Handelsblatt Research Institut HRI-Studie: Staat muss den völlig unübersichtlichen Markt für Weiterbildung klarer strukturieren

Die Fortbildung der Erwerbstätigen funktioniere nicht, sagt eine neue Studie - und sieht dringenden Handlungsbedarf bei Wirtschaft und Politik.
Berlin Die Defizite der Schulen in der Digitalisierung waren lange kein Thema. Dann kam Corona. Seither entsetzen sie ganz Deutschland. Ebenso überfällig wie die Modernisierung des Schulunterrichts ist jedoch eine Reform der Weiterbildung der Millionen Erwerbstätigen, konstatiert nun eine Studie des Handelsblatt Research Institute (HRI). Denn hier hänge Deutschland im internationalen Vergleich ebenso weit zurück – und gefährde so die erfolgreiche Nutzung der Digitalisierung, warnen die Autoren.
Die Urheber der Studie skizzieren aber nicht nur das Problem. Sie haben auch eine Lösung dafür parat. Auf 160 Seiten entwerfen sie eine „Qualifizierungsstrategie für die digitale Arbeitswelt“.
„Es wäre ein kapitales Versäumnis, sich darauf zu beschränken, die bewährten Lösungen im Bildungsbereich in die Zukunft zu verlängern“, warnt HRI-Präsident Bert Rürup. Denn „gerade im digitalen Zeitalter mit seiner Verkürzung der Halbwertzeit von Kenntnissen und Fertigkeiten ist das Bewusstsein, nie ,ausgelernt‘ zu haben, die notwendige Voraussetzung eines nachhaltigen Bildungserfolgs“.
Dazu müsse die Weiterbildung, die in Deutschland bislang eher ein Schattendasein führt, neben Schule, Berufsausbildung und Studium endlich „zur vierten Säule des Bildungssystems werden“, sagt Sven Jung, Autor der Studie für die Dieter von Holtzbrinck Stiftung. Ziel müsse sein, die Weiterbildung ähnlich bedeutsam zu machen wie die Erstausbildung.
Die Diagnose des Status quo, den die Studie feststellt, ist besorgniserregend: Trotz schrumpfender Bevölkerung bildet Deutschland die Erwerbstätigen nicht nur weniger weiter als andere Industrienationen.
Zugleich werden vor allem ohnehin schon Hochqualifizierte weiter gefördert. Niedrigqualifizierte hingegen, die leicht durch Technologie ersetzt werden können, bleiben zurück, kritisiert Jung.
Soziale Schere auf dem Arbeitsmarkt klafft weiter auseinander
Hier ist die Kluft deutlich größer als im OECD-Durchschnitt. Zudem gebe der Staat vor allem Geld für die Qualifizierung Arbeitsloser aus – „also wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, so die Autoren. Stattdessen wäre es besser, Geringqualifizierte weiter zu bilden, solange sie noch einen Job haben.
Das „gefährdet nicht nur die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft“, warnte die Geschäftsführerin der Dieter von Holtzbrinck Stiftung, Christine Jacobi, sondern führe auch dazu, dass „die soziale Schere, die sich hierzulande bereits in der Schule zunehmend öffnet, auf dem Arbeitsmarkt noch weiter auseinanderklafft“.
Handeln müsse vor allem der Staat, indem er einen effektiven Rahmen für Weiterbildung schafft, fordert das HRI. Die Privatwirtschaft und die Erwerbstätigen selbst trügen zwar die Hauptverantwortung für die Organisation und Finanzierung der Weiterbildung während des Berufslebens. Es spreche aber „viel dafür, dass die privaten Renditen nicht ausreichen, um ein volkswirtschaftlich effizientes Weiterbildungsgeschehen anzureizen“, schreiben die Autoren, das Ergebnis sei schlicht „Marktversagen“.
Das sei auch nicht überraschend, so Rürup, denn Unternehmen würden Mitarbeiter ja in erster Linie „betriebsspezifisch qualifizieren“ und nicht mit Blick auf den Arbeitsmarkt insgesamt.
Widerspruch aus der Wirtschaft
Solche Aussagen bleiben nicht unwidersprochen. Bei der Vorstellung und Diskussion der Studie in Stuttgart ernteten die Thesen deutlichen Widerspruch: „Die Wirtschaft kann es besser“, sagte Oliver Maassen, Personal-Geschäftsführer des Lasermaschinen-Spezialisten Trumpf. Auch Miriam Meckel, CEO der ada Learning GmbH, warnte: „Wenn wir die Weiterbildung beim Staat zentralisieren, anstatt sie den Unternehmen zu überlassen, machen wir den Bock zum Gärtner.“
Aufgeschlossener zeigte sich Baden-Württembergs Wirtschafts- und Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut: „Mehr Vernetzung und Transparenz“ würde der Sache schon guttun, sagte die CDU-Politikerin, etwa so, wie es die Tarifpartner IG Metall und Südwestmetall in ihrem Land mit der „AgenturQ“ schon praktizierten.
Die Botschaft der HRI-Studie ist jedenfalls eindeutig: Der Staat muss den völlig unübersichtlichen Markt für Weiterbildung klarer strukturieren und unabhängige Information für Betriebe und Arbeitnehmer organisieren. Ähnlich wie bei der Berufsausbildung sollten dabei aber Sozialpartner und Kammern eingebunden werden.
Auch inhaltlich müsse die Wirtschaft selbst bei staatlich finanzierten Kursen mehr mitreden. Denn sie wisse besser als die Bundesanstalt für Arbeit (BA), welche Kenntnisse nötig sind.
Die Bemühungen der Bundesregierung, die Weiterbildung substanziell voranzubringen, kritisieren die HRI-Autoren als verdienstvoll, aber viel zu zaghaft. So sei „zweifelhaft“, ob sich durch die 2019 ausgerufene, aber noch sehr vage Nationale Weiterbildungsstrategie „zeitnah eine zunehmende Weiterbildung einstellen wird“.
Schnell kommen müsse vor allem die lange versprochene Meta-Plattform, die einen Überblick über die Angebote schaffen soll. Ein groß dimensioniertes Projekt der CDU-Fraktion dazu war am Widerstand des Finanzministers gescheitert, auch Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) war mit der Plattform nicht vorangekommen.
Ruf nach Ausbau des Qualifizierungschancengesetzes
Mehr Erfolg billigt die Studie dem Qualifizierungschancengesetz von Arbeitsministers Hubertus Heil (SPD) zu, das 2020 durch das „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ noch ausgebaut wurde. Die Beratung bei der Bundesagentur für Arbeit müsse allerdings „weiter intensiviert und qualitativ verbessert werden“ – vor allem für kleine und mittlere Unternehmen.
Umfragen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zufolge wünscht sich jedes zweite Unternehmen in Deutschland zusätzliche Angebote.
Zudem sollte die aktuelle strikte Untergrenze von 120 Stunden für förderfähige Qualifizierungen flexibel gestaltet werden, denn „gerade für kleine Unternehmen kann es ein großer Aufwand sein, wenn sie 15 Tage auf Mitarbeiter verzichten müssen“.
Generell müsse der Staat auch mehr Geld in die Hand nehmen, ohne allerdings „privates Engagement zu verdrängen“ oder Mitnahmeeffekte zu riskieren. Denn bisher werde etwa die 2008 eingeführte Bildungsprämie nur von etwa 35.000 Personen pro Jahr genutzt. Die Zahl der Teilnehmer an Weiterbildungskursen der BA liege jährlich zwischen 130.000 und 170.000 Personen, von denen zuletzt lediglich rund 30.000 keine Arbeitslosen waren.
Das liege zwar auch an der guten Konjunktur, die wenig Zeit lasse für Qualifizierung. Es mache aber angesichts des rasanten technologischen Wandels keinen Sinn, „abzuwarten, bis es zu einer
hohen Arbeitslosigkeit kommt, und dann mit den hergebrachten Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu reagieren“, mahnt Jung.
Vor allem wegen der Digitalisierung empfiehlt das HRI auch, mehr Mittel für Umschulungen bereitzustellen. „Ein Arbeitgeber hat kein Interesse an einer Umschulung, da er keinen Nutzen davon hat, sodass er wenig gewillt sein dürfte, solche Maßnahmen für seine Beschäftigten zu fördern“ – am besten durch eine ausgebaute „Bundesagentur für Arbeit und Qualifikation“.
„Bundesweiterbildungsgesetz“ nach dem Vorbild des „Berufsbildungsgesetzes“
Um das System transparenter und effektiver zu machen, sollten Bund und Länder Strukturen und Zertifizierung etwa in einem „Bundesweiterbildungsgesetz“ regeln nach dem Vorbild des „Berufsbildungsgesetzes“. So könnten sie auch die Qualitätssicherung angehen, etwa durch pädagogische Mindeststandards für die Lehrkräfte der geschätzt rund 25.000 meist sehr kleinen Anbieter.
Rechtlich zuständig sind heute mal der Bund, mal die Länder. 45 Prozent der Kurse entfallen aktuell auf die Unternehmen, 22 auf kommerzielle Anbieter, 17 auf Kammern, Verbände oder Gewerkschaften und 13 Prozent auf staatliche Einrichtungen.
Unklar ist das Volumen der Weiterbildung: Die Gesamtausgaben werden lediglich auf ein Prozent der gesamten Bildungsausgaben von 300 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt, heißt es in der HRI-Studie. Die Schätzungen für die Ausgaben der Betriebe liegen danach zwischen 11 und 18 Milliarden Euro jährlich.
Nach Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln seien sie zumindest von 2007 bis 2013 leicht gestiegen, hätten dann aber stagniert. Selbst für die im „Wuppertaler Kreis“ organisierten kommerziellen Anbieter gebe es keine belastbaren Daten für Kurszahl, unterrichtete Stunden oder Umsatz.
Unklar sind auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie: Nach einer Umfrage des IW hatte etwa jedes vierte Unternehmen die Weiterbildung gedrosselt, jedes achte jedoch freie Zeit für zusätzliche Kurse genutzt. Der Umsatzeinbruch der privaten Anbieter werde auf 30 Prozent taxiert. Zwar gebe es inzwischen viele Online-Kurse, „das Gros besteht jedoch noch immer aus Präsenzseminaren“.
Ein Boom der Weiterbildung, wie er von vielen im Zuge des technologischen Wandels erwartet wird, habe es bisher jedenfalls allem Anschein nach nicht gegeben, allenfalls eine „moderat positive Langzeitentwicklung, zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie“, schreiben die HRI-Experten.
Schlecht seien zudem die Daten zu den Inhalten: Klar sei nur, „dass die Weiterqualifizierung der Erwerbstätigen in den technologischen Bereichen – also denen, die durch die Digitalisierung die umfassendsten Veränderungen erfahren werden – nur einen kleinen Teil der Gesamtaktivitäten ausmacht“. So entfielen nach dem Adult Education Survey 2018 nur ein Viertel der Kurse auf Naturwissenschaften/Technik/Computer und damit sogar etwas weniger als 2007.
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