Fachkräfte verzweifelt gesucht Die Stunde der Arbeitnehmer

Düsseldorf, Berlin Dieter Mießen klingt fast verzweifelt: „Bringen Sie mir zehn Rohrleitungs- und Kanalbauer, und wir können morgen die Arbeitsverträge unterschreiben.“ Der kaufmännische Leiter des mittelständischen Tiefbauunternehmens Frisch & Faust mit 140 Beschäftigten sucht Fachkräfte. Aber findet keine. Die Stelle für einen Projektleiter ist seit Anfang des Jahres ausgeschrieben. Über die Arbeitsagentur, Tageszeitungen und Onlinebörsen wie Stepstone sucht Mießen einen studierten Bauingenieur. Doch: „Was die Projektleiterebene angeht, ist der Markt leer gefegt.“ Kürzlich stellte sich ein Bewerber vor, der gebürtig aus Guatemala stammt. Aber ganz ohne Deutschkenntnisse geht es halt doch nicht.
Frisch & Faust arbeitet vornehmlich in Berlin und Umgebung. Mitten in der pulsierenden Metropole, die Partyvolk und Sightseeing-Touristen in Massen anzieht, aber offenbar keine Bauingenieure. Und man kann dem kurz nach der Wende gegründeten Unternehmen nicht einmal vorwerfen, die Misere selbst verantwortet zu haben. Fast jeder fünfte Mitarbeiter bei Frisch & Faust ist Auszubildender. Es gibt nicht viele Betriebe mit einer so hohen Quote.
Deutschland eilt von Beschäftigungsrekord zu Beschäftigungsrekord. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich vom Höchststand im Februar 2005, als knapp 5,3 Millionen Menschen einen Job suchten, auf zuletzt knapp 2,6 Millionen halbiert. Gleiches gilt für die Arbeitslosenquote, die von 11,7 Prozent auf 6,1 Prozent im vergangenen Jahr gesunken ist. Die Zahl der Erwerbstätigen ist seit 2005 von 39,2 auf 43,5 Millionen gestiegen. Kamen Ende 2010 rechnerisch noch 3,7 Arbeitslose auf eine offene Stelle, so waren es Anfang dieses Jahres nur noch 2,6.
Arbeitnehmer, die eine halbwegs gefragte Qualifikation mitbringen, haben beste Aussichten, jetzt ihren Wunschjob zu Wunschkonditionen zu ergattern. In vielen Branchen gibt es keine rasanten Gehaltssprünge – dazu stehen die meisten Unternehmen in einem zu harten Kostenwettbewerb. Aber bei allen Fragen, die nicht mit Geld zu tun haben, zeigen sich viele Arbeitgeber besonders flexibel: Ob Teilzeitmodelle, Fortbildung auf Firmenkosten, Sabbatical oder Homeoffice – immer mehr deutsche Unternehmen machen plötzlich immer mehr möglich.
Für gut qualifizierte Arbeitnehmer eröffnet das ungeahnte neue Freiheiten und Wahlmöglichkeiten. Etwa in der Branche der großen Anwaltskanzleien, wo die unausgesprochene Übereinkunft bislang lautete, dass man für ein Spitzengehalt gefälligst sein gesamtes Leben an den Arbeitgeber zu verpfänden hat.
Darauf hatte Nora Hendricks keine Lust. „Bereits im 3. Semester kursierte bei uns an der Uni Köln der Name Osborne Clarke als Geheimtipp unter den Großkanzleien“, erzählt die Dreißigjährige, die seit Februar als Anwältin für Arbeitsrecht im Kölner Büro der Law Firm arbeitet. Osborne Clarke versucht, sich bewusst von den Gepflogenheiten der Branche abzusetzen – auch um attraktiver für die knappen Spitzenabsolventen zu sein. Teilweise sind es nur Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachen: Für Anwälte ohne Klientenkontakt (den Berufseinsteiger ohnehin nur selten haben) gibt es keinen Anzugzwang. Das „Du“ ist die firmenübliche Anrede. Fälle werden bevorzugt im Team bearbeitet.
Entscheidend ist aber, dass die Arbeitszeiten deutlich humaner ausfallen als in den meisten anderen Großkanzleien. Mit einer 37,5-Stunden-Woche ist es zwar auch bei Osborne Clarke nicht getan, aber immerhin: „Ich bin selten um 20 Uhr noch im Büro“, berichtet Hendrik Müller, 29, der ebenfalls seit Februar den Bereich IT- und Medienrecht bei Osborne Clarke verstärkt. Bisher seien auch die Wochenenden frei geblieben. Müller nutzt die Zeit, um weiterhin in seinem Tischtennisverein in der Kreisklasse zu spielen. Und an seinem neuen Wohnort Köln sucht der Hobbygitarrist gerade nach einer Band. Nicht die übliche Priorität für den Nachwuchsanwalt einer internationalen Kanzlei.
Der Preis für Lockerheit und Work-Life-Balance: Osborne Clarke zahlt seinen Junganwälten weniger als die rund 140.000 Euro, die inzwischen in der Branche als Einstiegsgehalt erreicht werden. Müller sieht das nicht als Nachteil. „Wenn ich mir meinen Stundenlohn ausrechne, liege ich sogar über dem, was einige meiner ehemaligen Kommilitonen in anderen Großkanzleien verdienen.“

„Bereits im 3. Semester kursierte bei uns der Name Osborne Clarke als Geheimtipp.“
Auch Softwareingenieur Christoph Reinartz hat den Jobboom für einen Befreiungsschlag genutzt. In seiner alten Firma herrschte ein konservatives Betriebsklima mit strenger Zeiterfassung und Dresscode. „Selbst bei 35 Grad waren kurze Hosen tabu, obwohl wir keinen Kundenkontakt hatten“, erinnert sich Reinartz. Zum Vorstellungsgespräch bei der börsennotierten Hotel-Suchmaschine Trivago ging Reinartz gewohnheitsmäßig im Anzug, der Entwicklungsleiter empfing ihn im T-Shirt. „Da merkte ich sofort: Hier herrscht eine offene Kultur.“ Die Mitarbeiter kommen aus 50 Nationen. „Und in der IT-Abteilung gibt es nicht nur Männer wie sonst üblich“, lobt der 37-Jährige Reinartz. Trivago kennt weder feste Arbeitszeiten noch begrenzte Urlaubstage. Jeder kann kommen und gehen, wann er möchte. Der Teamleiter für „User Experience Engineering“ schätzt diese Freiheit sehr, „die ist einfach unbezahlbar“.
Softwareentwickler Reinartz, die Junganwälte Müller und Hendricks: Alle drei haben die Chancen genutzt, die ihnen der boomende Arbeitsmarkt eröffnet. Sie profitieren vom deutschen Jobwunder in Form von mehr Lebensqualität.
Wer bewirbt sich hier bei wem?
Für die Arbeitgeber hingegen sind die Zeiten hart. „Insgesamt ist es deutlich enger geworden für die Arbeitgeber als vor zehn oder zwölf Jahren“, sagt Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs Prognosen und Strukturanalysen beim Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Das führt dazu, dass die Besetzung einer Stelle länger dauert und es mehr Schwierigkeiten dabei gibt.“
Das ist ziemlich zurückhaltend formuliert. Aus der Sicht von Firmenchefs fühlt sich die Lage am Arbeitsmarkt längst nicht mehr schwierig an, sondern verzweifelt. Eindrucksvoll ist dabei vor allem die lange Liste der Qualifikationen, die dringend gesucht werden. Nicht nur Anwälte und Ingenieure sind knapp. Auf der Liste der Mangelberufe, die die Bundesagentur für Arbeit (BA) führt, finden sich Mechatroniker ebenso wie Elektro- oder Sanitärtechniker, Softwareentwickler, Lokführer, Mediziner und Apotheker, Hörgeräteakustiker oder Friseurmeister. Bis ein geeigneter Klempner oder Sanitärtechniker gefunden ist, warten Arbeitgeber heute im Schnitt 150 Tage, eine offene Stelle in der Altenpflege ist sogar durchschnittlich 162 Tage lang vakant.
Laut der vierteljährlichen Erhebung des IAB ist die Zahl der offenen Stellen im ersten Quartal 2017 auf den Rekordwert von knapp 1,1 Millionen gestiegen. Das waren 75.000 mehr als ein Jahr zuvor. Fast drei von vier der offenen Stellen sind sofort zu besetzen. Knapp 60 Prozent der offenen Stellen entfallen auf Betriebe mit weniger als 50 Mitarbeitern. Im vergangenen Jahr beklagten die Arbeitgeber bei 36 Prozent der Neueinstellungen Schwierigkeiten mit der Stellenbesetzung, in Ostdeutschland lag die Quote mit 41 Prozent noch deutlich höher. Zum Vergleich: 2010 gab es deutschlandweit nur bei 29 Prozent der Neueinstellungen Probleme. Für fast zwei Drittel der angebotenen Jobs wird eine abgeschlossene Berufsausbildung vorausgesetzt, 16 Prozent der Angebote richten sich an Akademiker. Nur ein Fünftel der Arbeitsplätze ist auch für Interessenten ohne formale Qualifikation geeignet. Es sind also vor allem Fachkräfte, die gesucht werden. Und die sind immer schwerer zu kriegen.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat jüngst die Fachkräftesituation in einer Studie untersucht. Demnach wird mittlerweile die Hälfte aller Stellen in Berufen mit Fachkräfteengpass ausgeschrieben. In Baden-Württemberg trifft das sogar auf nahezu drei von vier Stellen zu. „Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung sind somit vielerorts bereits die Regel und nicht die Ausnahme“, schreiben die IW-Forscher Alexander Burstedde und Paula Risius. Ein Engpass liegt nach ihrer Definition vor, wenn in einer Fachrichtung auf 100 bei der BA gemeldete offene Stellen weniger als 200 Arbeitslose mit entsprechender Qualifikation kommen. In der Kältetechnik, Hörgeräteakustik oder Altenpflege sind es derzeit nur 23 bis 26 Arbeitslose pro 100 offene Stellen.
Bleiben Stellen zu lange unbesetzt, müssen Unternehmen Aufträge ablehnen. Ihnen entgeht Umsatz, das Wachstum der Volkswirtschaft droht ausgebremst zu werden. Nirgendwo lässt sich dieser Zusammenhang so direkt besichtigen wie im deutschen Handwerk. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer: „Die Handwerkskonjunktur läuft derzeit so gut wie seit der deutschen Einheit nicht mehr. Die Auftragsbücher vieler Betriebe sind prall gefüllt. Es ginge sogar noch mehr, aber uns fehlen schlicht Fachkräfte und Auszubildende.“

61 Euro Durchschnittsverdienst pro Arbeitsstunde gibt es im Cockpit laut Statistischem Bundesamt – Spitzenwert in Deutschland. Auf Platz zwei folgen die Ärzte.
Und so erleben wir einen Arbeitsmarkt, auf dem selbst kleinste Handwerksbetriebe potenzielle Lehrlinge mit Kreuzfahrten, Smartphones oder einem eigenen Auto ködern, als ginge es um angehende McKinsey-Berater. Und wo die Direktbank ING-Diba über 50-Jährige als Auszubildende umwirbt, um freie Stellen besetzen zu können. Immer mehr Unternehmen machen es auch wie der Reinigungsgerätehersteller Kärcher und versprechen ihren Lehrlingen oder Berufsakademie-Studenten bereits bei Beginn der Ausbildung eine garantierte Übernahme nach der Abschlussprüfung.
Der Sinn des Wortes „Bewerbungsverfahren“ hat sich gerade bei kleineren Unternehmen inzwischen vielfach umgedreht. Das Unternehmen bewirbt sich um die Gunst des Arbeitnehmers, nicht umgekehrt. „Einen Lebenslauf bekommen wir von IT-Entwicklern im ersten Schritt meist gar nicht mehr, die Informationen auf einer öffentlichen Profilseite müssen da reichen“, sagt Mark Pohlmann, Gründer und Inhaber von Brandslisten in Hamburg. Das Unternehmen baut und betreibt mit 18 Mitarbeitern Kunden-Communitys für große Marken wie Allianz, Eon oder Douglas. Auch ein einschlägiger Hochschulabschluss sei für einen Programmierjob bei Brandslisten keine Voraussetzung. Pohlmann: „Wir schauen eigentlich nur auf die Programmier- und die Teamfähigkeit. Wenn beides passt, bieten wir auch einen Arbeitsvertrag an.“ Zudem hat sich Pohlmann neben dem Standort Hamburg ein zweites Team in der Ukraine aufgebaut. Vier Mitarbeiter arbeiten dort für ihn.
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Sehr geehrte Frau Dörner,
"die Klage ist des Kaufmanns Lied". Und unsere Kaufleute kennen viele Klagelieder. Beispielsweise das Lied von den zu hohen Löhnen und Lohnnebenkosten. Das Lied von den zu kurzen Arbeitszeiten. Das Lied von den erdrückend hohen Steuern und Abgaben. Ich kenne unzählige weitere Klagelieder. Sie wurden auch gesungen, als wir in Deutschland noch 5,3 Millionen Arbeitslose hatten. Auch damals fand die Wirtschaft angeblich keine Fachkräfte. Aber darf man den anrührenden Liedern auch glauben?
Ich habe dazu meine eigene Meßlatte. Ich möchte einen leibhaftigen Unternehmer sehen. Beispielsweise im Rahmen der Bilanzpressekonferenzen oder in einem Interview. Gesucht wird ein leibhaftiger Unternehmer, der von Angesicht zu Angesicht glaubhaft versichert, dass er wegen fehlender Fachkräfte auf Produktion und Umsatz verzichten muß. Ein Unternehmer, der auch erklärt, welche Anstrengungen er zur Behebung des Fachkräftemangels bereits unternommen hat. Vielleicht bringt er seinen Betriebsrat mit und erzählt uns auch, wie er seine Leute bezahlt und behandelt.