Benachrichtigung aktivieren Dürfen wir Sie in Ihrem Browser über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts informieren? Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Fast geschafft Erlauben Sie handelsblatt.com Ihnen Benachrichtigungen zu schicken. Dies können Sie in der Meldung Ihres Browsers bestätigen.
Benachrichtigungen erfolgreich aktiviert Wir halten Sie ab sofort über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts auf dem Laufenden. Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Jetzt Aktivieren
Nein, danke

Grünen-Sofortprogramm Juristen bewerten Klimaschutzministerium mit Vetorecht kritisch – Wirtschaft warnt vor Überforderung

Mit ihrem Vorstoß wollen die Grünen dem Bundestagswahlkampf eine klare Richtung geben. Teile der Wirtschaft betrachten die Ankündigungen mit Sorge. Auch Verfassungsrechtler sind skeptisch.
04.08.2021 - 11:36 Uhr 3 Kommentare
Das geplante Vetorecht für ein künftiges Klimaschutzministerium wirft eine Reihe von Fragen auf. Quelle: Henning Schacht
Annalena Baerbock und Robert Habeck bei der Vorstellung des „Sofortprogramms“ am Dienstag

Das geplante Vetorecht für ein künftiges Klimaschutzministerium wirft eine Reihe von Fragen auf.

(Foto: Henning Schacht)

Berlin Mit ihrem Klimaschutz-Sofortprogramm betonen die Grünen ihre Kernkompetenz. Die Botschaft ist klar: Wer messbare Fortschritte im Klimaschutz sehen will, muss die Öko-Partei wählen. Doch weite Teile der Wirtschaft haben erhebliche Bedenken. Sie warnen vor einer Überforderung ohne adäquaten Ausgleich.

„Eine Beruhigungspille für die grüne Stammwählerschaft ist für die deutsche Industrie zu wenig, um den Wandel zum klimaneutralen Wirtschaftsstandort zu meistern. Für die Jahrhundertaufgabe Klimaschutz braucht es einen langen Atem, keine aktionistischen 100-Tage-Programme“, sagte Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). „Klimaschutz wird erst zum Erfolg, wenn Deutschland Klimaneutralität unter Erhalt und Stärkung der industriellen Basis erreicht“, sagte Lösch. Die Grünen muteten der Wirtschaft mit den vorgelegten Maßnahmen viel zu, lieferten aber nur wenig Unterstützung.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Co-Parteichef Robert Habeck hatten das Sofortprogramm am Dienstag vorgestellt. Bestandteil des Programms ist die Gründung eines „Klimaschutzministeriums“, das gegenüber den anderen Ressorts mit einem Vetorecht ausgestattet werden soll. Das Vetorecht soll dann gelten, wenn Gesetzesvorschläge gemacht werden, die den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 zuwiderlaufen.

Das Klimaschutzministerium soll außerdem die Arbeit einer „Klima-Taskforce“ der Bundesregierung koordinieren, die in den ersten 100 Tagen der neuen Bundesregierung im Wochenrhythmus tagen soll.

Zudem wollen die Grünen den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen, ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen beschließen, die Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden deutlich erhöhen, den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen und einen nationalen Mindestpreis von 60 Euro je Tonne Kohlendioxid im europäischen Emissionshandel einführen.

Kritik am vorzeitig geplanten Kohleausstieg

„Statt zunehmender staatlicher Lenkung und Verbote sollte die Politik stärker auf die Kräfte des Marktes setzen“, empfahl Lösch. Ein politisches Vorziehen des Kohleausstiegs zu Lasten der Steuerzahler sei nicht erforderlich und unnötig teuer. „Stark steigende CO2-Preise werden in den kommenden Jahren ähnliche Effekte haben, auch ohne ein Aufschnüren des mühsam gefundenen Kohleausstiegskompromisses“, sagte Lösch.

Die Forderung, ein mit Vetorecht ausgestattetes Klimaschutzministerium einzurichten, sieht Lösch kritisch: „Mit einem Klimaschutzministerium, das sich als Kassenwart eines CO2-Restbudgets sieht und durch Vetos agiert, steuert Deutschland in die Klima-Planwirtschaft, statt notwendige Innovationen und Investitionen anzureizen“, warnte er.

Der BDI-Mann steht mit seinen Forderungen nicht allein. „Das Klimaschutz-Sofortprogramm der Grünen bedeutet eine weitere Verschärfung der ohnehin schon ambitionierten Klimaschutzziele, die wir uns in Deutschland vorgenommen haben. Es ist völlig unstrittig, dass die digitale und nachhaltige Transformation unseres Landes eine Jahrhundertaufgabe ist, die wir mit aller Kraft angehen“, sagte Arndt G. Kirchhoff, Präsident Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW. Die Politik müsse aber aufpassen, „dass sie nicht noch weiter in einen Wettbewerb um die höchsten Ziele eintritt und dabei deren realistische Umsetzung immer mehr aus den Augen verliert“, sagte Kirchhoff.

Lesen Sie auch:

Auch aus Sicht der Familienunternehmer bergen die Pläne der Grünen große Gefahren. Der „Wahlkampfaktionismus“ der Grünen sei in einer Phase des stockenden Aufschwungs und einer steigenden Inflation absolut unverantwortlich, kritisierte Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Familienunternehmer-Verbandes. „Das Programm zeichnet das Bild eines Landes, das sich im internationalen Wettbewerb selbst aus dem Spiel nehmen will“, sagte der Verbandspräsident.

Groß sind die Sorgen in energieintensiven Branchen. Sie sehen ein Vorziehen des Kohleausstiegs kritisch. Zugleich werfen sie den Grünen vor, sich in ihrem Sofortprogramm beim Thema Wasserstoff ausschließlich auf grünen Wasserstoff zu fokussieren, der mittels Strom aus erneuerbaren Quellen durch Elektrolyse hergestellt wird: „Die Annahme, dass Hochöfen erst durch den Einsatz von grünem Wasserstoff klimaneutral werden, ist falsch. Durch den Einsatz von Wasserstoff an sich kann die Herstellung von Stahl bereits klimaneutral werden“, sagte Christian Seyfert, Hauptgeschäftsführer des Verbandes VIK, in dem sich große Energieverbraucher aus der Industrie zusammengeschlossen haben.

Pilotprojekte zeigten, dass der Bedarf für Wasserstoff in der Industrie groß sei, daher lehne der VIK die bestehende Farbenlehre ab, da sie den Markthochlauf für eine Wasserstoffwirtschaft beeinträchtige. „Auch Wasserstoff aus anderen Quellen muss deshalb zum Einsatz kommen können, wenn wir zu Beginn nicht ausreichend grünen Wasserstoff zur Verfügung haben“, sagte Seyfert.

Der Energiekonzern RWE begrüßt, dass die Grünen in ihrem Sofortprogramm „sehr konkrete Vorschläge“ für einen forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien machten. Den im Sofortprogramm geforderten Mindestpreis im Emissionshandel lehnt RWE dagegen ab. „Zusätzliche nationale CO2-Mindestpreise in einem mengenbasierten europäischen System sind kontraproduktiv – sie sparen in Europa keine einzige Tonne CO2 ein, benachteiligen aber die deutsche Wirtschaft“, hieß es bei RWE.

Auch Felix Ahlers, Chef des Tiefkühlkostherstellers Frosta, steht den Klimaschutz-Pläne der Grünen positiv gegenüber: „Wir müssen dringend und schnell handeln: Unternehmen und Einzelpersonen. Die Kohlekraftwerke abzuschalten ist längst überfällig.“

Das EEG sollte abgeschafft und durch einen Emissionshandel für alle CO2-Emissionen ersetzen werden, fordert der Mittelständler. Auch der Verkehr müsse umweltfreundlicher werden: Der Frosta-Chef fordert bessere öffentliche Angebote und mehr Fahrräder. Unternehmer Ahlers selbst fährt mit Bahn und Fahrrad zur Arbeit nach Bremerhaven.

Juristen kritisieren geplantes Vetorecht und verweisen auf die Verfassung

Der Plan der Grünen, ein mit Vetorecht ausgestattetes Klimaschutzministerium zu errichten, wirft eine Reihe von Fragen auf. Juristen weisen auf verfassungsrechtliche Hürden hin. „Das Grundgesetz weiß weder von einem Vorrang einzelner Ministerien gegenüber anderen Ministerien oder gar der Bundesregierung insgesamt oder der Kanzlerin gegenüber, noch von einem Vorrang irgendeines Staatsziels vor einem oder allen anderen“, sagte der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza dem Handelsblatt.

Ein endgültiges Vetorecht bedürfe einer Verfassungsänderung, sagte Pestalozza. Dafür ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. „Eine Ergänzung der Geschäftsordnung der künftigen Bundesregierung würde dafür nicht ausreichen“, sagte der Jurist. Das sieht auch der Verfassungsrechtler Ulrich Battis so. Für ein Vetorecht bedürfe es „mindestens einer Verfassungsänderung“, sagte Battis dem Handelsblatt.

Der Heidelberger Verfassungsrechtler Hanno Kube hält das Vetorecht für nicht praktikabel. Es wirke „auf den ersten Blick wie ein scharfes Schwert, ist aber in den Händen eines Klimaschutzministeriums eher stumpf“, sagte Kube dem Handelsblatt. Während der Bundesfinanzminister einen Verstoß gegen das Haushaltsrecht anhand von Zahlen präzise belegen könne, falle die Prüfung im Klimaschutzrecht sehr viel schwerer. „Oft wird kaum zu sagen sein, ob eine konkrete staatliche Maßnahme gegen das Pariser Klimaschutzabkommen verstößt“, sagte Kube.

Der Bochumer Energierechtler Johann-Christian Pielow wirft weitere Fragen im Zusammenhang mit einem Klimaschutzministerium auf. „Fiele die Energiepolitik ganz einem neuen und zusätzlichen Klimaschutzministerium zu, liefe das mindestens ebenso wichtige Ziel der Energieversorgungssicherheit Gefahr auf einen zweiten Rang verwiesen zu werden, ganz zu schweigen vom Anliegen einer preisgünstigen Versorgung“, sagte Pielow dem Handelsblatt.

Der Jurist empfiehlt, das Thema Klimaschutz weiter im Bundesumweltministerium anzusiedeln oder eine Taskforce als ressortübergreifende Koordinierungsstelle im Bundeskanzleramt anzusiedeln. „Sollte es dennoch ein Superministerium werden, müsste es für Klimaschutz und Infrastruktur zuständig sein, etwa nach österreichischem Vorbild“, sagte Pielow. Zwischen beiden Themenfeldern bestünden „enge Verzahnungen“.

Mehr: Das Klimaprogramm der Grünen ist taktisch klug, aber unehrlich

Startseite
Mehr zu: Grünen-Sofortprogramm - Juristen bewerten Klimaschutzministerium mit Vetorecht kritisch – Wirtschaft warnt vor Überforderung
3 Kommentare zu "Grünen-Sofortprogramm: Juristen bewerten Klimaschutzministerium mit Vetorecht kritisch – Wirtschaft warnt vor Überforderung"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • Wann werden die Grünen den Wählern endlich ehrlich sagen, dass die Einhaltung des 1,5°C Ziels nur mit weltweiten massiven wirtschaftlichen Einschränkungen erreichbar ist und das damit ein enormer wirtschaftlicher Wohlstandverlust verbunden ist. Deutsche Alleingänge bringen leider nichts, denn viele Industrie-und Schwellenländer denken überhaupt nicht daran, ihren Völkern die damit einhergehenden sozialen Spannungen zuzumuten.

  • Bilder sagen mehr als Tausend Worte.
    Klasse Foto Herr Schacht!

  • Hier werden Probleme herbeigeredet. Das lässt sich auf Geschäftsordnungsebene machen. Ich habe nicht gelesen, dass die Grünen es auf Verfassungsebene installieren wollten, also hinge der Bestand eines solchen "Veto-Rechts" ja ohnehin von den jeweiligen politischen Mehrheiten ab.

Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%