstaaten haben das Recht, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen andere EU-Länder einzuleiten. Solche Fälle wie etwa die Klage Österreichs gegen die deutsche Pkw-Maut sind jedoch sehr selten.
Nach den letzten Daten der Kommission von Ende 2019 liefen in der EU insgesamt 1564 Vertragsverletzungsverfahren. Vorn lagen hier Spanien und Griechenland mit je 85 Fällen, gefolgt von Italien, Polen und Bulgarien. Dann kam Deutschland mit 70 Verfahren.
Bei den aktuellen deutschen Fällen ist das Bundeswirtschaftsministerium Spitzenreiter mit 16 anhängigen Verfahren, gefolgt vom Finanz-, Umwelt und Verkehrsministerium mit jeweils 15 Fällen. Das zeigt eine Aufstellung des zuständigen Bundeswirtschaftsministeriums vom Februar dieses Jahres. Vorwürfe der Kommission beziehen sich etwa auf die Umsetzung der Richtlinien zur Umwelthaftung von 2004, zur Energieeffizienz von 2012 oder zu Sicherheitsvorschriften für Fahrgastschiffe von 2017.
Verfahren wegen der Geldwäscherichtlinie
Zuletzt hatte die EU-Kommission gegen Rumänien, Portugal und auch Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren mit Blick auf die Umsetzung der 4. Richtlinie zur Bekämpfung der Geldwäsche eingeleitet. Hierfür lief die Umsetzungsfrist bereits Mitte 2017 ab.
Der Bielefelder Europarechtler Franz Mayer sagt dazu: „Angesichts der zahlreichen Mängel in der Einhaltung der EU-Vorgaben erscheint Deutschland nicht sonderlich europabeflissen.“ Allerdings gestalte sich die Umsetzung von Europarecht mit den Bundesländern oft schwierig. Hier könne es zu Weigerungen, Missverständnissen, Unachtsamkeiten und Fehlern im Ablauf kommen.
Tatsächlich beteuert die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen, es sei ihr „ein besonderes Anliegen“, die Anzahl an Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik dauerhaft möglichst niedrig zu halten. „Dies ist für einen großen und zudem föderal organisierten Mitgliedstaat vergleichsweise schwierig schon wegen der höheren Zahl von Anwendungsfällen von EU-Recht“, heißt es weiter.
Bisher keine finanziellen Sanktionen
Rechtsexperte Mayer verweist auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EZB-Staatsanleihekaufprogramm, das sich nun jährt. „Wenn Karlsruhe ein Urteil des EuGH als Kompetenzüberschreitung bezeichnet, kann die Bundesregierung dagegen nichts ausrichten.“ Auch in solchen Fällen könne es ein Vertragsverletzungsverfahren geben.
Nach Angaben der Bundesregierung wurden gegen Deutschland – anders als gegen andere Mitgliedstaaten – bisher vom EuGH keine finanziellen Sanktionen in einem Vertragsverletzungsverfahren festgesetzt.
Europarechtler Mayer weist auch auf die Grenzen dieses „Rohrstock-Ansatzes“ hin. „Die EU ist eine Freiwilligkeitsgemeinschaft, denn eine ultimative Durchsetzung mit Zwangsgewalt existiert beim Europarecht nicht.“ Die Fälle von Polen und Ungarn zeigten, dass die EU blamiert dastehe, wenn Zwangsgelder einfach nicht gezahlt würden.
Dennoch sei das Vertragsverletzungsverfahren ein „enormer zivilisatorischer Fortschritt“. Denn Interessengegensätze zwischen den Mitgliedstaaten bestünden nach wie vor. „Aber da, wo früher ganze Generationen auf die Schlachtfelder geschickt worden wären, um das auszutragen, sind die Länder heute gezwungen, sich in fensterlosen Räumen in Sitzungen des Gerichtshofs zu rechtfertigen.“
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen versichert die Bundesregierung, Ziel sei es, Vertragsverletzungsverfahren nach Möglichkeit zu vermeiden und in laufenden Verfahren „auf eine einvernehmliche Lösung mit der Europäischen Kommission hinzuarbeiten“.
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