Fachkräftemangel Weil hunderttausende Erzieher fehlen: Ausreichend Kita-Plätze in diesem Jahrzehnt nicht mehr möglich

Die Bertelsmann Stiftung verweist auf wissenschaftlichen Empfehlungen, nach denen bei denen bei den unter 3-Jährigen ein Personalschlüssel von eins zu drei kindgerecht wäre: Eine Fachkraft betreut also maximal drei Kinder.
Berlin Es gibt nicht genügend Erzieher, um noch in diesem Jahrzehnt eine kindgerechte Personalausstattung und zugleich ausreichend Plätze in allen deutschen Kitas zu realisieren. Zu diesem Ergebnis kommt der erstmals von der Bertelsmann Stiftung erstellte „Fachkräfte-Radar für Kita und Grundschule“.
Auf dem bundesweiten Arbeitsmarkt besteht demnach zwischen dem prognostizierten Bedarf und dem voraussichtlichen Angebot an Fachkräften eine Lücke von insgesamt mehr als 230.000 Erziehern.
In einer Erklärung der Bertelsmann Stiftung heißt es: Weder sei diese Lücke durch Aufstockung der Ausbildungskapazitäten zu schließen, weil dafür Berufsschullehrkräfte fehlen. Noch seien bis 2030 genügend Quereinsteiger zu gewinnen, die außerdem erstpädagogisch qualifiziert werden müssten.
Insgesamt sei es für die Bundesländer unerlässlich, neues Personal zu gewinnen und zu binden. „Dabei helfen würden attraktivere Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten“, heißt es in der Erklärung weiter.
Laut Fachkräfte-Radar besteht aber immerhin die realistische Chance, noch in diesem Jahrzehnt einen großen Schritt hin zu mehr Kita-Qualität und mehr -Plätzen zu machen. „Der Mangel an Fachkräften ist überwindbar. Darauf sollten sich ab sofort alle politischen Anstrengungen konzentrieren“, forderte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.
Dräger hält ein koordiniertes Vorgehen von Bund und Ländern für notwendig. Der Bund solle dabei das „Gute-Kita-Gesetz“ für mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung über 2022 hinaus verlängern und damit sein finanzielles Engagement „verlässlich verankern“. Die Mittel sollten laut Stiftungsvorstand in erster Linie für die Gewinnung und Qualifizierung neuer Fachkräfte eingesetzt werden.
Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung verschärft Personalmangel
Mit dem Anfang 2019 in Kraft getretenen „Gute-Kita-Gesetz“ fließen bis Ende 2022 insgesamt 5,5 Milliarden Euro vom Bund an die Länder. Mit den Mitteln können die Länder die Eltern von Kitagebühren entlasten und die Betreuungsqualität verbessern – also etwa in einen besseren Fachkraft-Kind-Schlüssel investieren.
Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder würde laut Stiftung den Personalmangel zusätzlich verschärfen. Zur genaueren Abschätzung der benötigten Fachkräfte für diese Ganztagsbetreuung will die Bertelsmann Stiftung gegen Ende dieses Jahres neue Daten veröffentlichen.
Geplant ist eigentlich, dass jedes Kind, das ab Sommer 2026 eingeschult wird, in den ersten vier Schuljahren Anspruch auf einen Ganztagsplatz bekommt. Damit würde sich an den Betreuungsanspruch in der Kita direkt ein Anspruch in der Schule anschließen. Der Bundesrat stimmte dem entsprechenden Gesetz Ende Juni allerdings nicht zu und rief den Vermittlungsausschuss an. Hintergrund ist ein Streit über die Finanzierung zwischen Bund und Ländern.
Das ebenfalls von der Bertelsmann Stiftung vorgelegte aktuelle Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme zeigt das gleiche Bild wie schon in den vergangenen Jahren: Trotz des starken Kita-Ausbaus gibt es im Westen zu wenig Betreuungsplätze. Und im Osten hapert es beim Fachkraft-Kind-Schlüssel: Hier betreut eine Fachkraft zu viele Kinder.
Konkret zeigt die Analyse, dass im Osten 53 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine Kita oder Kindertagespflege besuchen, im Westen sind es lediglich 31 Prozent. Die höhere Qualität – gemessen am Personalschlüssel – bieten laut Monitoring hingegen die Kitas im Westen. Dort betreut rechnerisch eine vollzeitbeschäftigte Kita-Fachkraft 3,5 ganztagsbetreute Krippenkinder. In Ostdeutschland sind es 5,5 Kinder. Die Bertelsmann Stiftung verweist auf wissenschaftliche Empfehlungen, nach denen bei den unter Dreijährigen ein Personalschlüssel von eins zu drei kindgerecht wäre, bei Kindergartengruppen einer von ein zu 7,5.
„Etappenziel“ wäre auch schon deutliche Verbesserung
Die Stiftung rechnet vor: Sofern im Osten keine Fachkräfte entlassen und die prognostizierten Berufseinsteiger eingestellt würden, ließen sich die Personalschlüssel bis 2030 auf das heutige Westniveau verbessern. Begünstigt würde dieses Etappenziel durch rückläufige Geburtenraten.
Im Westen stehen die Bundesländer mit Blick auf die Kita-Plätze vor unterschiedlichen Herausforderungen. Demnach ist in Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein laut Prognose das Personal vorhanden, um bis 2030 zumindest das heutige Niveau der ostdeutschen Bundesländer zu erreichen.
In Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland lässt sich der Bedarf an Kita-Plätzen jedoch nicht decken, ohne über die bis 2030 prognostizierten Ausbildungskapazitäten hinaus zusätzliche Fachkräfte auszubilden und anzustellen.
Mehr noch: „Sofern die derzeitigen Personalschlüssel beibehalten werden, fehlen hier laut Fachkräfte-Radar auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt insgesamt rund 33.000 Erzieherinnen und Erzieher“, heißt es in der Erklärung der Stiftung.
Für Stiftungsvorstand Dräger ist die Angleichung von Kita-Plätzen und Personalschlüssel in Ost und West natürlich nur ein „Etappenziel“. Allerdings wäre dieses bereits eine bedeutende Verbesserung der Situation: „Das Gefälle zwischen Ost und West bei Teilhabe und Qualität aufzulösen wäre ein echter Durchbruch in der frühkindlichen Bildung.“
Das langfristige Ziel für die frühkindliche Bildung in Deutschland müsse aber weiterhin lauten: kindgerechte Qualität nach wissenschaftlichen Empfehlungen für alle Kinder unabhängig vom Wohnort.
Die Bildungsgewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) forderte am Dienstag ebenfalls eine Aufwertung des Erzieherberufs durch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung. In den Kitas seien die Alltagssorgen und Nöte trotz aller Verbesserungen im zurückliegenden Jahrzehnt groß, hieß es. Überall fehlten gut ausgebildete Fachkräfte, der qualitative Kita-Ausbau stottere. Die Ausbildungskapazitäten müssten deutlich steigen. Zudem müssten bundesweit Mindeststandards für eine verbesserte Fachkraft-Kind-Relation geschaffen werden.
GEW-Vorstandsmitglied Doreen Siebernik erklärte: „Der Bund muss Länder und Kommunen unterstützen, um eine Weiterentwicklung der Qualität in der Kindertagesbetreuung langfristig sicherzustellen.“ Qualitätsverbesserungen müssten aus einem Sondervermögen dauerhaft finanziert werden.
Aktuell herrsche in deutschen Kitas eine „dramatische Personalunterdeckung“, teilte der Verband Bildung und Erziehung (VBE) mit. Er stellte ebenfalls am Dienstag die Befunde seiner DKLK-Studie 2021 vor, einer bundesweiten Umfrage unter knapp 4500 Kita-Leiterinnen und -Leitern. Demnach schätzen 80 Prozent der Befragten die Fachkraft-Kind-Relation schlechter ein, als es die wissenschaftlichen Empfehlungen für das Betreuungsverhältnis vorgeben. Die Folge: In vielen Fällen kann die Aufsichtspflicht nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben garantiert werden.
Fast die Hälfte der Träger gibt zudem an, dass wegen des Fachkräftemangels mittlerweile Personal eingestellt werde, das noch vor Jahren wegen „mangelnder Passgenauigkeit“ nicht infrage gekommen wäre. Der VBE fordert darum eine bundesweite Fachkräfteoffensive und eine „wahrnehmbare“ Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Bezahlung.
Geklagt wird auch über die mangelnde Wertschätzung des Berufsbildes durch die Öffentlichkeit und vor allem durch die Politik. Der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann sagte: „Daran haben auch die öffentlichen Bekundungen über die Systemrelevanz von Kitas in der Pandemiezeit und das Gute-Kita-Gesetz nichts geändert.“
Mehr: Von der Bildung bis zur Rente: Die Wahlprogramme im großen Vergleich.
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