Gerechtigkeit, Flüchtlinge, Kanzlerfrage So tickt Deutschland

Was lockt die Verunsicherten und die Wankelmütigen zur Wahlurne?
Angela Merkel muss am Mittwoch die Volksnahe geben. Mit festem Schritt betritt die Kanzlerin die Briloner Schützenhalle. „Die ist ja ganz schön klein“, raunt einer im Publikum und meint nicht die Halle. Merkel ist gekommen, um die nordrhein-westfälische CDU kurz vor der Landtagswahl zu unterstützen. Mehr als 2.000 Menschen haben sich bei Bier, Brezeln und Blaskapelle eingefunden – ein bisschen Bayern im tiefsten Sauerland. Keine Pfiffe, keine Buhrufe. Die Briloner begrüßen Merkel mit wohlwollender Gelassenheit. „Gut, das mit den Flüchtlingen hätte sie anders regeln können“, sagt einer, aber nun habe sie das Ganze ja doch gut hinbekommen. Die ländliche Region ist fest in schwarzen Händen. Die Kanzlerin aus dem fernen Berlin weiß, was die Leute hier hören wollen. Sie redet über die vielen Staus, über die Novellierung des Jagdgesetzes und den 600. Geburtstag der ortsansässigen Schützengemeinschaft.
Martin Schulz muss am Donnerstag den Genossen der Bosse geben. Er besucht Telekom-Chef Timotheus Höttges in Bonn. Der CEO hat an diesem Tag auch noch seine Quartalszahlen präsentiert. „Der Bericht war gut, hat mir der Herr Höttges gesagt“, verkündet Schulz den Entwicklern und Produktmanagern im Großraumbüro. Vielleicht hatten die das auch schon so mitgekriegt. Statt über soziale Gerechtigkeit oder kostenlose Kita-Plätze spricht Schulz heute über den einheitlichen digitalen Binnenmarkt in der EU. Er betont, dass die Telekom „ein extrem wichtiges Unternehmen für die Bundesrepublik“ sei und ein „richtiger europäischer Champion“.
Es wirkt, als hätten die Kandidaten für 24 Stunden die Körper getauscht. Die promovierte Physikerin Angela Merkel, für die eine Expertendebatte über Industrie 4.0 dem Idealbild eines gelungenen Abends recht nahekommt, sucht im Sauerland das Bad in der Menge. Martin Schulz, der mitreißende Redner und Volkstribun versucht, seine Nähe zu Innovation und Management zu demonstrieren.
Natürlich ist es Zufall, dass die beiden Auftritte so aufeinanderfolgen. Doch dieser Zufall symbolisiert die Verunsicherung der Politik: Was muss man diesem rätselhaften und wankelmütigen Wahlvolk eigentlich noch alles bieten, um es zu überzeugen?
Der wankelmütige Wähler
Bis in den Januar hinein erschien die Bundestagswahl im Herbst als reine Formsache. Die Union lag weit vor der SPD, eine Neuauflage der Großen Koalition unter Merkel erschien als der einzig denkbare Wahlausgang. Ende Januar dann die überraschende Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten und sein ebenso überraschender Höhenflug in den Umfragen. Die Nervosität bei der Union stieg.
Es folgten die Wahlschlappen von Saarbrücken und Kiel, wo die SPD den Schulz-Faktor nicht in Wählerstimmen ummünzen konnte. Mittlerweile liegt die Union in Umfragen wieder klar vorn.
Was ist da los? Warum bevorzugen die Wähler einige Wochen lang den charismatischen Umverteiler Schulz, dann wieder die dröge Weiter-so-Kanzlerin Merkel? Ist das Nervenkostüm des deutschen Durchschnittswählers von Fake News, Terrorfurcht und Abstiegsangst womöglich derart zerrüttet, dass er zu rationalen Entscheidungen gar nicht mehr in der Lage ist und sich wie ein Halm im Winde mal hierhin, mal dorthin neigt?
Das Gegenteil ist der Fall, wie eine exklusive Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Handelsblatts zeigt. Die Deutschen sind deutlich klüger, als viele Politiker (und noch mehr Journalisten) gemeinhin annehmen. Die allermeisten Bundesbürger haben einen rationalen, ideologisch unverstellten Blick auf die Lage des Landes. Und dieser Blick verrät ihnen: Nach zwölf Jahren Merkel ist es eigentlich höchste Zeit für einen Regierungswechsel. Wären da nicht die Zweifel, ob Martin Schulz wirklich der Richtige ist, um sie zu ersetzen.
„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig“, hatte Kurt Tucholsky 1931 gespottet. Damals war der Satz vor allem an jene Weimarer Politiker gerichtet gewesen, die den Deutschen die demokratische Reife absprechen wollten. Gut 80 Jahre später sind die Bundesbürger demokratisch so weit gereift, dass sich konstatieren lässt: Das Volk versteht das meiste richtig. Punkt.
Bei der Allensbach-Umfrage handelt es sich um eine sogenannte Kontrastgruppenanalyse. Bei diesem Verfahren wird eine Stichprobe in Untergruppen zerlegt, um zu zeigen, welche Variablen den stärksten Einfluss auf die Antworten haben. In diesem Fall ging es um die großen Fragen, die auch den Wahlkampf dominieren: Zuwanderung und soziale Gerechtigkeit, Terrorangst und Steuerlast. Und natürlich die Frage, wer ab Herbst dieses Land regieren soll.
Dabei zeigt sich über nahezu alle Kontrastgruppen hinweg ein ausgeprägter Wechselwunsch: 47 Prozent der unter 30-Jährigen wünschen sich ab Herbst eine andere Bundesregierung, aber auch 48 Prozent der über 60-Jährigen. 76 Prozent der Wähler von AfD oder Linkspartei, aber auch 43 Prozent der Wähler der Volksparteien. 50 Prozent der politisch Desinteressierten, aber auch 47 Prozent der Interessierten.

Ich bin gegen eine Transferunion und halte auch die jahrelang anhaltende Nullzinspolitik der EZB für falsch.
Gegen einen Regierungswechsel votieren je nach Gruppe zwischen sechs Prozent (Wähler von AfD oder Linkspartei) und 37 Prozent (Wähler von Volksparteien). Immer noch ist je nach Kategorie zwischen einem knappen Fünftel und einem guten Drittel der Bürger in dieser Frage unentschieden – für die Wahlkampfmanager besteht also noch reichlich Mobilisierungspotenzial.
Auf die konkrete Frage indes, ob man Angela Merkel oder Martin Schulz als Bundeskanzler vorzieht, schwindet die Wechselstimmung schlagartig. Die allermeisten Bevölkerungsgruppen trauen Schulz zwar mehr Kraft und Energie zu. Es ist da offenbar etwas haften geblieben von der Zögerlichkeit, mit der sich die Kanzlerin zu einer erneuten Kandidatur herabließ („Ich habe lange mit mir gerungen“). Doch die Deutschen schätzen an Merkel ihre Kompetenz und Erfahrung. „Es gibt so viele Krisen auf dieser Welt. Ich weiß nicht was Martin Schulz will, aber ich weiß, was Merkel kann“, sagt ein stämmiger Rentner in der Briloner Schützenhalle.
„Nach den Jahren der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung gibt es immer mehr Bürger, die sich als Wohlstandsgewinner sehen und die Bilanz ziehen, dass sie von der guten ökonomischen Lage profitieren“, so Allensbach-Chefin Renate Köcher. Soziale Gerechtigkeit sei den Menschen zwar wichtig, werde aber von vielen zurzeit nicht als ähnlich brennendes Problem empfunden wie zum Beispiel die innere Sicherheit. Köcher: „In solch einer Situation wählen die Deutschen eher den Fels in der Brandung als das Schiff, das zu neuen Ufern aufbricht. Das macht es jedem Herausforderer der Bundeskanzlerin sehr schwer.“

Gut gebildet und besser bezahlt – die „Weltoffenen“ profitieren von der Globalisierung.

Schlechte Bildung und ein geringes Verdienst erzeugen Ängste.
Durch dieses kabbelige Fahrwasser dümpelt nun Martin Schulz. Noch im Februar begeisterte er das SPD-Stammpublikum in Bielefeld mit einer flammenden Rede, in der er versprach, bei seinem Wahlsieg Teile der Agenda 2010 rückgängig zu machen. Doch um Wahlen zu gewinnen, reicht das nicht aus. Die Deutschen wollen von einem Kanzlerkandidaten auch wissen, wie er künftig neuen Wohlstand erzeugen will, anstatt nur den bestehenden umzuverteilen.
Am Montag wollte Schulz in einer Grundsatzrede vor der Berliner Industrie- und Handelskammer endlich seine Antwort auf diese Frage liefern. Der Saal ist bis auf die letzte Reihe gefüllt. Knapp eine Stunde redet Schulz. Er verspricht Vorfahrt für Investitionen, rühmt die SPD als „letzte echte Industriepartei in Deutschland“. Doch Schulz und sein Publikum aus Managern und Unternehmern finden nicht zueinander. Der SPD-Chef, eigentlich ein mitreißender Redner, klebt an seinem Manuskript. Selbst die Witze liest er vom Blatt ab. Niemand lacht. Und nur ein einziges Mal während der gesamten Rede gibt es verhaltenen, der Höflichkeit geschuldeten Applaus. Vieles in Schulz‘ Rede bleibt unverbindlich und floskelhaft. „Unter meiner Führung wird es nur eine Koalition geben, die proeuropäisch ist und die ökonomische Vernunft walten lässt“, sagte Schulz. Der Satz soll der Wirtschaft jene Angst nehmen, die auch viele Bürger teilen – dass man SPD wählt und die Linkspartei kriegt. Haften blieb im Saal vor allem, dass da einer Rot-Rot-Grün nicht ganz ausschließen mag.
Die Angst, dass Schulz und seine Partei am Sonntag in Nordrhein-Westfalen die nächste Wahlschlappe hinnehmen müssen, raubt dem Kandidaten seinen Aplomb. Der Schulz-Hype findet seine Grenzen dort, wo die Menschen mehr wollen als Parteislogans wie „soziale Gerechtigkeit“.
„Wirtschaft ist nicht alles“
Menschen wie Jochen Multhauf zum Beispiel. Der Chef und Gründer von MSM, einem Beratungsunternehmen für Mittelstandsfinanzierung, bezeichnet sich selbst als „konservativ“. Doch als CDU-Stammwähler sieht sich der 45-Jährige deshalb nicht. Für die AfD würde er nie votieren.
Von seinem Büro aus in der Düsseldorfer Innenstadt blickt Multhauf direkt auf den Carlsmarkt, dort wo Menschen verschiedenster Nationalitäten die Leckereien ihrer Heimatländer auf engstem Raum anbieten. „Möglicherweise der beste Beweis dafür, dass Multikulti funktioniert?“, fragt Multhauf mit leichter Ironie.
Ja, er liebe das mediterrane Flair dieses Platzes und gehe oft mit Kunden dort zu Mittag essen. Trotzdem sieht Multhauf die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin kritisch. „Die Hunderttausenden von Menschen, die mehr oder weniger unregistriert ins Land strömten, da muss man kein Konservativer sein, um angesichts dieses Kontrollverlusts ein Unbehagen zu verspüren“, sagt er.

Gegen Abschottungstendenzen in der Union.
Sicherheit ist dem Vater von vier Töchtern wichtig. Weder die Parolen mancher CSU-Hardliner noch die naive Multikulti-Position vieler Linker sprechen ihn an. In der Mitte liege der richtige Weg. Differenziertheit müsse sein.
Das Gleiche gilt für die Europapolitik der Bundesregierung. Multhauf reist viel in seinem Beruf, auch in die ärmeren Länder der Europäischen Union. Er kann verstehen, dass dort viele Menschen, die um ihre Existenz kämpfen, das „Spardiktat der Kanzlerin“ beklagen. Auch der Vormarsch der Rechtspopulisten in diesen Ländern bereitet ihm Sorge.
Trotzdem bleibt Multhauf bei seiner Position: „Ich bin gegen eine Transferunion und halte auch die jahrelang anhaltende Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank für falsch.“ Eher links ist die Meinung des ehemaligen Deutsche-Bank-Angestellten, wenn es um die milliardenschwere Bankenrettung in Europa geht. „Es ist ein Skandal, dass dreistellige Milliardenbeträge für die Rettung von Banken ausgegeben werden, die sich auf den Finanzmärkten verzockt haben, und gleichzeitig manche Länder unter einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent leiden.“
Ob er schon jetzt wisse, wen er bei der Bundestagswahl in vier Monaten wählen werde. „Nein“, sagt Multhauf. Im Interesse seines Unternehmens müsste er wohl FDP wählen, „aber Wirtschaft ist nicht alles“. Den Zweikampf zwischen Merkel und Schulz beobachte er jedenfalls mit Neugier.
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