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Grünen-Politiker im Interview „Rein taktisches Verhältnis zu Menschenrechten" – Özdemir distanziert sich von Linkspartei

Der ehemalige Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir spricht über verbale Attacken im Bundestagswahlkampf, Erwartungen der Wirtschaft sowie Versäumnisse in Afghanistan.
22.08.2021 - 14:17 Uhr Kommentieren
Grünen-Politiker Özdemir fordert eine Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes – spätestens nach der Wahl. Quelle: Gordon Welters/laif
Cem Özdemir

Grünen-Politiker Özdemir fordert eine Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes – spätestens nach der Wahl.

(Foto: Gordon Welters/laif)

Berlin Grünen-Politiker Cem Özdemir hat die Union nach ihrem Wahlkampfauftakt scharf kritisiert. „Die Union ist weit unter ihren Erwartungen und hat das Kanzleramt nicht per Erbrecht, das geht jetzt auch den CDU-Strategen so langsam auf“, sagte Özdemir dem Handelsblatt. „Gleichzeitig gibt es heftigen Druck eines frustrierten Bayern, der selbst gern Kanzlerkandidat gewesen wäre.“

Die Union war am Samstag mit teils heftigen Attacken gegen die Grünen in den Wahlkampf gestartet. „Die Attacken gegen uns Grüne sehe ich ganz entspannt“, sagte Özdemir. „Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Union um Klimaschutz und die Modernisierung dieses Landes führen wir gerne.“

Ein durch die Stärke der SPD in den Umfragen wieder rechnerisch mögliches Linksbündnis mit der Linkspartei schloss Özdemir indirekt aus. „Wer ein rein taktisches Verhältnis zu Menschenrechten hat, nach Himmelsrichtungen oder Sympathien oder Antipathien vorgeht, mit dem können wir Grüne nicht zusammenkommen“, sagte Özdemir. „Wir unterscheiden nicht zwischen guten und schlechten Diktatoren, wie es uns gerade gefällt.“ Das müsse die Linkspartei begreifen.

Gleichzeitig warnte Özdemir davor, dass die Grünen nicht an der kommenden Regierung beteiligt sein könnten. „Das ist eine reale Gefahr, die man nicht unterschätzen darf“, sagte er. Eine Deutschlandkoalition von Union, SPD und FDP würde bedeuten, dass die „Stillstandskoalition weitermacht, ergänzt um den Auspuffliberalismus eines Christian Lindners“.

Auch den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz kritisierte Özdemir. Er tue so, als ob er seine Partei nicht kennen würde. „Die Parteivorsitzenden hat er eingeschlossen und versteckt sie bis zur Wahl – damit sie möglichst wenig sagen, nicht auftauchen und die Wählerinnen und Wähler daran erinnern können, dass sie mit der SPD auch Heiko Maas und Co. wählen“, sagte Özdemir. Das „Komplettversagen Deutschlands“ etwa bei der Digitalisierung und dem Klimaschutz sei auch ein Ergebnis der Sozialdemokraten.

Darüber hinaus forderte Özdemir eine Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes – spätestens nach der Wahl. „Diese Aufarbeitung muss überparteilich und zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschehen“, sagte Özdemir. Nur so könne man es in Zukunft besser machen. „Wir brauchen eine hochrangige Taskforce „Lagebild“, die die gesamte Informationsbeschaffung und -auswertung unter die Lupe nimmt.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Özdemir, die Union hat ihren Wahlkampf gestartet, mit teilweise harten Attacken gegen die Grünen. Wie kommt das an bei Ihnen?
Als Bürger dieses Landes begrüße ich es grundsätzlich erst einmal, dass die Union jetzt endlich auch bereit ist, in den Wahlkampf einzusteigen. Die Union ist weit unter ihren Erwartungen und hat das Kanzleramt nicht per Erbrecht, das geht jetzt auch den CDU-Strategen so langsam auf. Gleichzeitig gibt es ja heftigen Druck eines frustrierten Bayern, der selbst gern Kanzlerkandidat gewesen wäre. Die Attacken gegen uns Grüne sehe ich ganz entspannt. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Union um Klimaschutz und die Modernisierung dieses Landes führen wir gern.

Die Union ist ja immerhin möglicher Koalitionspartner ...
In einer Demokratie müssen nach der Wahl alle demokratischen Wettbewerber miteinander sprechen können. Das schließt einen harten Wahlkampf nicht aus. Koalitionen sind außerdem keine Dating-App, und Elitepartner für uns sehe ich im Bund sowieso nicht. Wir kämpfen darum, das Land grün zu regieren.

Was ist, wenn die Grünen außen vor bleiben, weil die Union beispielsweise mit SPD und FDP koaliert?
Das ist eine reale Gefahr, die man nicht unterschätzen darf. Es würde bedeuten, dass die jetzige Stillstandskoalition weitermacht, ergänzt um den Auspuffliberalismus eines Christian Lindners. Im Verkehrsbereich hieße das zum Beispiel weitere vier Jahre Andreas Scheuer, plus gelber Wasserstofftraum. Das wäre ein Desaster. Wer also will, dass wir die Klimakrise bremsen, die liberale Demokratie nach innen und nach außen verteidigen und Schluss mit Stillstand ist, der muss sein Kreuz bei den Grünen machen.

Stillstand, weil Unionskandidat Armin Laschet für Stillstand steht?
Armin Laschet hat ein Jahrzehnt der Modernisierung angekündigt. Das ist aller Ehren wert, kann im Übrigen auch gern länger sein. Genauso wie ein Unternehmen müssen wir schließlich kontinuierlich modernisieren, um erfolgreich zu bleiben, das hat er wohl immer noch nicht verstanden. Ich frage mich außerdem, warum die Union nicht die letzten 16 Jahre zu Modernisierungsjahren gemacht hat. Ich habe Respekt vor den vergangenen Verdiensten von Union und SPD, aber ich spreche sowohl Laschet als auch Scholz die Fähigkeit und Durchsetzungskraft ab, im richtigen Moment die Weichen zu stellen.

Treffen Sie Laschet, um ihn zu überzeugen, dass eine Koalition mit den Grünen besser wäre als mit der SPD?
Ich bin nicht Parteivorsitzender.

Aber Sie sind mit ihm befreundet.
Das ja. Ich habe aber auch ein gutes Verhältnis zum SPD-Spitzenkandidaten und in alle demokratischen Parteien.

Mit welchen Themen wollen die Grünen aus der Defensive kommen?
Wir werden darüber reden, wie sich Deutschland in den nächsten Jahren aufstellen muss. Die Wahl ist eine Richtungsentscheidung. Es geht doch darum, ob wir es gemeinsam mit unserer Wirtschaft schaffen, Deutschland zu einem Modellland für Klimaschutz zu machen und damit auch die Technologien herzustellen, die weltweit gefragt sein werden. Klimaschutz heißt effizient wirtschaften und modernisieren.

Und da wollen Sie dabei sein?
Natürlich. Und mein Eindruck ist, dass in der Wirtschaft sehr viele insgeheim darauf hoffen, dass die Grünen in der nächsten Regierung sind. Die Unternehmen zittern doch geradezu bei der Vorstellung, dass die nächste Bundesregierung erneut wertvolle Zeit verliert. Es stehen Milliardeninvestitionen an, in die neue Mobilität, in neue Produktionsweisen, das darf nicht schiefgehen. Ich hätte nie gedacht, dass wir Grüne mal die Wirtschaft vor falschen Freunden in der Politik schützen müssen, die auf veraltete Rezepte setzen.

Ist es da nicht doch an der Zeit, ein Linksbündnis auszuschließen?
Das schließt doch die Linkspartei aus, das muss ich doch gar nicht tun.

Die Linkspartei will doch mit Ihnen regieren!
Dann muss die Linke beispielsweise ihre Definition von Kriegen ändern. Krieg ist nicht immer nur dann, wenn die Amerikaner involviert sind. Krieg ist auch dann, wenn Russland involviert ist. Krieg ist auch das, was in der Ukraine passiert. Die Annexion der Krim, da höre ich nicht von der Linkspartei, dass es eine Schweinerei ist, die Grenzen zu verschieben und seine Nachbarländer zu bedrohen. Wer ein rein taktisches Verhältnis zu Menschenrechten hat, nach Himmelsrichtungen oder Sympathien oder Antipathien vorgeht, mit dem können wir Grüne nicht zusammenkommen. Wir unterscheiden nicht zwischen guten und schlechten Diktatoren, wie es uns gerade gefällt. Das muss die Linkspartei begreifen.

Im Moment steht neben der Union eher die SPD in außenpolitischen Fragen im Fokus. Der Afghanistaneinsatz endet geradezu im Desaster. 
Niemand in der Bundesregierung hat sich mit Ruhm bekleckert. Nicht im Kanzleramt, nicht im Innenministerium, nicht im Verteidigungsministerium und schon gar nicht der Minister im Auswärtigen Amt. Angesichts der tragischen Bilder aus Afghanistan ist das ein besonders unwürdiges Schauspiel. Aber jetzt ist nicht der Moment, dass sich die Regierung mit sich selbst beschäftigt. Das Mindeste, was sie den Menschen in Afghanistan schuldet, ist volle Kraft auf die Rettung derer, die sich auf das Wort Deutschlands verlassen und sich vor Ort für europäische Werte und Ziele eingesetzt haben. Denen droht nun das Schlimmste.

Muss Außenminister Maas zurücktreten?
Es sind schon andere in dieser Bundesregierung bei akutem Versagen nicht zurückgetreten. Es sind nur fünf Wochen bis zur nächsten Bundestagswahl. Ein Rücktritt würde nun nichts mehr bringen. Deswegen ist auch die eigentlich zwingende Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zum jetzigen Zeitpunkt zusammen mit den ganzen Rücktrittsforderungen nicht mehr als Klamauk. Dafür ist die Situation zu ernst. In der nächsten Legislaturperiode werden wir so oder so hoffentlich neue Spitzen in den Ministerien haben. Wer gerade für das Totalversagen der Bundesregierung wirklich den Kopf hinhält, sind die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die alles tun, um Menschen auszufliegen, und denen unser Dank gebührt.

Und nach der Bundestagswahl?
Dann muss das Desaster aufgearbeitet werden. Auch die von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer geforderte Überprüfung der Auslandseinsätze genügt nicht. Diese Aufarbeitung muss überparteilich und zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschehen. Nur so können wir es in Zukunft besser machen. Wir brauchen eine hochrangige Taskforce „Lagebild“, die die gesamte Informationsbeschaffung und -auswertung unter die Lupe nimmt. Nur so erhalten wir eine belastbare Grundlage für zukünftige Entscheidungen.

Was soll mit den vielen Menschen passieren, die sich nun in Afghanistan auf den Weg machen?
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jetzt schon wieder über mögliche Hunderttausende Flüchtlinge reden und so tun, als ob die schon da wären. Das hilft am Ende nur dem rechten Rand. Die meisten Flüchtlinge kommen nicht zu uns, sondern gehen in die Nachbarländer. Das sind aber genau die Länder, die bereits viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Für die Flüchtlinge, die zu uns kommen, braucht es europäische Kontingente.

Welche geopolitischen Verschiebungen sehen Sie durch gemeinsame Geschäfte rund um Rohstoffe in Afghanistan?
Die eigentliche Aussage des Afghanistandesasters ist: Diejenigen, die sich vor Ort für unsere Werte und Ziele einsetzen, können sich auf uns nicht verlassen. Das ist keine gute Nachricht, wenn wir etwa Ortskräfte in Mali oder anderswo für uns gewinnen wollen. Wer sich allerdings für die Werte der autoritären Herrscher einsetzt, kann sich verlassen – auf China, auf Russland, auf die Türkei. 

Inwiefern?
Das sehen wir beispielsweise in Afrika, wo China seinen Einfluss für Rohstoffe massiv ausweitet – unter Missachtung aller Menschenrechte. In der aktuellen Diskussion wird oft vergessen, dass auch Afghanistan voller wichtiger Bodenschätze ist, die ein riesiges Potenzial haben. Die Reaktionen von China etwa auf die aktuelle Entwicklung in Afghanistan sind vor allem vor diesem Hintergrund zu sehen. Es muss jetzt darum gehen, die wichtigsten Nachbarn und Einflussmächte zusammenzubringen und Regeln zu entwickeln. Eine Afghanistan-Kontaktgruppe wäre eine Möglichkeit. Vor allem müssen wir uns eng mit unseren westlichen Verbündeten zusammenschließen. Nur zusammen können wir nach diesem Debakel Gewicht entwickeln. 

Was bedeutet das für einen möglichen grünen Außenminister in der künftigen Regierung?
Natürlich würde sich auch eine Außenministerin oder ein Außenminister unserer Partei mit den autoritären Herrschern treffen müssen. Aber ich wünsche mir, dass unsere europäischen Werte nicht am Check-in-Schalter abgegeben werden – wie etwa in der Chinapolitik beim Thema Huawei oder der Russlandpolitik bei Nord Stream 2. Eine Außenpolitik, die einem wertegeleiteten Realismus folgt, muss mit denen arbeiten, die regieren, darf aber unsere Werte nicht vergessen. Auch die Wirtschaft muss sich damit auseinandersetzen, dass in einer veränderten Weltlage veränderte Rahmenbedingungen existieren. 

Warum?
Wir müssen Einfluss nehmen auf diese Welt, denn die Alternative dazu würde bedeuten, dass wir in einer Welt aufwachen, in der Bedingungen in Peking und Moskau geschrieben werden. Wir müssen uns etwa Gedanken darüber machen, wie wir Länder stabilisieren, wie wir beim Aufbau einer unabhängigen Presse oder bei verfassungsgebenden Prozessen helfen können – und natürlich beim Klimaschutz und dem Umgang mit den Folgen der dramatischen Klimaveränderungen. Das alles wird Geld kosten, aber es ist gut angelegtes Geld, nicht zuletzt in unsere eigene Sicherheit.

Was heißt das für eine künftige Afghanistanpolitik?
Es klingt zynisch, aber wir haben es erst mal mit einer Taliban-Herrschaft zu tun, mit der wir uns über diese Themen nicht unterhalten müssen. Jetzt muss der Fokus vor allem auf der Evakuierung der Ortskräfte liegen. Die Maßnahmen laufen chaotisch. Sie können nur gelingen, wenn wir uns nicht nur mit den US-Amerikanern, sondern auch mit den neuen Herrschern abstimmen. Das ist die Hölle, aber die Fehler wurden vorher gemacht. Jetzt geht es um Menschenleben, und da braucht es maximalen Pragmatismus. Wir wollen nicht in neue kriegerische Auseinandersetzungen dort verwickelt werden.

Sehen Sie auch eine Verantwortung bei Vizekanzler Scholz für das Desaster in Afghanistan?
Der Vizekanzler tut so, als ob er die SPD und ihren aktuellen Außenminister nicht kennen würde. Die Parteivorsitzenden hat er eingeschlossen und versteckt sie bis zur Wahl – damit sie möglichst wenig sagen, nicht auftauchen und so die Wählerinnen und Wähler daran erinnern können, dass sie mit der SPD auch Heiko Maas und Co. wählen. Das Komplettversagen Deutschlands bei Digitalisierung und Modernisierung ist auch ein Ergebnis der SPD. Union und SPD stehen beide für Stillstand. Und wer die SPD wählt, wählt auch den Kohleausstieg 2038 und votiert damit gegen Klimaschutz.

Mehr: Armin Laschet muss jetzt liefern – Merkels späte Hilfe reicht nicht

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