Große Koalition Thüringen-Chaos bremst Grundrente – Neue Munition für Kritiker

Neue Munition an den Plänen der Großen Koalition bekommen die Kritiker durch die Stellungnahme des Nationalen Normenkontrollrats.
Berlin Der Beschluss zur Grundrente lässt weiter auf sich warten: Ein Kabinettstermin an diesem Mittwoch galt als gesetzt, nachdem Sozialminister Hubertus Heil (SPD) und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vergangene Woche letzte Details festgezurrt hatten.
Doch der Termin wurde erneut verschoben, nun auf den 19. Februar. Als Erklärung nannte die Regierung „interne Termingründe“.
Nach Informationen des Handelsblatts aus Koalitionskreisen hängt die Verschiebung mit dem politischen Chaos rund um Thüringen zusammen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte eigentlich geplant, nach der Rückkehr von ihrer Afrika-Reise am Wochenende die Unionsfraktion auf die gemeinsame Linie bei der Grundrente einzuschwören.
Dort gibt es noch einigen Unmut – nicht zuletzt wegen des Eindrucks, dass CDU und CSU nach dem Grundrenten-Kompromiss vom November auch bei den nun erfolgten Nachverhandlungen zu stark auf SPD-Linie eingeschwenkt seien. Auch das versprochene Finanzierungskonzept fehlt bislang.
Dann weitete sich die durch AfD-Stimmen ermöglichte Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten zur bundespolitischen Krise aus, die auch Merkel vereinnahmte. Im Kanzleramt war man offenbar der Meinung, es sei keine gute Idee, die Grundrente ohne Abstimmung mit der Fraktion durchzudrücken.
Mit dem Gesetz sollen die Rentenansprüche von langjährigen Geringverdienern hochgestuft werden. Merkel lässt keinen Zweifel daran, dass die Grundrente auf Grundlage von Heils Entwurf kommt. Das Vorhaben sei in der „Schlusskurve“, sagte sie kürzlich.
Vor allem im Wirtschaftsflügel der Union herrscht aber weiter große Unzufriedenheit über das vom Sozialminister durchgesetzte Modell. Zu teuer, nicht zielgenau, zu viel Bürokratie, möglicherweise sogar verfassungswidrig – so lauten einige der Kritikpunkte.
Normenkontrollrat kritisiert enormen Verwaltungsaufwand für Grundrente
Neue Munition bekommen die Kritiker durch die Stellungnahme des Nationalen Normenkontrollrats, die Heils Ministerium am 10. Februar zugeschickt wurde und die dem Handelsblatt vorliegt. Die Grundrente werde vor allem bei der Deutschen Rentenversicherung erheblichen Verwaltungsaufwand verursachen, schreibt das unabhängige Gremium, das alle Gesetze im Regierungsauftrag auf Bürokratiekosten prüft.
Der Normenkontrollrat meldete in dem Schreiben offiziell Bedenken an. Nach eigenen Angaben gewann das Gremium im Rahmen seiner Anhörungen den Eindruck, „dass nicht alle möglichen Optionen für eine bürokratieärmere Umsetzung der Grundrente ernsthaft geprüft wurden“. Eine „weniger aufwendige und zielgenauere sowie rechtssichere“ Variante wäre möglich gewesen.
Statt die Experten der Rentenversicherung frühzeitig einzubinden, sei die „verfügbare Verwaltungsexpertise“ im Fall der Grundrente „nicht ausreichend genutzt“ worden. Vor allem die kurzen Prüffristen für die zuständige Fachbehörde seien „das Gegenteil besserer Rechtsetzung“, heißt es in dem Dokument.
Zuvor hatte bereits die Rentenversicherung in einer geharnischten Stellungnahme den Bürokratieaufwand angeprangert. Die Fachbehörde beschwerte sich, dass die Verwaltungskosten im Einführungsjahr 2021 „voraussichtlich mehrere hundert Millionen Euro und damit mehr als 25 Prozent der Leistungsausgaben für die Grundrente betragen“ würden.
Diese Befürchtung scheint sich zu bewahrheiten. In dem Gesetzentwurf, der sich aktuell in der Ressortabstimmung befindet, ist von einem „einmaligen Erfüllungsaufwand“ von rund 399 Millionen Euro die Rede. Diese Kosten dürften ganz überwiegend die Rentenversicherung treffen.
Die Behörde stellt sich nach Handelsblatt-Informationen darauf ein, dass die Grundrente nicht wie geplant zum 1. Januar 2021 ausgezahlt werden kann. Nach dem Kabinettsbeschluss müssten noch hunderte Auslegungsfragen juristisch geklärt werden, ehe überhaupt mit der Umsetzung begonnen werden könne. Völlig unklar sei auch, wo das Personal für die rund 3000 erforderlichen zusätzlichen Stellen herkommen solle.
Detailliertes Finanzierungskonzept fehlt noch
Kopfschütteln löst in der Rentenversicherung die Vorgabe aus, binnen weniger Monate einen Datenaustausch mit den Finanzämtern für die Einkommensprüfung von Grundrenten-Empfängern aufzubauen. Sozial- und Finanzministerium hatten noch im Herbst auf eine Nachfrage der Unionsfraktion zum Zeithorizont geantwortet: „Nach allen Erfahrungen aus anderen Verfahren, die eine IT-technische Umsetzung innerhalb der Finanzverwaltung erfordern, sind Planungs- und Umsetzungszeiten von mindestens zwei Jahren anzusetzen.“
Auf der Einkommensprüfung hatte die Union bestanden. Ursprünglich wollten CDU und CSU wie im Koalitionsvertrag vereinbart eine umfassende Bedürftigkeitsprüfung, bei der die gesamten Vermögensverhältnisse vor dem Bezug von Grundrente durchleuchtet werden. Das wäre aber nicht mit einer Lösung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung vereinbar gewesen.
Während der Union eigentlich ein Modell vorschwebte, bei dem Sozialhilfeempfänger im Alter einen Teil ihrer Rentenansprüche zusätzlich ausgezahlt bekommen sollten, verlangte Heil eine Grundrente, „die den Namen auch verdient“. Mit der Idee, die neue Leistung nicht in der Sozialhilfe sondern bei der Rentenversicherung anzusiedeln, setzte sich der SPD-Minister durch.
Die Kosten der Grundrente betragen laut Gesetzentwurf im Einführungsjahr 2021 rund 1,3 Milliarden Euro und steigen bis 2025 auf rund 1,6 Milliarden Euro an. Dafür soll der Steuerzuschuss an die Rentenkasse steigen.
Ein detailliertes Finanzierungskonzept liegt aber nicht vor. Eigentlich war geplant, die Grundrente über Einnahmen aus einer europäischen Finanztransaktionssteuer gegenzufinanzieren. Da eine gemeinsame Steuer auf Aktienkäufe im EU-Rahmen kurzfristig aber nicht realistisch ist und die Union einen nationalen Alleingang ablehnt, bricht diese Finanzierungssäule weg.
Heil und Spahn hatten in ihren Gesprächen nur noch an kleineren Stellschrauben gedreht. Der Sozialminister erreichte etwa, dass Minirenten bereits ab 33 Jahren Beitragszeit aufgestockt werden. Der Zuschlag soll gestaffelt werden und bei 35 Beitragsjahren die volle Höhe erreichen.
Detektivarbeit für die Rentenversicherung
Die Union setzte dagegen durch, dass die Zuschläge schneller abschmelzen und Bezieher früher komplett aus der Grundrente fallen. Insgesamt, so heißt es im Gesetzentwurf, sollen rund 1,3 Millionen Rentner mit einer Aufwertung ihrer Rentenansprüche bessergestellt werden.
Die Rentenversicherung soll prüfen, ob die Einkommen bei Grundrentenempfängern über den Grenzen von 1250 Euro bei Alleinstehenden und 1950 Euro bei Paaren liegen. Über den geplanten automatisierten Datenaustausch mit den Finanzämtern können aber nicht alle Einkommensquellen erfasst werden, etwa unter die Abgeltungsteuer fallende Kapitalerträge.
Die Einigung von Heil und Spahn sieht vor, dass Grundrentenempfänger eventuelle Kapitalerträge bei der Rentenversicherung melden müssen. Das soll die Behörde stichprobenhaft überprüfen und dafür das Recht auf Konteneinsicht bekommen. Bei der Rentenversicherung ist man über diese Detektivarbeit wenig begeistert.
Bei ausländischen Einkommen soll es ebenfalls nur eine Selbstauskunft geben. Für Einnahmen aus pauschal besteuerter geringfügiger Beschäftigung wird keine Lösung präsentiert, Minijobs bleiben somit bei der Prüfung unberücksichtigt.
Ungeklärt bleiben außerdem die Bedenken der Rentenversicherung, dass unverheiratete Paare mit gemeinsamer Haushaltsführung bei der Grundrente einen verfassungswidrigen Vorteil haben könnten.
Anders als bei Ehepartnern sei eine gemeinsame Einkommensprüfung in diesen Fällen selbst mit Hilfe der Finanzämter nicht möglich, so die Behörde. Das könnten einen Grundgesetz-Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot und den besonderen Schutz von Ehe von Familie darstellen.
Der Normenkontrollrat weist in seiner Stellungnahme darauf hin, dass in einem ersten Schritt bei etwa 25 Millionen Bestandsrentner geprüft werden müsse, ob deren Rentenansprüche aufzuwerten sind. Bei den Beitragszeiten spielen neben der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auch Jahre der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen eine Rolle.
Bei der Einkommensprüfung der potenziellen Grundrentenempfänger schätzt die Rentenversicherung, dass ein Fünftel der Fälle nicht über das automatisierte Verfahren bearbeitet werden könne. „Das bedeutet, dass diese Fälle manuell geprüft und weiterverarbeitet werden müssen“, heißt es in der Stellungnahme des Normenkontrollrats.
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