Völkerrecht und Landesrecht verhindern Selbstbestimmung. Die jüngsten Beweise für diese Behauptung finden wir am Beispiel Kataloniens und der irakischen Kurden. Bei genauem Hinschauen stellt man fest, dass der Staaten-Spaltpilz nicht nur Spanien und den Irak betrifft. Es handelt sich um ein globales Problem. Man denke an Syrien, Afghanistan, Kongo, Mali oder Libyen. Da wird vom jeweiligen Volk gesprochen, doch eben diese Volks-Einheit gibt es nicht. Tatsächlich gibt es verschiedene Gruppen mit teils völlig entgegengesetztem Wir-Gefühl. Der gemeinschaftliche Rahmen des Staates, dessen Grenzen, entsprechen nicht dem Wir-Gefühl der unterschiedlichen Gemeinschaften im Staat. Die internationale Staatenordnung ist in Wahrheit eine Unordnung.
Eine der Ursachen ist der – meistens nicht erkannte oder absichtlich nicht benannte – Gegensatz von Völkerrecht und Selbstbestimmung. Ein großer Teil der Katalanen, offensichtlich einige Millionen, will „weg von Spanien“. Die Weisheit dieses Wunsches darf bezweifelt werden. Die Tatsache bleibt. Tatsache ist auch, dass dieser Wunsch der spanischen Verfassung, also geltendem Recht, widerspricht. Er widerspricht auch dem Völkerrecht. Dieses bestimmt, dass Bestand und Grenzen der Staaten unantastbar sind. Tatsache ist auch, dass in unserem politischen Wertesystem sowohl das Völkerrecht als auch das Recht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung zurecht unantastbar sind. Zwei Elementarprinzipien stoßen hier aufeinander. Die Bevorzugung des einen oder anderen ist letztlich verbunden mit dem Bruch des anderen Prinzips.
Was ließ die Unabhängigkeitsbewegung so stark aufflammen?
Jede Entscheidung ist ebenso richtig wie falsch. Sie fällt politisch, und ist, so gesehen, willkürlich. Wie willkürlich, erkennt man an einem anderen europäischen Beispiel. Wie die Katalanen von Spanien und die Kurden vom Irak „weg“ streben, wollten die albanischen Kosovaren „weg“ von Serbien. Ihnen gestand die internationale „Gemeinschaft“ – die leider keine echte Gemeinschaft ist – im Jahre 2008 die Gründung eines eigenen Staates zu. Katalanen und Kurden wird dieser Wunsch, der zugleich Recht ist, verweigert. Logik und Konsequenz sehen anders aus.
Ein fundamentaler Unterschied besteht allerdings zwischen dem jeweils gültigen Landesrecht, auch Völkerrecht, und dem Naturrecht. Diesem zufolge kann kein geltendes, also gesetztes Recht, das Menschenrecht auf Selbstbestimmung – als Naturrecht – aufheben. Daraus folgt: Selbstbestimmung vor Völker- und Landesrecht. Das ist die normative (Werte-)Dominanz. Deren puristische Anwendung könnte freilich zur Auflösung zahlreicher Staaten und damit zu langem Chaos, sogar zu Bürgerkriegen führen.
Noch ist es in Spanien nicht (wie 1936 bis 1939) so weit. Auch nicht im Irak, wo Kurden zuletzt 1991 und im Iran jüngst 2005 von der Zentralregierung regelrecht abgeschlachtet wurden. In Syrien versucht es Diktator Assad mit russischer Hilfe, zuvor der „Islamische Staat“, und Erdogans Türkei ist gegenüber autonomiewilligen Kurden gegenüber auch nicht gerade zimperlich.
Sind Stabilität und Selbstbestimmung vereinbar?
„Ich fordere ein Mandat für unsere Unabhängigkeit – aber jetzt noch nicht “
Nun ist zu befürchten, dass sowohl Erdogans Türkei als auch Iraks Zentralregierung und das iranische Mullahregime die Unabhängigkeit der irakische Kurden militärisch verhindern werden. Sie werden den Waffengang, aber keinen Frieden gewinnen. Mit späteren Kriegen müssen sie rechnen, denn der Wille des Menschen, sein Selbstbestimmungsrecht individuell und kollektiv zu verwirklichen, ist eine historische Urkraft. Sie kann zeitweilig unterdrückt werden, sogar lange, doch nicht dauerhaft.
Daraus folgt: Der Gegensatz Selbstbestimmung versus Recht bleibt bestehen. Daraus wiederum folgt: Es wird erneut zu Gewalt und Gegengewalt kommen, die staatliche Einheit des Irak, Syriens, des Iran sowie der Türkei bleibt brüchig, wenn und solange den Kurden das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten wird. Auch die Einheit Spaniens bleibt fragil, wenngleich die Gewalt von, in und gegen Katalonien noch keine Bürgerkriegsdimension erreicht hat. Sind staatliche Einheit beziehungsweise Stabilität und Selbstbestimmung unter solchen Bedingungen miteinander zu vereinbaren? Ja.
Das politische Instrument heißt FÖDERALISMUS. Konkret wären Spanien, der Irak und ähnlich zerbröselnde, zentralistisch aufgebaute Einheitsstaaten zu Bundesstaaten umzubauen. Dann nämlich entspräche der staatliche Rahmen der bevölkerungspolitischen Vielfalt. Der Widerspruch zwischen der demografischen Basis und dem institutionellen Überbau wäre beseitigt – und damit die Hauptursache innerstaatlicher Konflikte.
Im spanischen Bundesstaat gäbe es ein Bundesland Katalonien (auch Baskenland und gegebenenfalls zusätzliche wie Galicien), in der Bundesrepublik Irak neben einem Bundesland der Schiiten und Sunniten ein Bundesland Irakisch-Kurdistan. Auch die Türkei, Syrien und der Iran können nur durch einen föderativen, sprich bundesstaatlichen Umbau inneren Frieden erhoffen.
Die Kurden blieben weiterhin über vier Staaten verteilt. Denkbar wäre dann dieses Staatenbund-Modell: Die kurdischen Bundesländer im Irak, Iran, in Syrien und der Türkei bilden eine Konföderation, bleiben aber als einzelne Bundesländer in jeder der zu Bundesrepubliken umgeformten vier Staaten. Wenn Deutschland und die EU in den genannten Konflikten und anderen vermitteln, also Frieden stiften möchten, werden sie nicht umhin können, maßgeschneiderte Föderalismusmodelle zu entwickeln, vorzuschlagen und verwirklichen zu helfen.
Der Historiker und Publizist Prof. Dr. Michael Wolffsohn veröffentlichte zuletzt den Bestseller „Deutschjüdische Glückskinder, Eine Weltgeschichte meiner Familie“, „Zivilcourage“ und „Zum Weltfrieden“
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Herr Wolffsohn hat m. E. eine ziemlich gute Beschreibung und Wertung mit seinem Beitrag abgegeben. Auch seine Lösungsansätze sind nachvollziehbar.
Zu kurz ist mir lediglich die Analyse zum spanischen Staat der jetzigen, angeblich „demokratischen“ Prägung gekommen. Hier sollte man wissen, dass diese Demokratie erst in den 70-ger Jahren nach langer Franko-Diktatur eingeführt wurde. Da stellt sich schon die Frage, wie es zu diesem demokratischen Staat gekommen ist.
Wenn man dann berücksichtigt, was in etwas über 4 Jahrzehnten die „Demokratie“ in Spanien von korrupten Politikern „verstanden“ wurde, zeigt sich durchaus ein weiteres Konfliktpotential. Denn es spielt durchaus eine große Rolle, wer die Macht faktisch ausübt und wer der „Unterlegene“ ist.
Gleiches kann man in Deutschland feststellen. Da wird nach 27 Jahren der Osten der Republik – je nachdem, wie es dem politischen und medialen Klüngel passt - zuerst als rechts und undankbar verunglimpft, um dann von einer Bevölkerung zu reden, der man „helfen muss“ demokratische Prinzipien zu lernen und zu leben.
Auch bei uns gilt gleiches wie in Spanien. Was hier wohl los wäre, wenn der Osten feststellen würde, sie hätten den „Einigungsvertrag“ unter falschen Annahmen unterschrieben – so hätten sie sich die BRD nicht vorgestellt?
@ Herr Fernando Fernandez11.10.2017, 15:12 Uhr
Es mag ja sein, dass die Katalanen damals gefragt wurden. Viele Katalanen sehen das wohl anders. Die Kurden wurden nie gefragt. Die Grenzen von Syrien, Iran und Irak wurden ohne ihr Zutun gezogen. Ob die türkischen Kurden freiwillig zur Türkei gingen, bezweifel ich auch. Jedenfalls hat Erdoan, als er sie brauchte Frieden geschlossen, um sie dann, als er die absolute Mehrheit im Parlament zu verlieren drohte, wieder mit Krieg zu überziehen. Die Kurden haben also nie zugestimmt, auch nicht durch frei gewählte Politiker der Kurden. Solange Völker in einem Staat zusammengehalten werden, der nicht der ihre ist, wird es immer wieder Krieg geben. Wie war es denn im ehemaligen Jugoslawien? Die repräsentative Demokratie funktioniert nur, wenn die gewählten Politiker auch die Bürger vertreten. Das mag ja für Katalonien gelten? Für die Kurden und viele andere Volksgruppen nicht.
Ergänzung/Korrekturen zum Kommentar von 14:35 Uhr:
Zum Abschnitt „Grundsätzlich dürfte gelten: Je vielfältiger die Entscheidungsbasis – d.h., je detaillierter und differenzierter bei politischen Entscheidungsfindungsprozessen die naturgemäß oft unterschiedlichen jeweiligen Interessen der vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen abgebildet werden -, desto besser“:
Bildlich gesprochen: Je höher die Auflösung (je mehr „Pixel“), desto deutlicher erkennbar das ganze Bild.
Außerdem muss es weiter unten im Text richtig heißen:
„… damit endlich Raum für neue Denkansätze in den Köpfen geschaffen wird“
und
„damit statt von „Nationalstaaten“ bald einfach von „Regionen“ (zum Beispiel) gesprochen werden kann“.
Der Autor suggeriert, dass das Völkerrecht eine ethisch/moralisch unzweifelhafte und damit unantastbare Instanz sei, die Separationsbemühungen rechtlich per se fragwürdig erscheinen läßt. Worauf der Autor nicht eingeht ist, wie einzelne Staaten historisch entstanden sind und wo somit der Grundstein der eigentlichen Problematik liegt. Regional bedeutende Volksgruppen wurden eben häufig in Staaten "eingemeindet", ohne dass man ihnen eine große Wahl gelassen hat. Ggf. waren einige Volksgruppen vor hunderten von Jahren auch damit einverstanden, sich unter den Schutzschirm eines Staates zu begeben. Aber: Die Zeiten ändern sich und es stellt sich somit die legitime Frage, ob ein ehemals abgetretenes Recht auf Souveränität somit für alle Zeiten unumkehrbar futsch ist. Diesen Grundgedanken muss man diskutieren und bewerten und zwar gänzlich losgelöst von der wirtschaftlichen und außenpolitischen Sinnhaftigkeit. Wenn die Katalanen einen souveränen Staat bilden möchten, der wirtschaftlich nicht überlebensfähig ist, weil er nicht Mitglied der EU sein kann, dann ist das erst mal Sache der Katalanen und nicht eine Frage des internationalen Völkerrechts. Und wenn ein auf vier Staaten verteiltes und somit zerrissenes Volk wie die Kurden einen eigenen Staat anstrebt, muss auch das völkerrechtlich diskutiert werden dürfen. Meine Meinung!
@ Herr Keizer
wieder der Vergleich mit den Kurden, was soll der Unsinn?
Die Katalanen in Form Ihrer damaligen demokratisch gewählten Repräsentanten sind damals gefragt worden.
Die EU sollte m.E. richtigerweise dafür plädieren, dass alle nur einen Pass erhalten und zwar einen Europäischen (ich würde meinen gerne dagegen tauschen). Wie kann das die richtige Adresse sein.
Separatismus ist immer falsch, ob Regionen, Weltanschauungen oder Religionen. Alle die sich für das Maß der Dinge halten und über die allgemeine Gesellschaft stellen sind hier von mir gemeint.
Natürlich ist in der EU nicht jeder einzelne gefragt worden, dafür gibt es ja in einer Demokratie gewählte Repräsentanten. Was ist das denn für ein Verständnis von Demokratie, wo jeder einzelne gefragt werden muss. Demokratie bedeutet auch, dass 51% bestimmen, was die anderen 49% tun müssen, das wird in unserer Kontra Mentalität gerne vergessen, deswegen auch meine Ansätze...Auch in Deutschland versuchen ideologische (Kleinstgruppierungen, damit meine ich nicht unbedingt politische) permanent gegen die Mehrheit ihren Willen durchzusetzen. Das führt die Demokratie ad absurdum.
..."wahre gelebte Demokratie, keine Scheindemokratie"... sind hierzulande (also in D) seit 1933 bis 1945 sowie darüberhinaus bis heute hinreichend bekannt.
Wenn das wirklich das Volkswille war, dann hat es bekommen was es verdient.
@ Herr Fernando Fernandez11.10.2017, 13:44 Uhr
"...der Artikel überspannt ein wenig, wenn hier die Kurden etc. mit Katalonien verglichen werden.
1. Haben die Katalanen (nach Franco) die aktuell gültige Verfassung mit verabschiedet, inkl des Passus zur Untrennbarkeit."
Das haben die Kurden in den jeweiligen Ländern doch wohl auch nicht. Sie sind nie gefragt worden. Man hat ihnen einfach keinen eigenen Staat zugestanden.
Dass allerdings die EU, wie Herr Wollfsohn meint, zur Lösung beitragen könnte, glaube ich eher nicht. Wir müssen aufpassen, dass die EU nicht zu einem zentralen Gebilde mit Sitz in Brüssel wird und wir dann in den jeweiligen EU-Ländern ähnliche Bestrebungen wie in Katalonien oder Kurdistan erleben. Auch in der EU sind die Bürger überwiegend nicht gefragt worden.
Dilemma, Zwickmühle oder wie auch immer man es nennen will: Es geht nicht vor und nicht zurück.
„Das politische Instrument heißt FÖDERALISMUS. Konkret wären Spanien, der Irak und ähnlich zerbröselnde, zentralistisch aufgebaute Einheitsstaaten zu Bundesstaaten umzubauen. Dann nämlich entspräche der staatliche Rahmen der bevölkerungspolitischen Vielfalt. Der Widerspruch zwischen der demografischen Basis und dem institutionellen Überbau wäre beseitigt – und damit die Hauptursache innerstaatlicher Konflikt“.
Grundsätzlich dürfte gelten: Je vielfältiger die Entscheidungsbasis – d.h., je detaillierter und differenzierter bei politischen Entscheidungsfindungsprozessen die naturgemäß oft unterschiedlichen jeweiligen Interessen der vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen abgebildet werden -, desto besser.
Aus http://www.handelsblatt.com/politik/international/streit-um-die-unabhaengigkeit-rajoy-fordert-klarheit-von-der-katalanischen-regionalregierung/20441958.html:
„An der Abstimmung hatten sich weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten in Katalonien beteiligt.“
Das sagt doch schon alles.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Da wird es langsam Zeit, dass Begriffe wie „Völkerrecht“ oder „Nationalstaat“, mit denen die Wenigsten wirklich etwas anfangen können, die aber gleichwohl "in Stein gemeißelt" scheinen, in den Geschichtsbüchern verschwinden.
Und dort auch bleiben, damit in endlich Raum für neue Denkansätze in den Köpfen geschaffen wird.
Natürlich müsste dann in Zukunft ein anderer Begriff für die Gegend, aus der man jeweils stammt (und/oder der man sich zugehörig fühlt) gefunden werden. Jedenfalls hoffe ich, dass man jetzt endlich damit beginnt, die politischen Voraussetzungen und die rechtliche bzw. institutionelle Infrastruktur zu schaffen, damit baldmöglichst statt von „Nationalstaaten“ bald einfach von „Regionen“ (zum Beispiel; o.ä.) gesprochen werden kann.
...der Artikel überspannt ein wenig, wenn hier die Kurden etc. mit Katalonien verglichen werden.
1. Haben die Katalanen (nach Franco) die aktuell gültige Verfassung mit verabschiedet, inkl des Passus zur Untrennbarkeit.
2. Ist die Darstellung, dass Katalonien Spanien finanzieren würde vollkommen verzerrt, wenn man die Kredite der Zentralregierung an die Katalanen mit betrachtet
3. Rajoy verhält sich wie ein kleiner dummer Junge und läuft dem Populisten ins offene Messer.
Lösungsansatz: Unter der Bedingung, dass nach einem "legalen" Referendum die Diskussion "auf immer und ewig" begraben ist kann man nur anraten ein Referendum durchzuführen:
Bedingung 1: Es gibt eine Wahlpflicht für alle in Katalonien lebenden Menschen.
Bedingung 2: Diese Wahl muss von einer neutralen Stelle überwacht werden z.B. OSZE
Bedingung 3: Repressalien gegen Gegner der Unabhängigkeit müssen unterbunden werden
Bedingung 4: Das Ergebnis muss mit einer 2/3 Mehrheit für die Unabhängigkeit ausgehen, damit eine Trennung stattfindet und Katalonien muss alle Kosten erst einmal an Spanien zurückzahlen.
Bedingung 5: Wenn es eine einfache Mehrheit zu Stande kommt, bekommen die Katalanen ein Autonomierecht , wie das Baskenland
Bedingung 6: Wenn gegen die Unabhängigkeit votiert wird, dann wird dieses auch in der katalanischen Gesetzgebung verankert, dass es nie wieder (unveränderbar) zu einer solchen Abstimmung kommen kann/darf.
..."wahre gelebte Demokratie, keine Scheindemokratie"... sind hierzulande (also in D) seit 1933 bis 1945 sowie darüberhinaus bis heute hinreichend bekannt.