Gewerkschaft Kohleausstieg, Corona, Zuliefererkrise: Vassiliadis muss den Abwärtstrend der IG BCE stoppen

Eine Organisation, die das Kollektiv in den Genen hat.
Berlin Die Coronakrise macht auch den Gewerkschaften das Leben schwer. Für eine Organisation, die „im genetischen Code Kollektivismus hat“, sei die pandemiebedingte Vereinzelung schon eine Herausforderung, sagt Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Das gilt auch für die traditionelle Jahrespressekonferenz der Gewerkschaft, die am Montag nur digital stattfand.
Kurzarbeit, Arbeitsplatzsorgen, Zukunftsängste – selten waren Erwartungen an Gewerkschaften höher als in dieser Krise. Und selten hatten es die Arbeitnehmervertreter so schwer, die Beschäftigten zu erreichen, weil Kontakte im Betrieb auf ein Minimum heruntergefahren sind und Teile der Belegschaften im Homeoffice sitzen.
Das erschwert die Organisationsarbeit. Zwar hat Deutschlands zweitgrößte Industriegewerkschaft nach der IG Metall auch im Krisenjahr 25.000 neue Mitglieder gewonnen, das waren allerdings 5000 weniger als im Vorjahr. Insgesamt ging die Mitgliederzahl sogar um zwei Prozent auf 606.000 zurück.
Vassiliadis hat es besonders schwer, den Abwärtstrend zu drehen. Zwar ist die wirtschaftliche Lage in der Chemie- und Pharmabranche solide. Aber mit dem Auslaufen der Kohleverstromung, dem Umbau der Energieversorgung und einer drohenden Zuliefererkrise in der Autoindustrie bricht der IG BCE ein Teil ihrer Basis weg.
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Umso mehr mischt sich gelernte Chemielaborant öffentlich ein, um die Bewältigung der anstehenden Transformation in die richtigen Bahnen zu lenken. Als Mitglied der Kohlekommission begleitete er aktiv den Kohleausstieg. Als Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats warnt er vor der Illusion, den gigantischen Wasserstoffbedarf einer klimafreundlichen Industrie von Anfang an allein über grünen Strom decken zu können.
Vassiliadis, der in seiner knappen Freizeit Bass in der Band „No time“ spielt, schlägt einen 120-Milliarden Euro schweren, kreditfinanzierten Transformationsfonds vor, mit dem sich der Bund an klimafreundlichen Projekten und an der Transformation besonders betroffenen Unternehmen beteiligt.
Außerdem will er das Doppelstimmrecht der Kapitalseite im Aufsichtsrat brechen, damit Entscheidungen wie der Stellenabbau beim mitten im Strukturwandel steckenden Zulieferer Continental nicht mehr gegen die Beschäftigten durchgesetzt werden können.
Gewerkschaftsrechte in die digitale Welt retten
Und die Politik solle nicht nur Autogipfel abhalten, sondern auch einen „Impfstoffgipfel“. Europa brauche einen „Pharma-Pakt“, um die Biotech- und Pharmaindustrie zu stärken. Vassiliadis kann sehr eindringlich vor einem Blackout im deutschen Stromnetz warnen, und es ärgert ihn, dass wir einen solchen Blackout jetzt auch bei der Impfstoffproduktion erleben.
Das Beispiel des Pharmaunternehmens Biontech zeige, „dass ein innovatives Deutschland existiert“, sagt Vassiliadis. Aber die Produktionskapazitäten seien nicht da. Für strategisch relevante Produkte wie Impfstoffe und Arzneien müssten diese dringend erhalten oder wieder aufgebaut werden.
SPD-Mann Vassiliadis hat einen engen Draht zur Politik und kann auf Gehör hoffen. So habe er mit der Bundesregierung auch bereits über ein Problem geredet, das die Gewerkschaften insgesamt umtreibt.
Wenn Homeoffice über die Coronakrise hinaus die neue Normalität werde, dann hätten es die Arbeitnehmervertreter immer schwerer, in Kontakt zu den Beschäftigten zu treten. Das im Grundgesetz verankerte Zutrittsrecht zu den Betrieben müsse auch in der digitalen Welt gelten. Viele Unternehmen verweigerten den Gewerkschaften aber den digitalen Zugang. Diesen werde man sich jetzt erkämpfen – vor Gericht, wie im Fall Adidas, aber auch auf politischem Weg, kündigte der Gewerkschafter an.
Seiner eigenen beruflichen Zukunft sieht Vassiliadis, der nebenbei als dienstältester Vorsitzender einer DGB-Gewerkschaft auch noch einen neuen Vorsitzenden für den Gewerkschaftsbund suchen muss, gelassen entgegen.
Beim 7. Ordentlichen Gewerkschaftskongress der IG BCE im Oktober will sich der 56-Jährige, wenn er nominiert wird, zur Wiederwahl stellen. Es wäre dann seine vierte vierjährige Amtszeit. Die Bundeskanzlerin, sagt Vassiliadis, würde er schon gerne noch übertreffen.
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