Generationengerechtigkeit Auf welche Bereiche das Karlsruher Urteil zum Klimaschutz auch Auswirkungen haben könnte

Welche finanziellen Lasten der Gesellschaft schultern heutige, welche künftige Generationen?
Berlin Als das Bundesverfassungsgericht am Donnerstag seine Klima-Entscheidung fällte, war die Politik voll des Lobes. Das Urteil sei „wegweisend“, ließ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren Sprecher ausrichten. Die Karlsruher Richter hatten entschieden, dass auf dem Weg zum Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 einschneidende Schritte zur Senkung von Emissionen nicht zulasten der jungen Generation auf die lange Bank geschoben werden dürfen.
Den Grünen dient der Beschluss als Steilvorlage, um von der Koalition beherzte Schritte im Klimaschutz zu fordern. Man halte es für richtig, die Entscheidung der Karlsruher Richter „zum Ausgangspunkt zu nehmen, um noch in dieser Legislaturperiode konkrete Schritte für einen ambitionierten Klimaschutz einzuleiten“, heißt es in einem Schreiben der Grünen-Spitze an die Bundesregierung, aus dem die Zeitungen der Funke Mediengruppe zitieren.
Es sei von den Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie den Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter unterzeichnet. Konkret fordern die Grünen unter anderem eine Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro, der derzeit 25 Euro beträgt. Adressaten seien Bundeskanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sowie die Partei- und Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD.
Scholz kündigte in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ an, er wolle einen Vorschlag für ein neues Klimaschutzgesetz machen: „Nächste Woche lege ich mit Svenja Schulze einen Gesetzentwurf auf den Tisch“, sagte er. Nötig seien mehr Generationengerechtigkeit, mehr Planungssicherheit und mehr Klimaschutz, „der die Wirtschaft nicht abwürgt, sondern umbaut und modernisiert“.
Mit dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ rührt Scholz an einen entscheidenden Punkt: Das Karlsruher Urteil reicht weit über das Thema Klimaschutz hinaus. Es berührt beispielsweise auch die Finanzierung der Sozialsysteme oder die Schuldenbremse.
Das Bundesverfassungsgericht bedenke die Auswirkungen heutiger Politik auf die künftige Freiheit junger Menschen, sagt der Heidelberger Staatsrechtler Hanno Kube. „Das Gericht wägt erforderliche Freiheitseinbußen heute und in Zukunft miteinander ab.“ Es handele sich um „ein wegweisendes, historisches Urteil“, das auf andere Felder ausstrahle.
Politik müsse „generell in Jahrzehnten denken und immer auch die Freiheit künftiger Generationen sichern“, fordert der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel. Die Lehre aus dem Urteil müsse daher eine „umfassende, politikfeldübergreifende Nachhaltigkeit“ sein.
Das Karlsruher Urteil zum Klimaschutz könnte damit Auswirkungen auf viele andere Politikbereiche haben. Denn Generationengerechtigkeit ist vielfach tangiert.
Rente: Wie wird die Last der alternden Gesellschaft auf die Generationen verteilt?
Bernd Raffelhüschen ist bekannt für markige Worte. Die Babyboomer seien „reproduktive Rohrkrepierer“, schimpfte der Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Universität Freiburg vor ein paar Tagen auf einer Veranstaltung. Die geburtenstarken Jahrgänge hätten es versäumt, ausreichend Kinder in die Welt zu setzen, um das Rentensystem zu festigen.
Seit Jahren berechnet der Finanzwissenschaftler, wie politische Entscheidungen etwa in der Renten- oder Gesundheitspolitik die „impliziten“ Staatsschulden in die Höhe treiben, die auf Kosten künftiger Generationen gehen. Die Enthaltsamkeit der Babyboomer führe dazu, dass ab 2040 „ein Erwerbstätiger einen Alten versorgen“ müsse, kritisierte Raffelhüschen.
Seine Methoden sind umstritten. Aber dass angesichts der Alterung der Gesellschaft immer mehr Rentnern immer weniger Beitragszahlende gegenüberstehen, ist Fakt. Und die Frage, wie die Last auf die ältere und die jüngere Generation verteilt wird, ist Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Ist es gerecht, das Rentenniveau für heutige und angehende Rentnergenerationen zu stabilisieren und dafür jüngeren Arbeitnehmern höhere Beiträge oder einen späteren Renteneintritt zuzumuten?
„Die Rentenpolitik der vergangenen Jahre ging ganz klar auf Kosten künftiger Generationen“, kritisiert der Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Hubertus Pellengahr. Die Rente mit 63, die doppelte Haltelinie bei Rentenniveau und Beitragssatz sowie die Mütterrente trügen mit dazu bei, dass die Beiträge und Steuerzuschüsse in die Rentenkassen ab 2025 „in atemberaubende Höhen“ stiegen.
Der ausgesetzte Nachholfaktor zeige exemplarisch, dass Belastungen sehr einseitig auf junge und künftige Generationen abgewälzt würden. Normalerweise sorgt der Mechanismus dafür, dass die Rentensteigerung nach einer Krise gedämpft und so die schlechtere Lohnentwicklung nachvollzogen wird.
Durch die Aussetzung müssen sich Rentner nicht an den Kosten der Corona-bedingten Lohnrückgänge beteiligen, profitieren aber dennoch zu 100 Prozent von künftigen Lohnsteigerungen. „Das verstößt eklatant gegen die Gerechtigkeits- und Freiheitsgrundsätze, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil unterstrichen hat“, sagt Pellengahr.
Die Herausforderungen beim Klima seien zwar andere als bei der Rente, sagt FDP-Sozialexperte Vogel. „Aber auch dort werden durch die Politik der letzten Jahre Konsolidierungsaufgaben massiv auf die Zeit um 2030 verschoben und damit umso schwieriger.“
Die Bundesregierung hatte zwar eine mit Politikern, Sozialpartnern und Wissenschaftlern besetzte Rentenkommission einberufen, die sich mit der nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025 befassen sollte. In ihrem Bericht spricht sie sich zwar für eine Beibehaltung von Haltelinien bei Rentenniveau und Beitragssatz aus, aber gegen eine Anhebung der Regelaltersgrenze über 67 Jahre hinaus.
Für den rentenpolitischen Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Markus Kurth, ist die Entscheidung der Karlsruher Richter allerdings nicht so einfach auf die Rente zu übertragen: „Der Unterschied zwischen Rente und Klima ist, dass beim Klima die Folgen für die nachwachsenden Generationen irreversibel sind, während man bei der Rente immer nachsteuern kann.“

Paul Ziemiak, heutiger CDU-Generalsekretär, und der Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Hubertus Pellengahr (r.), im Jahr 2016: Ist die Rente sicher?
In der kommenden Wahlperiode werden nachhaltige Rentenfinanzen sicher wieder ein Thema werden. Ein entscheidender Beitrag zur Generationengerechtigkeit bei der Rente sei, die Zahl der Beitragszahler durch Zuwanderung, eine höhere Frauenerwerbsquote und mehr Qualifizierung hoch zu halten, sagt Kurth.
Haushalt: Schränken ausufernde Staatsschulden die Gestaltungsspielräume der jungen Generation ein?
Direkt nach dem Klimaschutz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuckte ein Beamter im Bundesfinanzministerium zusammen. Er möge sich nicht ausmalen, welche Folgen das Urteil haben könnte, wenn es auch auf Staatsschulden angewendet werden würde, sagte er. Die Sorge: Das Urteil könnte höherer Staatsverschuldung einen Riegel vorschieben, um künftige Generationen vor „Schuldenbergen“ ihrer Vorgängergeneration zu schützen.
Tatsächlich war diese Sorge lange Zeit in Deutschland weit verbreitet: Der Staat dürfe sich nicht zu hoch verschulden, um künftigen Generationen keine hohen Verbindlichkeiten zu hinterlassen. Mit dieser Intention wurde auch die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben.
In den vergangenen Jahren ist die Sichtweise aber in die Kritik geraten, und die genau entgegengesetzte Meinung gewann Oberwasser: Es nütze niemanden etwas, wenn der nachfolgenden Generation keine Schulden hinterlassen würden, dafür aber eine marode Infrastruktur oder eine überhitzte Erde.
Nicht Defizite seien Verrat an kommenden Generationen, sondern sich nicht zu verschulden. Zudem erbten die nächsten Generationen ja nicht nur Schulden, sondern auch Vermögen, etwa in Form einer intakten Infrastruktur oder direkter Schuldtitel. Deshalb müsste auch die Schuldenbremse mindestens reformiert oder gleich abgeschafft werden.
Entlang diesen Linien entspann sich nach dem Urteil Karlsruhes auch eine Diskussion unter Ökonomen. So schrieb der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum auf Twitter: „Die ökonomische Konsequenz des Urteils ist für mich, dass es dann auch zulässig sein muss, die Kosten für die heute dringend notwendigen Klimaschutzmaßnahmen über die Zeit zu strecken.“ Sprich: Klima-Ausgaben müssten aus Schuldenbremse und EU-Fiskalpakt herausgerechnet werden.
Ifo-Ökonom Joachim Ragnitz sagte, das stimme wahrscheinlich, hieße im Umkehrschluss aber auch, „schuldenfinanzierte Ausgaben, die nur der heutigen Generation zugutekommen wie etwa Corona-bedingte Notstandskredite, müssten auch von dieser zurückgezahlt werden“.
Der Heidelberger Rechtswissenschaftler Kube steht auf einem ähnlichen Standpunkt: „Für den Bereich der Staatsverschuldung sichert die verfassungsrechtliche Schuldenbremse die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit und Freiheitchancen auch in Zukunft.“
Zwar sei der individuelle Grundrechtsbezug hier weniger unmittelbar als beim Klima, doch sei die künftige finanzielle Handlungsfähigkeit essenziell für die Schaffung tatsächlicher Freiheitsvoraussetzungen wie etwa Sicherheit oder eine gute, funktionierende Infrastruktur.
Deshalb lasse sich eine „zusätzliche gegenwärtige Staatsverschuldung aus Gründen des Klimaschutzes auch nach der Entscheidung Karlsruhes nicht rechtfertigen“, so Kube. Die Entscheidung wäge heutige und künftige Freiheitseinbußen miteinander ab. „Staatsverschuldung vermeidet dagegen heutige Einbußen und bürdet den künftigen Generationen zusätzliche Einbußen auf. Dies wäre das Gegenteil von generationenübergreifender Gerechtigkeit.“
Bildung: Wie schmälern unzureichende Investitionen in die Schulen die Job- und Einkommenschancen?
Beklagen könnten sich junge Menschen mit Fug und Recht über das defizitäre Bildungswesen. Schon 2008 rief Kanzlerin Merkel die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus, das System müsse „jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg ermöglichen“. Gemeinsam mit den Länderchefs versprach sie, die Bildungsausgaben bis 2015 auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern.
Davon ist die Republik aber weit entfernt, zuletzt waren es gerade mal 4,2 Prozent. Deutschland schneidet damit im internationalen Vergleich weit unterdurchschnittlich ab. Der OECD-Schnitt liegt bei 4,9 Prozent. Länder wie Norwegen, USA, Neuseeland, Australien, Großbritannien oder Israel stecken sogar mehr als sechs Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in die Bildung.
Geld ist nicht alles, aber auch der Output ist unbefriedigend: In den internationalen Pisa-Tests der OECD sind die deutschen Schüler in 20 Jahren nicht über das obere Mittelfeld hinausgekommen – und zuletzt sogar wieder zurückgefallen. Dazu kommen die deutlich schlechteren Chancen für Kinder aus Nicht-Akademiker- oder Migranten-Haushalten.
Fast allen anderen Ländern gelingt es weit besser, familiäre Unterschiede auszugleichen. All das schmälert die Chancen eines Großteils des Nachwuchses auf Jobs und gute Gehälter enorm.
Ob das Bundesverfassungsgericht auf diesen Politikfeldern nun zu ähnlich weitreichenden Urteilen käme wie beim Klimaschutz, ist nicht ausgemacht. Doch zumindest sorgt die Karlsruher Entscheidung schon jetzt dafür, dass die Politik der Generationengerechtigkeit ganz neue Aufmerksamkeit schenkt.
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Das ist ja eine interessante neue Philosophie.
Vielleicht kann das Gericht auch klären, wie wir die Generationen aus Mitte und Ende des 19.Jahrhunderts belangen können, die uns mit der Industrialisierung den heutigen Zustand eingebrockt haben ? (Sarkasmus)
Die Reaktionen aus allen Parteien der Regierungsbank (u.a. "wegweisend") sind irritierend.
Wenn das doch alle wussten und sich einig sind - warum hat man dann wieder auf das Gericht gewartet ?